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Eine Woche voller Nachrichten

Man kann doch keine Trauer um Menschen empfinden, die man garnicht kennt, sagen Freunde, Betroffenheit, ja, aber Trauer? – und vielleicht ist das nur ein Streit um Worte, die alle nicht richtig passen.
Und dass jeden Tag so viele Kinder sterben, dass dieser Flugzeugabsturz nur ein kleiner Peak in dem großen Elend der Welt ist.
Und das ist ja richtig.

Trotzdem nimmt dieses große Unglück von vor ein paar Tagen mich sehr mit. Der Gedanke an die Eltern, die da Kinder verloren haben, der am allermeisten –

Nein, inzwischen mag ich die Medienberichte nicht mehr hören oder lesen, ich mag keine weiteren Details wissen. Aber das Gefühl von Trauer ist noch da.

Vielleicht überfordert uns das immer gegenwärtige Leid in der Welt – das, zu dem man aktiv hinschauen müsste; das, wegen dem wir uns diffus schuldig fühlen, ohne es wirklich ändern zu können, Ökostrom hin, Spendenbeleg her.
Vielleicht sind unsere Gefühle bei einer „fassbareren“ Katastrophe – einer, die man hätte verhindern können, einer, die sich nicht täglich wiederholt – deshalb stärker? Weil sie sich – für uns Nicht-Betroffene – dann doch noch irgendwie verarbeiten lässt?
Oder weil sie auch uns treffen könnte?

Selbst wenn die Gefühle, die ein Unglück dieser Art in uns auslöst, auch mit uns selbst zu tun haben (mit unserer Angst, unsere eigenen Lieben zu verlieren, mit dem Wissen, dass wir alle verletzlich sind), und auch wenn wir die Menschen garnicht kennen, die da wirklich gelitten haben und leiden – wir sollten gut mit diesen Gefühlen umgehen. Deshalb finde ich es wichtig, dass Menschen Kerzen aufstellen; deshalb finde ich es richtig, dass Fahnen auf Halbmast geweht haben, und sogar, dass die Nationalmanschaft mit Trauerflor gespielt hat.

Wie unbeholfen sie auch wirken mögen, solche Rituale – sie helfen uns beim Mitfühlen, glaube ich.
Und wer mit seinem Mitgefühl umgehen kann, wer Formen hat, um es auszudrücken, der wagt ja vielleicht das Mitfühlen auch an anderer Stelle. Da, wo das Leid weniger spektakulär ist. Wo man helfen könnte.

Meine Kinder werden – bei ihrem Vater, in der Schule – sicherlich etwas von diesem Flugzeugabsturz mitbekommen haben. Heute abend kommen sie wieder zu mir. Vielleicht erzählen sie davon. Dann werden wir gemeinsam auch eine Kerze anzünden. Und an die Menschen denken, die jetzt um ihre Lieben trauern.

Jahresanfang, Teil II

Dann ist da natürlich wieder ein dritter Januar. Wir fahren zum Friedhof, der Vater meiner Kinder und ich und unsere Söhne, im Arm habe ich einen großen Bund weiße Rosen, die kleinen, verzweigten; im Rucksack ein Grablicht für die Laterne –

„Die wir lieben“, haben wir damals auf unsere Traueranzeige geschrieben, „sind nur geborgt. Wann sie gehen, entscheiden wir nicht. Wir entscheiden, ob wir die Erinnerung als Geschenk annehmen wollen.“ Sechs Jahre ist das jetzt her.

Immernoch finde ich es wichtig, der Erinnerung Raum zu geben. Die Trauer um mein Kind zuzulassen, die ich – dann und wann, in unvorhersehbaren Wellen – empfinde. Und weil ich traurig sein kann, kann ich auch glücklich sein.

Heute bin ich garnicht traurig. Heute bin ich bei den Menschen, mit denen heute Zeit zu verbringen ein Geschenk ist, mit denen ich heute Erinnerungen schaffe, die nicht gegangen sind, sondern nur weggeflitzt – geflitzt trotz meiner Ermahnungen: Pscht, Kinder! Hier rennt man nicht, das ist ein Ort der Ruhe für die Toten! – um dem Traktor hinterherzulaufen, der da hinten, drei Gräberreihen weiter, Gebüsch gerodet hat und es jetzt auf seinem Anhänger wegfährt.

Ich zupfe noch ein bisschen an den Rosen in der Vase herum. Machs gut, Kleiner. Und dann laufe ich dem Vierjährigen und dem Achtjährigen hinterher.

Unseren Trauerspruch von damals möchte ich in eine homöopathische Potenz verschütteln und bei mir tragen. Jeden Tag ein paar Tröpfchen, um es im Kopf zu behalten: Die Menschen, die wir lieben, sind ein Geschenk. Jeden Tag.

Vom Alleinsein

Alles, was ich heute tun könnte – Weihnachtsgeschenke einkaufen, um das Heimkommen in meine leere Wohnung hinauszuzögern, später, zu Hause, ein Bad mit Granatapfelduft nehmen, mir Tee kochen, nur die Anrufbeantworter meiner Freundinnen erreichen, die Adventspost doch nicht erledigen, den Wäschekorb leeren, einen sinnlosen Krimi schauen, endlich dieses schon so lange im Herzen bewegte Schreibprojekt beginnen, mich verzückt in einem Buch einer mir bisher unbekannten Autorin verlieren, Termine in meinen Kalender schreiben, Mails beantworten, die verlassenen Zimmer meiner Kinder aufräumen – alles, was ich heute tun könnte, wäre etwas anderes, wenn ich mit mir allein wäre statt mit der Abwesenheit von Menschen, mit denen ich so schöne Zeit verbracht habe.

Da stehen sie noch, Weingläser, leer.

Wie dringend ich das brauche, gerade heute: Ein paar liebevolle Worte, einen kleinen Gruß. Damit ich mich daran erinnere, dass wir auch verbunden sind, wenn wir einander nicht sehen; dass wir auseinandergehen können, ohne uns zu verlieren.

Mehr Gelb

Meine Schwester, die vom Wändestreichen Sehnenscheidenentzünding kriegt. Meine Freundin, die vom Geruch der Farbe Migräne bekommt. Ein Freund, für ein paar Stunden aus einem Paralleluniversum ausgeliehen, in dem er vielleicht Steine auf dem Herzen trägt, von denen wir nichts ahnen. Und ich und ein paar Eimer Farbe und ein halbleeres Zimmer.

Das klingt wie die Konstellation eines Feel-Good-Movies von den Machern von „Zusammen ist man weniger allein“, und so etwas ähnliches kommt auch zu Stande: Auszeit. Wohltuender Abstand vom Alltag, für uns alle. Ein Wochenende, an dem wir reden und lachen und arbeiten, an dem ich bekocht und verwöhnt werde und nicht viel mehr zu tun habe, als ein paar Entscheidungen zu treffen (Für mich eine Pizza mit Artischocken! Der Farbton ist zwar schon sehr schön… aber ich mache jetzt einfach trotzdem noch ein bisschen mehr Gelb in die weiße Farbe… und noch ein bisschen… Uuuuuups… ). Und rings um mein nirgendwo ganz gerades Zimmer oben unter der Decke eine waagerechte Linie abzukleben, bis zu der die schöne gelbe – nein: „vanillecreme“ würde ich den Ton nennen – Farbe gestrichen werden soll.

Als wir wieder einräumen, müssen wir unter die Möbelbeine ein halbes Dutzend mehr kleine Holzscheibchen legen, als wir beim Ausräumen vom Boden geklaubt, exakt beschriftet oder gleich an die Beine der betroffenen Regale und Schränke angeklebt haben – auch die Dielen haben sich anscheinend eine Auszeit vom Alltag genommen, sich gestreckt und geräkelt und eine neue bequeme Position für die nächsten Jahre gesucht. Beim Einräumen der Fotoalben kommen wir ins Blättern und ins Erzählen. Namen und Jahreszahlen. Geschichten und Erinnerungen. Auf dem Friedhof – denn neben allem anderen ist ja auch Totensonntag – lachen wir über das Chaos aus Zweigen, das der Vater meiner Kinder auf dem Grab unseres mittleren ausgebreitet hat, und weinen ein bisschen, weil mein Kind dort jetzt schon ein Vorschulkind wäre.

Am Abend zu Hause machen wir die Tür zum halbfertigen Zimmer zu, sehen uns passend zu Thanksgiving „Pieces of April“ an, einen weiteren gemeinsamen Abend zum Räumen und Putzen haben wir ja noch. Am Ende strahlt alles wie neu.

Als ich zum ersten Mal wieder allein in meine leere Wohnung komme, gucken alle Dinge ein bisschen traurig.

Ist ja bald Weihnachten! tröste ich sie; Alle werden wiederkommen! Und an meinem Regal vor den Kochbüchern hat meine Schwester einen ihre wunderschönen selbstgemachten Adventskalender hinterlassen.

Was wäre ich ohne die Menschen, die so vieles für mich tun? Sehr viel mehr allein. In einem unrenovierten Zimmer, noch dazu.

Halbzeit im Paradies

Wir haben uns eingelebt. Routiniert laufen 100 Frauen durchs Haus: Von den Speisesälen zur Physiotherapie, vom Bastelraum in die psychologische Abteilung, vom Kinderland zum Bewegungsbad, von der Rezeption – wo es immer irgendetwas zu bezahlen, zu erfragen oder in eine Liste einzutragen gibt – zum Waschmaschinenraum.

Aus Frauen, die in den ersten Tagen noch so wirkten, als wären sie alle in einem ziemlich perfekten Leben zu Hause, werden Menschen mit Namen und Geschichten. Hier und da sogar Freundinnen, vielleicht. Wir sitzen gemeinsam im Vortrag über ADHS, wir ächzen nebeneinander auf der Matte bei gymnastischen Übungen, die uns an lange vergessene Muskelpartien erinnern. Wir treffen uns am Abend und erzählen.

Manchmal ist das schön. Manchmal ist es ein wenig traurig, aber ich wusste ja, dass es auch das geben würde: Wenn die Familienmütter sich über die Berufe ihrer Männer, die Hausbesitzerinnen über Kaminholzpreise austauschen. Dann freue ich mich auf die Gesprächsrunde der Alleinerziehenden. Warum sind von denen nur so wenige hier?

Dafür bin ich diejenige, die ihre Kinder für einen ganzen Tag an ihren Vater abgeben kann, als der uns am Wochenende besucht. Ich gehe wandern, allein. Höre den Lerchen über den Feldern und den Grillen am Wegrand zu, zähle 37 Sorten Blumen, scheuche im Wald eine Kreuzotter auf, komme vom Weg ab, finde einen menschenleeren Strand mit einem Eisverkäufer – und eine Münze in meiner Hosentasche. Gehe schwimmen. Laufe am Wasser entlang, hänge meinen Gedanken nach.

Niemand, den ich in diesen drei Wochen schmerzlich vermisse. Niemand – in diesem Jahr – der mich von Ferne verletzen, meine Abwesenheit von Berlin nutzen könnte, um sich von mir loszusagen. Meine Hoffnungen mache ich mir dieses Mal selbst, meine Listen mit Träumen und guten Vorsätzen, abends, wenn ich von meinem Zimmer aus dem Sonnenuntergang zusehe. Es sind – in diesem Jahr – keine steinernen Herzen zu sammeln, keine leuchtendbunten Bänder in einen Wunschbaum zu knüpfen.

Stattdessen Sport am Morgen, Massagen am Mittag, autogenes Training am Nachmittag – die monotonen Anweisungen der Kursleiterin immer wieder unterbrochen von leisen entspannten Schnarchern. Im Bewegungsbad üben meine Söhne begeistert das Schwimmen; am Strand bauen wir von Tag zu Tag höhere Burgen mit immer komplizierteren Bahnen für die Murmeln, die wir gekauft haben; Uno haben wir schon so viel gespielt, dass auch der Vierjährige nicht mehr weint, wenn er acht Karten auf einmal ziehen muss.

Was für ein großartiger Kurgang, haben die Mitarbeiter am Anfang gesagt, was für liebe Kinder Sie alle haben. Inzwischen schreien die Kinder im Speiseraum und jagen in den Gängen vor den Wohneinheiten kreischend ihre Freunde. Auch die Kinder des nächsten Kurganges werden in den ersten Tagen schüchtern und leise sein; ihre Mütter darauf bedacht, einen guten Eindruck zu machen. Wir, die nun schon einige Zeit hier sind, sind inzwischen entspannt: Wir kommen auf den letzten Drücker zum Frühstück, wir schlappen im Bademantel durchs Haus. Wir wollen an den Strand statt in den verordneten Vortrag, wir trinken ein Glas Wein zu viel, sitzen doch wieder zu lange in der Sauna, um am nächsten Morgen ausgeschlafen zu sein. Wir haben Halbzeit.

Wir würden gerne länger hier bleiben.

Eine Zahnbürste wegwerfen

Ist nicht so dass ich es nicht hätte kommen sehen, lang schon.

Ist nicht so, dass ich mit dem Wissen nicht hätte leben können.

Und doch: Nach dem schönen Wochenende im Oderbruch hätte es noch etwas länger dauern können – dachte ich – bis der Inselmann sich auf sein knallrotes Motorrad schwingt und in den Sonnenuntergang davonbraust. Dorthin, wo Himmel und Erde zusammenstoßen oder noch ein Stück weiter; irgendwohin, wo nicht die Gefahr besteht, dass die Grenze zwischen Nicht-Einlassen und Einlassen sich durch puren Zeitablauf an einem vorbeischiebt.

Eine Zahnbürste wegzuwerfen ist leicht; eine schöne, trotzige Geste. Alles andere behalte ich lieber. Musik und Fotos. Buchentdeckungen. Ein kleines Spielzeug aus lauter bunten Holzklötzchen.

Dann gehe ich zur professionellen Zahnreinigung. Ich liege im Stuhl, die professionelle Zahnreinigerin poliert meine Zähne mit etwas Scheußlichem (schmeckt nach Apfel, sagt sie, aber ich finde, dass es schmeckt wie etwas, das besser im Sandkasten geblieben wäre) und im Radio dudelt Juli. „Ja ich weiß, es war ne geile Zeit…“ Na toll.

Und was mache ich jetzt?

Eine Weile schlechte Laune haben und dann eine neue Affaire anfangen? (Schon wieder?)

Aufgeben, das Wort „Mann“ bis zur Volljährigkeit meiner Kinder aus meinem Wortschatz streichen und alle mit Lobeshymnen auf das Alleinsein nerven? Mich von schönen Erinnerungen und zwangsplatonischen Gefühlen ernähren?

Meine ganz große Schwester schwärmt mir am Telefon von einer christlichen Partnervermittlung im Internet vor – beim letzten Mal wollte sie mich noch gegen meinen Willen bei Parship anmelden – die gerade zu einer Heirat in ihrem Bekanntenkreis geführt hat.

Und wer weiß, vielleicht gibt es dort ja wirklich Männer, die bei dem Wort „Kinder“ keinen Schreck kriegen und vielleicht sogar schon mal eins aus der Nähe gesehen haben. Aber können diese Männer mit meiner anderen Seite etwas anfangen, der Seite, die den Alltag vergessen und – ab und zu – etwas anderes als eine alleinerziehende Mutter sein möchte? Der Seite, der der Inselmann gutgetan hat?

Erst mal muss ich jedenfalls meine Zahnbürste trösten gehen; die heult, so alleine in ihrem Becher.

 

Waldfriedhof

In den letzten Jahren haben wir vor Ostern immer das Grab bepflanzt. Dieses Jahr ist daran nicht zu denken, aber ein paar Blümchen will ich hinbringen, auch wenn dicke nasse Schneeflocken mir um die Ohren wirbeln, als ich losgehe.

Der Waldfriedhof ist tatsächlich ein friedvoller und zu jeder Jahreszeit schöner Ort. Heute hat der Neuschnee sich auf jeden noch so kleinen Zweig der vielen alten Bäume gesetzt. Ein Winterwunderwald! Die Schneedecke ist beinahe unberührt, auch auf den Wegen sind nur wenige Spuren im Neuschnee.

Rechts steht eine Gruppe dieser neuen Grabsäulen, die nur ein ganz kleines bisschen wie Fünf-Sterne-Dixiklos aussehen. Inzwischen sind in viele der kleinen Marmorplatten, fünf oder sechs übereinander sind es an allen vier Seiten so einer Säule, Namen eingraviert. Weiter vorn anonyme Grabflächen, umgeben von Kerzen und Blumen. Urnengrabstellen auf der anderen Seite des Weges, und direkt vor mir sind die Flächen mit den großen Grabstellen. An Sträußen aus Zweigen hängen bunte Plastikeier. Hier und da flackern Grablichter, erfrorene Tulpen hängen wie nasse Wäschestücke über die Ränder der Vasen. Auf vielen Gräbern stehen Fotos der Verstorbenen, halbverdeckt von Schnee.

Gegenüber dem Dorffriedhof, auf den wir früher jeden Samstag Blumen zum Grab meiner Oma brachten, hat nicht nur die Vielfalt an Bestattungsmöglichkeiten zugenommen, sondern auch die Art sich verändert, in der Menschen ihre Gräber gestalten. Und eigentlich finde ich das gut: dass Trauernde neue, persönliche Formen finden, ihre Gefühle auszudrücken und den Menschen zu würdigen, um den sie trauern – und sei es für seine Liebe zum Sport. Es gibt tatsächlich einen Grabstein, an dem ein paar aus Stein gemeißelte Fußballschuhe hängen. Aus dem gleich daneben ist eine Tischtenniskelle herausgearbeitet. Und auch wenn mein Verhältnis zu Gipsengeln eher von Zurückhaltung geprägt ist – ich kann es verstehen, wenn Menschen ihren Lieben einen Engel an die Seite stellen wollen. Wenn sie ein steinernes Herz aufs Grab legen, auf dem „In Liebe“ steht.

Auf der Rasenfläche, auf der seit letztem Jahr die neuen Gräber angelegt werden, gibt es drei, die auf diese besondere Weise geschmückt sind, in der Eltern die Gräber ihrer toten Kinder gestalten. Bunte Windräder leuchten im Schnee. Schmetterlinge. Bastelarbeiten.  Eine Laterne ist mit ausgeschnittenen Papierschneeflocken geschmückt, auf denen die Namen der Kinder irgendeiner Kitagruppe oder Schulklasse stehen, die um das Kind trauert, das zu ihnen gehört hat. Ein neues Grab dieser Art bringt mich immer noch zum Weinen. In ein paar Monaten – einem Jahr vielleicht – werden die leuchtenden Farben der Windräder von der Sonne ausgeblichen sein. Die laminierten Fotos werden sich wellen, die Gipsengel ein wenig verwittern. Das Leben der Eltern – auch wenn es nie mehr wie vorher sein wird – wird weitergehen, anderswo, auch das ist richtig.

Das Grab meines Kleinen ist so tief eingeschneit, dass Gesteck und Laterne kaum noch zu erkennen sind. Ich stecke ein paar Rosen in den Schnee. Am Friedhofsausgang drängen sich die dicken grünen Gießkannen an ihren Einkaufswagenhalterungen zusammen (Niemals ohne ein Zwei-Euro-Stück zum Friedhof gehen! Das lernt man schnell -) und warten auf ihren Einsatz. Der optimistische Friedhofsgärtner hat ein Schild rausgehängt, auf dem steht, dass er ab 2. April öffnen wird.

Auf den Werbeplakaten entlang der S-Bahn ist Frühling.

Dritter Januar

Die Zimmer der Kinder sehen so chaotisch aus, als wären die beiden nur mal eben nach nebenan gegangen und wollten gleich weiterspielen. Dabei sind sie bei ihren Großeltern. Ferien!

Ein guter Tag zum Alleinsein. Heute zünde ich die Kerze an, die in der Küche auf dem Fensterbrett steht. Sie ist übers Jahr ein wenig staubig geworden. Heute wäre mein Sternenkindchen 5 Jahre alt. Auf meinem Schreibtisch – zwischen den Bildern vom Dreijährigen und vom Siebenjährigen und von meinen drei hübschen Patenmädchen – steht ein Foto. Wer die Geschichte nicht kennt, wer flüchtig hinschaut, hält es für ein Foto eines meiner Söhne, kurz nach der Geburt, schlafend.

Die Kerze und das Foto waren wichtig für mich, damals, in der ersten Zeit, als ich nichts anderes wollte als in das schwarze Loch stürzen, das mein Baby hinterlassen hatte. Mir Igelstacheln wachsen lassen und mich zu einer Kugel zusammenrollen wollte. Mich verkriechen und weinen.

Wieder hinauszugehen, unter Menschen, war schwer. In der Kita hatte es sich schon herumgesprochen, aber nicht zu allen. Ein über die Festtage verschwundener runder Babybauch ist ein Anlass zum Gratulieren, nicht wahr? Andere wussten es und schauten weg. Wenige wussten irgendetwas zu sagen, noch weniger wagten es, Fragen zu stellen.

Ein anderer Weg in dieser ersten Zeit war zum Rückbildungskurs für „verwaiste Babymütter“, so nennt sich das. Hinterher Gesprächsrunde. Ja, es hat geholfen, dass alle dort eine beschissene Geschichte erlebt hatten.

Freunde. Manche waren da, wenn ich sie brauchte. Manche waren überfordert. Manche wollten helfen, aber ihre Bemühtheit war nicht zu ertragen. Ich habe Kontakte abgebrochen, es war ganz leicht, zu spüren, wer mir guttat und wer nicht. Irgendwann habe ich die, die in dieser Zeit wichtig waren, gebeten, mir einen Schmetterling zu basteln. Ein ganzer Schwarm ist es geworden. Ich war nicht alleine.

Arbeiten musste ich erst nach vier Monaten wieder. Das Mutterschutzgesetz erlaubte es, meine Personalabteilung war so nett, mich darauf hinzuweisen. Danach wieder hinzugehen, kostete Mut. Noch einmal Menschen, die nicht wussten, wie sie mit mir umgehen sollten. Mich fragen, wie es mir geht – oder lieber nicht? So tun als wäre nichts gewesen? Durfte man in meiner Gegenwart lachen? Wie laut?

Nicht lange danach wurde ich wieder schwanger. Auf dem Friedhof, noch vor dem Schwangerschaftstest, streichelte ich meinen Bauch und hieß die kleine Hoffnung willkommen. Während ich mich durch die ersten Monate bangte, trug ich Fotos zusammen und Erinnerungen an mein Baby, Schriftwechsel und Texte, klebte alles in ein Album und legte es zur Seite. Weiterleben.

Von Anfang an habe ich mich – ein wenig – mit der Vorstellung getröstet, dass meine Mutter sich um mein Sternenkindchen kümmert. Vielleicht sehen sie heute das Kerzenlicht in meiner Küche. Vielleicht zünden sie auch ein Licht an. Oder was man eben dort so tut, auf der anderen Seite, um einen Geburtstag zu feiern.

Am Tag vor Totensonntag

Samstagmorgen, ich stopfe meine Kinder in ein Taxi und klettere hinterher. Auf meinem Schoß der Rucksack mit Schäufelchen und Laubharke und eine große Tüte mit dem Gesteck, das wir gestern Abend gemeinsam gezaubert haben. Wir fahren zum Friedhof.

Die Lücke zwischen meinem Siebenjährigen und meinem Dreijährigen ist nicht zu sehen. Aber manchmal ist da ein Schatten von einem Kind, das auch bei uns sein sollte.

Die Geschichte von meinem zweiten Sohn ist eine traurige Geschichte. Aber auch solche Geschichten wollen erzählt werden.

Ich habe mein zweites Kind 30 Wochen getragen. Dann bewegte es sich plötzlich nicht mehr. Es dauerte nicht sehr lange, bis es mir bewusst wurde, aber doch viele Stunden, in denen ich wartete und hoffe und nicht wahrhaben wollte – noch auf dem Weg in die Klinik hatte ich Angst, als überbesorgt angesehen und nicht ernstgenommen zu werden. Aber dann stürzte die Welt ein, in dem Moment, als sie mir sagten, dass da keine Herztöne mehr waren. Der Oberarzt sagte herzlos: „In drei Monaten sind Sie wieder schwanger“. Dann leiteten sie die Geburt ein, und ich brachte mein Kind zur Welt: in einem Krankenhauszimmer, um das die Schwestern einen Bogen machten, weil sie es auch nicht ertragen konnten. In dem Wissen, dass es keinen ersten Schrei geben würde, kein Kuscheln auf meinem Bauch, kein Lächeln. Mein Baby war ein fertiges kleines Menschenkind: Frühchen können schon ab der 28. Woche überleben. Nur ein einziges Mal habe ich ihn im Arm gehalten, meinen zweiten Sohn.

Man bekommt eine Mappe in die Hand gedrückt, mit ein paar Gedichten von anderen trauernden Müttern und mit einem unpassenden Text über „Pathologische Trauer“; man bekommt einen Fußabdruck und das Namensbändchen, das das Baby um den Arm getragen hätte, wenn es gelebt hätte. Wir haben am nächsten Tag noch einmal von unserem Kind Abschied genommen, hilflos vor Schmerz, ein paar Fotos gemacht, wenige, ich wusste nicht, wie kostbar diese Erinnerungsstücke mir werden würden.

Ein paar Tage später lag mein Baby in einem winzigen Sarg, in einem riesigen Grab. Wir haben ihm bunte Baubecher mitgegeben, obwohl die Friedhofsordnung kein Plastik erlaubt. Rosen. Papiersterne, die mein großer Sohn ausgeschnitten hat, der war knapp drei. Ein Kuscheltier.

Inzwischen sind wir nicht mehr sehr oft auf dem Friedhof, aber meine Kinder kennen „unser“ Grab; sie wissen, dass sie eigentlich noch einen Bruder hätten. Heute stellen wir unser Gesteck aufs Grab, zwischen die Zweige, mit denen es schon abgedeckt ist. Wir harken ein bisschen Lauf weg; wir zünden ein Licht an und stellen es in die Laterne; wir stecken Rosen in die Erde; der Dreijährige und der Siebenjährige zanken sich darum, wer die Stiele abschneiden darf.

Und dann gehen wir einkaufen. Zutaten zum Plätzchenbacken. Essen fürs Wochenende. Vitaminsirup gegen den Dauerschnupfen. Und als wir den perfekten Adventskranz sehen, nehmen wir den auch schon mit. Muss er eben noch eine Woche auf dem Balkon liegen.