2016 war das Jahr, in dem ich das Wort „postfaktisch“ gelernt und meinen Kindern das Wort „populistisch“ erklärt habe. Hätte auf beides auch gerne verzichtet.
2016 war ein Jahr, in dem viel zu oft schon ein paar Minuten Nachrichten am Morgen ausreichten, um auf eine Weise traurig zu werden, die den ganzen Tag einfärbt. Mal abgesehen von Kriegen und Politik: Schmelzende Polkappen; Methan, das ungestört in die Atmosphäre aufsteigt. Wir schaffen es nicht mehr, die Welt zu retten, die wir kennen. Mülltrennen hilft nicht. Ökostrom beziehen reicht nicht. Kein Radio hören ändert auch nichts an der Lage. Wie soll ich das meinen Kindern erklären? Wie sollen sie leben, in 20, 30 Jahren?
Für mich persönlich war 2016 ein Jahr, in dem wenig passiert ist. Außer Älterwerden, das dafür aber um so mehr. Weniger Kraft. Mehr Vergesslichkeit. So oft (wo war ich stehengeblieben?) dieses leere Gefühl im Kopf, manchmal nur grau.
Was ich geschafft habe: Nach Stockholm zu reisen und die Schären zu sehen. Eine Mutter-Kind-Kur zu bekommen. Einen Job-Newsletter zu abonnieren und eine (1) Bewerbung zu schreiben. Meinen Balkon zum Blühen zu bringen. Zwei Paar (4) Socken zu stricken. Mich an die meisten (98) Schul- und Arzt-Termine der Kinder rechtzeitig zu erinnern. Den Alltag am Laufen zu halten. Weiterzumachen.
Was ich nicht geschafft habe: Die Welt zu retten (siehe oben). Irgendwelche guten Vorsätze umzusetzen. Ganz besonders nicht solche, die mit Sport zu tun hatten. Die Stelle zu wechseln. Mit meinen Kindern ausreichend geduldig zu sein.
Was schlimm war (privat und im kleinen): Den Flamenco-Kurs absagen zu müssen, auf den ich mich so(ooo) gefreut hatte. Nach dem Einsetzen der Narkosewirkung die Hand des Elfjährigen loszulassen und aus dem OP zu gehen mit dieser Angstklammer ums Herz: man kann ein Kind auch verlieren. Gelegentlich um fünf Uhr in der leeren Wohnung aufzuwachen mit Herzrasen und dem Gefühl, ziemlich allein auf der Welt zu sein.
Wo ich wirklich glücklich war: Alleine am Meer. In meinem Bett nach langen, anstrengenden Tagen. Auf meiner Geburtstagswanderung mit den Kindern und den liebsten Freundinnen und der ganz großen Schwester. Beim Beerensammeln im Wald. Auf dem Balkon vom Kur-Appartement unter dem großen Sternenhimmel.
Traurigkeiten: Dass es in Berlin so wenig Alltagsfreundlichkeit gibt. Dass liebe, wichtige Menschen in Lebenskrisen getrudelt sind. Dass Freundschaften und Gefühle sich veränderten.
Glücksgeschenke:
Eine neue Freundin zu finden.
Einen neuen Chef zu bekommen, der erst einmal die Überstunden der gesamten Abteilung übernimmt.
Mit der Besuchsfreundin abends im Waldhäuschen zu sitzen und herumzublödeln. Und die Telefonate mit ihr, in denen ausgiebig geklagt werden darf – und sehr viel gelacht wird.
Mit dem liebsten Freund müde auf dem Sofa liegend die Probleme der Welt zu lösen, so theoretisch. Und dabei ein bisschen weniger verzagt zu werden. Der nicht abgeschlossene Strandkorb vor dem Hotel, das uns keinen vermieten wollte (Hah!).
Das unbeschwerte Lachen des Elfjährigen – das so selten ist – und das unwiderstehliche Strahlen in den Augen des Siebenjährigen: Funkelsterne und Sonnenschein.
Manchmal einen ganzen Tag lang allein sein. Manchmal einen ganzen Tag lang nicht allein sein.
Parasolpilze. Ganz kleine gelbe Tomaten.
Wenn bei Kälte, Regen und beginnender Grippe die richtige S-Bahn ohne Wartezeit kam.
Lesen: „Americanah“ von Chimamande Ngozi Adichie und „Vor dem Fest“ von Saša Stanišić. Jan Wagners „Regentonnenvariationen“. Schauen: Jens Steinbergs Malerei. Hören: Dota. Live! Und Lachen: zum Beispiel über die Weihnachtspostkarte von der Besuchsfreundin. „Stress, Stress“, schnaubt das schweißgebadete Rentier vor dem Schlitten. „Du atmest falsch“, sagt der Weihnachtsmann, der hinten die Zügel in der Hand hält.
Weiter (falsch) atmend und weiter hoffend und dankbar für die Menschen, die für mich da sind und dankbar für die Menschen, für die ich dasein darf – so will ich ins neue Jahr gehen. Uns allen wünsche ich, dass es ein besseres, ein gutes Jahr wird.
Cheers!
Liebe Greta, ich fühle in Vielem in der Retrospektive sehr ähnlich. Einen neuen Bogbeitrag in Greta und das Leben zu finden, ist ein wunderbarer kleiner Alltagslichtblick für mich, ich mag deine poetische und ruhige Art, zu erzählen so gern. DANKE! Ich wünsche dir ein gutes neues Jahr!
LikeGefällt 1 Person
Liebe Anne, danke! Manchmal kommt mir das Schreiben so mühsam vor (und dann denke ich: wen interessiert schon, was ich heute wieder alles nicht hingekriegt habe…) – und deshalb freut es mich, freut es mich wirklich, dass doch immer wieder Menschen Spaß am Lesen haben… Auch für Dich die besten Wünsche für das neue Jahr! Heute darf man das gerade noch wünschen! Liebe Grüße von Greta
LikeLike
Liebe Greta,
das vergangene Jahr hat Dich viel Kraft gekostet, das war zu spüren. Und ich habe Dich immer wieder bewundert, wie Du die vielen Dinge des Alltags bewältigst.
Es geht mir wie Dir: sobald ich Nachrichten höre überkommt mich eine so große Angst und Verzagtheit und das Gefühl, dass die Welt verloren ist.
Solange wir aber lachen und blödeln und solange Du so wunderschöne und nachdenkliche Texte schreibst, besteht noch Hoffnung.
Ein glückliches neues Jahr wünsche ich Dir, von ganzem Herzen!
LikeLike
Danke!!! Danke für Deine sehr, sehr lieben Worte! Für mich gehören auch Deine Texte zu denen, wegen denen die Welt dann doch ein guter Ort ist… obwohl ich Dir so oft bessere, erfreulichere Schreibanlässe wünsche. Auch Dich möge das kommende Jahr weniger Kraft kosten; und es soll uns alle bitte mit erfreulichen statt beängstigenden Nachrichten aus der großen Welt überschütten… Ein lieber herzlicher Gruß von Greta
LikeGefällt 1 Person