Ab heute sag ich Frühling

Heute hat es sich zum ersten Mal wie Frühling angefühlt. Mehr Sonne. Mehr Licht. Ein klein wenig Wärme.

An einem Tag, vollgepackt wie ein Rucksack:
Oben der Morgen mit dem liebsten Freund. Er kocht Kaffee, wärend ich schon mal meine Tasche packe; dann sitzen wir beide, Tassen in der Hand, auf dem Bett und ziehen die Decke über unsere Knie. So fange ich gern Tage an. Darunter ein Arzttermin, darunter die dickste Schicht: Erwerbsarbeit.
Darunter der Besuch bei der Patentante des Elfjährigen, wo ich 422 Fotos zum Ausdrucken auf eine Bestellseite hochlade. (Verflixt, die müssen dann auch alle in Alben einsortiert werden… ob ich das schaffe, noch einmal zweieinhalb Jahre Erinnerungen für die Kinder auf diese Weise festzuhalten?)
Darunter der Abend mit dem Siebenjährigen und dem Elfjährigen, die eigentlich Papawoche haben, heute aber bei mir schlafen – denn die Schule hat erbeten, dass sich die Eltern vorab das Starkmach-Theaterstück angucken, dass alle Schüler morgen sehen werden, damit die Kinder hinterher mit ihren Fragen nicht allein sind. Der Vater meiner Kinder geht hin, das finde ich gut; ich kuschele ein bisschen mit dem Siebenjährigen und gehe mit dem Elfjährigen ein paar Aufgaben vom letzten Känguru-Mathematikwettbewerb durch, der ist auch morgen.
Ganz unten noch die Besuchsfreundin am Telefon. Schreibzeit. Stille.

Wir alle brauchen ein bisschen „Wüste“, um zu uns zu kommen, heißt es in einem Artikel in der letzten Ausgabe von „Publik Forum“ – in der Ausgabe, in der auch steht, wie oft pro Tag Smartfonnutzer ihr Gerät durchschnittlich entsperren. Schrecklich oft, waren es 46 mal? 54 mal?
Wüste, Stille, Muße, Schweigen – um irgendwas mit dem ganzen Input zu machen, der auf uns einströmt, das leuchtet mir ein.

In meinem Kopf ist schon länger nicht mehr aufgeräumt worden. Der Stock, den mein Vater jetzt zum Laufen braucht, kullert darin herum (die alte Wohnung habe ich nach dem Umzug in die altersgerecht sanierte Genossenschaftswohnung am letzten Samstag zu malern geholfen); die Wahlergebnisse vom Sonntag – mitsamt meinen Versuchen, meinen Söhnen vor laufender Radioberichterstattung die verschiedenen Parteien zu erklären und wer mit wem nieundnimmer regieren wird und welche Parteien ich gut finde und warum. Anregungen aus dem Netz: Die mit dem Konzept der Care Revolution verbundene Kapitalismuskritik und der Verriss des „Mama-Styleguides“ – pfui, jetzt sollen uns über das Lebensgefühl „Mutter“ noch mehr Dinge angedreht werden, noch mehr stylische Klamotten, die irgendwer – vielleicht hatte die Frau ja auch Kinder? – unter menschenunwürdigen Bedingungen irgendwo genäht hat, 14 Stunden am Tag. Unsere Kurzusage, neun Wochen also keine Schule für meine Söhne im kommenden Sommer – und ein ganz großes Geschenk für mich.

Der Abendhimmel ist tiefblau und der Mond sauber halbiert. Ich möchte mich hinsetzen und ihn ansehen und lauschen, ob die Amsel noch singt (vorhin, beim Heimkommen, schluchzte sie im Baum) und warten. Warten, bis die Gedanken nicht mehr durcheinanderreden – und die verknitterten Gefühle sich ganz langsam auseinanderfalten.

3 Gedanken zu „Ab heute sag ich Frühling

  1. Pizzicato

    Liebe Greta,
    ich lese schon so lange Deinen Blog. Aber mit dem Kommentieren habe ich es nicht so, nirgendwo. Ich lese so gerne bei Dir, obwohl mir thematisch manches fern oder zu nah ist (ich bin selbst Trennungskind im Wechselmodell gewesen), und das liegt daran, dass Du es scheinbar ganz leichtfüßig immer wieder schaffst, mich sehr zu berühren. Diese literarische Qualität finde ich sonst nicht in Blogs. Andere Themen interessieren mich vielleicht mehr, aber, auf die Art, wie Du mit Worten Gefühle herzauberst, fühle ich mich unmittelbar angesprochen. Manchmal kommt es mir fast so vor, als würdest Du meine Empfindungen beschreiben. So in diesem aktuellen Text. Danke, dass Du nicht für die Schublade schreibst! Und danke für das Sachte, Tastende, manchmal Weltschmerzende Deiner Texte – das ist etwas, das ich mit vortschreitender Einbindung in die Leistungsgesellschaft vermisse; bei mir, in meiner Umgebung, meiner Lektüre. Dein Blog gehört für mich zu den seltenen Korrektiven, die mich zumindest daran erinnern, dass da etwas war, was eigentlich viel wichtiger als alles Tagewerk sein sollte.

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    1. Greta Autor

      Danke für diese berührende Rückmeldung! Deine Erfahrungen als „Trennungskind im Wechselmodell“ würden mich interessieren – gern auch per Mail, wenn Du davon schreiben magst. Ich frage mich so oft, wie meine Kinder das wohl wahrnehmen und ob sie später sagen werden, dass wir alles ganz anders hätten machen sollen… Ein lieber Gruß! Greta

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  2. tangoargentina

    Mit diesen Worten Deines Textes kann ich jetzt herangehen, den nicht ganz so großen Berg von Photos, (aber auch von über zwei Jahren,) für mein fast 18jähriges Kind einzukleben – fühle mich durch sie weich genug, um mit den wunderbaren Erinnerungen, die aber im Moment, angesichts des bevorstehenden Abschieds nur traurig machen, umzugehen… Dafür Dank. Worte sind eben das Heilendste und Tröstendste im Leben.
    Deine Wortliebhaberin

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