Kofferpacken

Das Wochenende in Weimar verbracht. Mein Vater hat den Kurzzeitpflegeaufenthalt, seine Frau die Augen-OP gut überstanden. Im Herzen ist mein Vater immer noch Seelsorger, hat sich im Pflegeheim Liedblätter kopieren lassen und ein gemeinsames Singen mit den Dauerbewohnern angezettelt, hat sich von der kleinen vietnamesischen Praktikantin einen vietnamesischen Text vorlesen lassen „um mal zu hören wie das klingt“, und hat nach allen Richtungen so viel Interesse und Freundlichkeit verbreitet, dass sie auf ihn zurückgestrahlt hat. Die Pflegekräfte jedenfalls verabschieden ihn alle sehr, sehr freundlich.
Nur das eine Knie meines Vaters will nicht so, wie er will, es ist dick und schmerzt und das Bein ist garnicht belastbar. Abends macht er Arnikasalbe drauf, aber ich zweifle daran, dass das helfen wird. Es ist herzzerreißend, zu sehen, wie er sich beim Laufen quält. Wie er nie klagt, sich trotz seiner fortschreitenden Parkinson-Erkrankung, trotz seiner Schmerzen, trotz allem für die Pflanzen am Weg, die Bekannten in der Gemeinde, die Hobbies meiner Kinder, politische Entwicklungen… für die Welt um sich herum interessiert, das bewundere ich immer mehr.
Ich versuche, mich im Haushalt nützlich zu machen; der Frau meines Vaters alles abzunehmen, wobei sie sich bücken müsste, denn das soll sie nicht, und überhaupt alles, von dem ich sehe, dass es getan werden muss. Am Ende ernte ich das Kompliment, ich sei eine gute Hausfrau, worauf ich ja nun garnicht aus war. Aber es ist ja lieb gemeint. Zwischendurch spielen wir Baptistenskat; ich fahre nochmal ins Pflegeheim, um einen Brief abzugeben, der nicht für meinen Vater bestimmt war, und um eine haushaltsfremde Medikamenten-Tagesschachtel „Sonntag“ gegen die haushaltseigene Medikamenten-Tagesschachtel „Freitag“ einzutauschen; außerdem mache ich am Sonntag einen langen Vormittagsspaziergang im Umland. Abends schauen wir alte Kinofilme, die ich im DVD-Stapel entdeckt habe, „Vaya Con Dios“ und „Pilgern auf Französisch“. Das ist schön. Überhaupt tun die Tage mir gut, der Kopf ist weit weg von der Arbeit und von den Berliner Alltagssorgen.

Beim Heimfahren könnte ich das ich-packe-meinen-Koffer-Spiel spielen, oder jedenfalls viele lustige Items beisteuern, denn ich fahre natürlich nicht mit leeren Händen ab, das geht nicht bei meinem Vater und seiner Frau. Ich packe meinen Koffer und nehme mit: einen halben Ring Thüringer Knackwurst, eine Zeitungsseite mit Kürbisrezepten, dreieinhalb übriggebliebene Eierkuchen, eine Mappe mit alten Kinderbildern und Zeugniskopien von mir, einige Fotos von der Balkontomatenpflanze meines Vaters, zwei Absenker von Grünpflanzen, drei leere Sauerkirschgläser (in denen ich Suppe mitgebracht hatte), Süßigkeiten für meine Kinder, einen sehr schlechten Krimi, der dringend ins Verschenkregal muss – und viel, viel bleischwere Traurigkeit, weil ich so selten bei meinem Vater und seiner Frau bin. Ein Wunder, dass ich den Koffer noch nach Hause bekomme. Es geht auch fast alles glatt, nur die Berliner S-Bahn fährt eine halbe Stunde lang nicht, weil jemand ärztlich versorgt werden muss. Da hilft nur Geduld, ich stelle mir jemanden vor, der so mühsam unterwegs ist wie mein Vater, ich stelle mir vor, dass mir ein Notfall passiert – jeder möchte gerne ärztlich versorgt werden, auch im ÖPNV zur Berufsverkehrszeit.

Also wieder Berlin.

Kurze Woche, drei Arbeitstage, dieses Mal sind das drei Bürotage. Der Siebzehnjährige kommt zu mir, und weil die Chorprobe am Abend ausfällt, haben wir Zeit für einen gemeinsamen Spaziergang, und ich lasse mich auf den Stand bringen, was Schule, Lehrer, anstehende Vorträge und Klausuren, Wochenendtermine und dergleichen angeht. Ich freue mich über die gemeinsame Dreiviertelstunde mit meinem Sohn, der Schrittzähler freut sich auch, und wir streiten uns erst am nächsten Tag wieder – nicht der Schrittzähler und ich, sondern der Siebzehnjährige und ich – als es um die Frage geht, ob man seinen Koffer für eine Wochenendreise ins kalte Ausland eher frühzeitig oder in den allerletzten 10 Minuten vor dem Abendtermin und dem Wechsel in den Papahaushalt packt. Der Siebzehnjährige packt also – in unglaublicher Windeseile und spätestmöglich – seinen Koffer und nimmt mit: Die Bahncard, weil ich sie ihm hinlege, den Ausweis, weil ich daran denke, hoffentlich etwas Wechselunterwäsche, halbfeuchte Socken vom Wäscheständer, die angeblich vorbildlich gefüllte Kosmetiktasche, ein Paar Wechselschuhe, weil Regen angesagt ist, hoffentlich so etwas wie einen Schlafanzug und hoffentlich genug warme Sachen. Die Süßigkeiten für einen netten gemeinsamen Abend mit der Patentante und den anderen Mitreisenden hätte er vergessen, aber ich lege sie noch dazu, das muss sein.

Der dritte Koffer aber steht beim Hannoverliebsten. Morgen, nach fast vier Wochen, sehen wir uns ohne Handybildschirm, wieder einmal. Die Bahn wird pünktlich sein, ganz bestimmt, rede ich dem Hannoverliebsten gut zu – und freue mich, dass dieses Mal nicht ich fahren muss.

2 Gedanken zu „Kofferpacken

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