Geschichte

Neulich stand ich am Bügelbrett und der Achtjährige saß am Tisch und puzzelte Kanada. Wäre ich geografisch weniger hoffnungs- und orientierungslos, wenn ich als Kind ein Puzzlebuch mit allen Kontinenten gehabt hätte? Müßige Spekulation, ich hatte keins und deshalb müssen wir googeln, als der Achtjährige wissen will, ob Kanada eigentlich das größte Land der Erde ist. Und wenn nicht, welches dann.

Dabei kommen wir über Russland und Amerika ins Gespräch, über die UDSSR, die es nicht mehr gibt und die noch viel größer war, und darüber, dass Deutschland mal aus zwei Ländern bestanden hat, die – genauso wie die UDSSR und die USA – unterschiedliche Vorstellungen davon hatten, wie die Welt sein sollte. Als Berliner Kind weiß der Achtjährige schon, dass es die Mauer gab. Aber er staunt, als ich ihn frage: weißt Du eigentlich, dass Dein Papa und ich uns garnicht kennengelernt hätten, wenn die Mauer nicht gefallen wäre?

Plötzlich sind wir da, wo die dünnen Fäden der kleinen Familiengeschichte an den dicken Fäden der großen Lehrbuchgeschichte hängen. Bei einem Mann aus Franken und einer Frau aus Thüringen, die sich im Nachwendeberlin kennenlernen. Und das ist ja noch nicht alles. Ich versuche, dem Achtjährigen zu erklären, wie es dazu kam, dass Deutschland in zwei Teile geteilt wurde, und erzähle ihm, dass auch seine Großeltern – die in Süddeutschland und die in Thüringen – sich nur kennengelernt haben, weil seine Oma väterlicherseits und sein Opa mütterlicherseits als Kinder unter denen waren, die aus Schlesien fliehen mussten.

Flüchtlingsgeschichten können die Kinder sich noch von ihren Großeltern erzählen lassen. Musste die Mutter meines Vaters von einem Tag auf den anderen einen Koffer packen, sich und ihrem fünfjährigen Sohn anziehen, was sie an Kleidung nur tragen konnten, und gehen? Oder waren sie vorbereiteter? Haben sie ihr Gepäck verloren, als der Zug bombardiert wurde? Sind sie unterwegs russischen Soldaten begegnet? Mein Gedächtnis lässt mich im Stich, auch wenn mein Vater schon manchmal erzählt hat, das ist seltsam. Als ob es sich weigert, zu wissen. Warum? Möchte es die Erinnerung an meinen Vater so viel lieber auf schöne Geschichten bauen, Heileweltgeschichten? So wie die, dass er und meine Mutter einander als Jugendliche über den Gartenzaun mit faulen Äpfeln beworfen haben? So wie die Geschichten, die ich meinen Kindern von meiner eigenen Kindheit erzähle: vom Aufwachsen auf dem Pfarrhof, vom Einmachen der Früchte aus dem großen Garten, von den Hühnern, die im Frühling auf den Haselbäumen schlafen wollten und von den herrlichen Mäusegeschichten, die meine Mutter mir erzählt hat, wenn ich krank war.

Freilich muss ich meinen Kindern auch von der Wende erzählen; so, dass sie es verstehen können; jetzt ein bisschen und später mehr, wenn sie älter sind und Fragen stellen. Ihnen erklären, dass die Menschen rausgegangen sind, viele; dass im entscheidenden Moment jemand klug genug war, nicht den Befehl zum Schießen zu geben, in vielen entscheidenden Momenten, in denen das noch möglich gewesen wäre. Und davon, wie das für mich war, aus der Sicherheit eines im Großen und Ganzen vorherbestimmten Lebens in eine Situation zu kommen, in der mir so viele unerwartete Möglichkeiten offenstanden; eine Art umgekehrtes Auswandern, bei dem niemand fortgehen musste (auch wenn viele fortgegangen sind), weil das Fremde zu uns kam, eine andere Gesellschaftsordnung.

Noch lange nach dem Gespräch mit meinem Sohn denke ich über Geschichte und Familiengeschichte nach. Bestelle nochmal das Buch über die Kinder der Kriegskinder, das ich an meine Schwester verliehen und nicht zurückbekommen habe: das Thema beschäftigt uns. Frage mich wie schon manches Mal, ob ich – seit ich mit ebensoviel Widerwillen wie Faszination nach der Wende den Unterricht im neuen Fach „Wirtschaft und Recht“ besuchte – ein Stück ungelebtes Leben meiner Mutter nachhole, die ihre kaufmännische Ausbildung als „bester Lehrling“ abschloss, bevor sie die Möglichkeit einer glänzenden Karriere aufgab, um an der Seite des Mannes, den sie ein paar Jahre vorher über den Zaun mit faulen Äpfeln beschossen hatte, in der Rolle der Pfarrfrau aufzugehen.

Was werden meine Kinder aus dem machen, was ihr Vater und ich ihnen vorleben? Und was wird die große Geschichte mit ihnen machen, wenn sie sie in ihre Finger bekommt? Es wird die Geschichte sein, die wir heute vorbereiten. Die Geschichte einer Welt, die nicht mehr von zwei großen verfeindeten Systemen, sondern von kleinen Staaten mit kleinen Diktatoren und kleinen Atomwaffenvorräten in Atem gehalten wird (in den Nachrichten ist von der Möglichkeit nuklearer Erstschläge durch Nordkorea die Rede, ich möchte mir die Ohren zuhalten, ich möchte, dass das nicht wahr ist); einer Welt, in der der Klimawandel gerade noch begrenzt oder zur Katastrophe wird. Und das sind ja nur zwei von vielen Themen.

Doch, es lohnt sich wohl, das Quäntchen Kraft, das ich ab und zu übrighabe, dafür einzusetzen, dass auch meine Kinder ein gutes Leben haben. Auch wenn das die Form albern anmutender Kleinigkeiten annimmt, weil ich nicht der Mensch für große politische Proteste oder radikales Aussteigen bin. Auch wenn ich als Einzelne es nicht in der Hand habe und vielleicht noch nicht mal wir alle und vielleicht noch nicht mal die Politiker, von denen wir glauben (und manchmal war es ja auch so), dass sie sie gestalten können, die Geschichte.

3 Gedanken zu „Geschichte

  1. guinness44

    Sehr schön und letztlich ein schöner Beweis, dass sich die Dinge ändern. Für mich, als Kind des Westens, war es eine faszinierende Geschichte, als meine Eltern mir das erste Mal davon erzählten, dass es früher ein Deutschland gab. Wir hatten keinerlei Verwandte im Osten, so dass die DDR für mich einfach ein Staat wie jeder andere war. Erst viel später habe ich die Zusammenhänge „verstanden“. Selbst bei der Wende war mir die Bedeutung des Ganzen nicht richtig bewusst. Heute sehe ich bei meinen Kindern die verwunderte Reaktion, wenn ich davon erzähle, dass es einmal eine DDR und eine BRD gab. Noch mehr Verwunderung bzw. Fragezeichen bekomme ich, wenn ich versuche zu erklären, warum die Meinungsfreiheit so ein tolles Gut ist. Warum all die anderen Grundrechte wie Religionsfreiheit, Reisefreiheit, etc. so wichtig sind und was wir für ein Glück haben in Deutschland aufzuwachsen.

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    1. Greta Autor

      Ja, das stimmt! Man muss erzählen und erklären, damit die Kinder verstehen, was in den letzten 100 Jahren alles passiert ist, wie die Gesellschaft, in der wir heute leben, entstanden ist. Und es den Kindern bewusst machen, wie gut wir es hier haben. Und irgendwann kommt dann auch das Reden über die Herausforderungen der Zukunft… das finde ich besonders schwer.

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      1. guinness44

        Da warte ich immer noch drauf, dass sie mir etwas von Energie sparen erzählen und ich sie endlich dran kriege, dass sie das Licht in ihrem Zimmer ausmachen sollen, wenn sie es verlassen und auch i nicht gleich wieder da sind.

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