Wunder

Meine Kinder sind zurück und füllen die Wohnung, in der in den letzten Tagen Stille und verdächtige Ordnung herrschten, endlich wieder mit Leben. Das Trampolin steht plötzlich am Esstisch. In meinem Bett drei Teller mit Möhren-Tomaten-Ragout und Fischstäbchen, die der Vierjährige liebevoll in der Spielküche vorbereitet hat und die dann kalt geworden sind, als wir gemeinsam mit dem Vater der beiden in den Wald aufgebrochen sind, um im Schnee Ostereier zu suchen. Der Achtjährige liegt mir mit seinen Wünsche in den Ohren: Mama, können wir kickern? Mama, ich mag Siedler spielen!; beim Kochen hilft er bereitwillig mit, nein, eigentlich möchte er mir den Kochlöffel aus der Hand nehmen und alles allein machen. Zwischendrin verziehen sich die beiden gemeinsam zum Spielen, kippen den Sessel um, bauen Höhlen, hinterlassen Berge von Legosteinen, so hoch, dass nicht daran zu denken ist, die Kinderzimmertür zu schließen. Am Abend finde ich im Bett des Vierjährigen weder Kissen noch Decken, dafür aber seinen orangefarbenen Lieblings-Akkuschrauber.

Ich bin glücklich. Ich habe die beiden nach der bei den Großeltern verbrachten Woche fest in die Arme geschlossen. Ganz besonders den Vierjährigen, bei dem ich mich vergewissern musste, dass er wirklich heilgeblieben ist. Denn das ist ein kleines Wunder. Bei einem Spaziergang mit seinem Vater und seinen Großeltern vor drei Tagen ist er in einen Bach gefallen und durch eine etwa drei Meter lange Betonröhre unter einer Brücke hindurchgespült worden. Er hatte unglaubliches Glück: einen geistesgegenwärtigen Vater, der ihn am anderen Ende der Röhre erwartete und aus dem Wasser zog, aus den nassen Kleidern schälte und in seine eigenen einhüllte, ihn in seinen Armen hielt und tröstete; ein ganzes Bataillon Schutzengel, die verhinderten, dass er auch nur einen einzigen Kratzer oder blauen Fleck davontrug. Ja: ein Wunder.

Ich habe am Telefon einen mittelschweren Schock erlitten. Auf gepackten Koffern gesessen, bereit, mich beim kleinsten Anzeichen von Beschwerden – Schnupfen, Gehirnerschütterung, allem – auf die Reise zu meinem Kind zu machen – das aber schon wieder vergnügt mit Oma Ostereier färbte und mir am Telefon atemlos erzählte, dass leider bei seinem Sturz in den Bach die Wintermütze verlorengegangen sei. Ich habe das Wechselmodell von ganzem Herzen verflucht. Wäre mein kleiner Sohn in einen Bach gefallen, wenn die beiden bei mir gewesen wären? Vielleicht nicht. Vielleicht wäre irgendetwas anderes passiert. Vielleicht wäre es sogar schlimmer ausgegangen.

Ich möchte meine Söhne in Mutterliebe und Watte einpacken und in meinem Schrank verstecken.

Es wäre so schön, sie beschützen zu können.  

3 Gedanken zu „Wunder

  1. meineschreibblockadeundich

    Liebe Greta,

    das ist – glaube ich – etwas, von dem wir uns unbedingt frei machen müssen, auch wenn es unwahrscheinlich schwer fällt: Dieser Wunsch, unsere Kinder vor allen Gefahren, vor allem Bösen zu behüten, funktioniert zum einen nicht, zum anderen machen wir ihnen nur Angst damit. (Und irgendwann haben sie das Gefühl, an Mutterliebe zu ersticken ;).)

    Ich übe mich stattdessen jeden Abend in Dankbarkeit, wenn meine „Kinder“ wieder einen Tag heil überstanden haben. Und ich freue mich mit dir, dass dein Großer diesen Unfall offenbar schon unter „tolles Abenteuer“ verbucht hat.

    Herzlichst
    Marie

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    1. Greta Autor

      Kann man sich von solchen Wünschen denn jemals ganz freimachen? Bleiben die nicht einfach, auch wenn man es ganz genau weiß, dass man seine Kinder loslassen und ins Leben gehen lassen muss? Mir geht es jedenfalls so, und ich bin ja wechselmodellbedingt im Loslassen schon recht geübt… Liebe Grüße Greta

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  2. MeinWald

    Meine Älteste wird zwanzig dieses Jahr und es ist trotzdem immer noch eine riessige Übung im Losslassen. Gerade auch dann, wenn man oft erst hinterher erfährt, was alles passiert ist…und hätte passieren können 🙂

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