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Up and away

Am Morgen ziehe ich nach einem Blick in die Wetterapp die lange Strumpfhose doch wieder aus und stecke sie noch schnell oben in die große Kraxe, bevor ich die aufhucke und die Tür hinter mir ins Schloss ziehe.

Mittags packe ich in einer Büroarbeitspause die dünne Windjacke aus und die mitteldicke Winterjacke ein.

Um halb vier gehe ich schwer bepackt, aber frohlockend an den Türen der Vollzeitkollegen vorbei zum Aufzug und hinaus in die Sonne.  Am Gesundbrunnenbahnhof steige ich in den Zug, in dem der liebste Freund sitzt und uns zwischen den Eberswalde-Pendlern Plätze freigehalten hat.

Voll ist der Zug am Donnerstagnachmittag! Und ich schaue so gern Menschen an. Gegenüber ein Student – vielleicht – der auf seinem Laptop etwas liest und sich gleichzeitig mit einem elektronischen Stift handschriftliche Notizen auf einem Tablet macht, dass er auf der Tastatur seines Laptops abgelegt hat. Die Dame neben ihm liest mit schreckverzerrtem Gesicht eine Ausgabe von pm mit dem Titel „Gefährliche Sonne“. Ein überforderter Vater im weißen Simpsons-T-Shirt macht abwechselnd Quatsch mit seinen Kindern – einem Mädchen im Kindergarten- und einem Jungen im Vorschulalter – und schreit sie zwischendurch, genervt von der Hitze und der Enge des Zuges, immer wieder böse an. Eine Dame in Marineblau runzelt missbilligend die Stirn und wechselt das Abteil, sobald mehr Plätze freiwerden.

Draußen stehen hellbraune Kühe auf Weiden und ein Auto mit offener Heckklappe auf einem Hügel neben einem hölzernen Picknicktisch. Ein wilder Landschaftsmaler hat unwirklich strahlendes Rapsgelb großflächig in die Felder gestrichen.

Das Anzeigesystem des Zuges ist davon ganz durcheinander und kündigt uns Kiesow, Greifswald Süd und Ferdinandshof an, obwohl wir uns doch Chorin, Angermünde und Prenzlau nähern. Live-Durchsageversuche des Zugpersonals gehen im wiederkehrenden Glockenton unter, der sie eigentlich ankündigen soll.

Weil es keinen Empfang gibt, male ich dem liebsten Freund eine gefühlte Karte unseres Reiseverlaufs in mein Notizheft. Als ich wieder aufblicke, hat eine junge Frau angefangen, nett mit den Kindern des überforderten Vaters zu schwatzen. Der hat plötzlich ein schwarzes Simpsons-T-Shirt an, straht die junge Frau an wie eine Heiligenerscheinung und ist von nun ganz entspannt. Der liebste Freund packt die Kaffeekanne, süße Teilchen, Käse, Wurst und Brötchen aus, und wir krümeln glücklich die Sitze voll, bis die Zugbegleiterin vorbeikommt und den Austausch unseres Zuges in Prenzlau ankündigt.

Zwei Stunden später sind wir angekommen und schließen unsere Ferienwohnung auf, die ein bisschen mehr „unsere“ und sofort ein wenig wie zu Hause ist, weil wir hier letztes Jahr schon gewohnt haben. Es gibt das rote Sofa noch und den Großelternsessel, die vielen Spiegel und die Glasteller und die seltsame Küchenlampe und wie letztes Jahr Erbsensuppe aus dem Schlauch und dann das Meer, das kalt ist und rauscht, und ein großzügiges Abendrot, das sich hell in den ruhigen Lachen am Strand spiegelt, die die Wellen nur manchmal erreichen. Und als wir das Abendrot beinahe erreicht haben und uns umdrehen, um zurückzulaufen, steht im Dunst hinter der Seebrücke der Vollmond, dick und orange.

Sommer, Teil II

Traurig gebe ich meine Kinder bei ihrem Vater ab. Wir sind drei Wochen zusammengewesen – das hat uns „trennungsverwöhnten“ Wechselmodellern richtig, richtig gutgetan. Trotzdem freue ich mich auf die Tage, die ich jetzt mal wieder allein verbringen werde. Ich merke, dass ich mich tatsächlich besser, erholter fühle als vor dem Urlaub.

Innerhalb eines einzigen Tages stürze ich die Wohnung in ein großes kreatives Chaos: Das Zimmer des Sechsjährigen ist halb ausgeräumt, Tischplatte und höhenverstellbare Beine für seinen Schulschreibtisch und Bretter für ein neues Regal liegen herum, Werkzeuge und ein Farbeimer mit einem Rest eingetrockneter weißer Wandfarbe, den ich später mit etwas Wasser und einem Schulpinsel so weit wiederbeleben werde, dass ich Flecken und Macken auf der Tapete und mit – äh, ja – Fugenmörtel zugegipste alte Bohrlöcher überpinseln kann. In meinem Zimmer steht die Matratze des Kinderbettchens, das der Sechsjährige unbedingt noch behalten will, inmitten von Stoffen, mit denen ich sie beziehen und das Kinderbettchen vielleicht in eine Kuschelhöhle verwandeln will. Auf dem großen Tisch liegen die Schulmaterialien, die ich schon besorgt habe, daneben die Materiallisten mit all dem, was noch fehlt. Eine coole Zuckertüte und ein Plüschfußball warten darauf, in ein sicheres Versteck zu wandern. Ein Berg zu klein gewordener Kindersachen liegt zum Sortieren auf dem Sessel. Auf meinem Sofa hat das Strick-Lager eröffnet, bergeweise Wolle und Zettel mit handgeschriebenen Maschenrechnungen; Nadelspiele und Schere warten auf den Abend, wenn ich den Krimi anschalte und meine fünf äußerst störrischen Nadeln beschimpfe, während ich eifrig an einer Mütze für den Sechsjährigen arbeite, die (leider sehe ich das erst am Ende) komplett misslingt.

Ich ziehe durch die Stadt, kaufe mir endlich – endlich! – eine neue Handtasche, gebe mein letztes Bargeld im Secondhandladen für ein Sommerkleid aus. Ich schaue auf dem Friedhof nach dem Rechten und pflanze Chrysanthemen nach, wo die Schnecken sich die Studentenblumen zum Nachtisch geholt haben.
Ich fahre ganz alleine an meinen Lieblingsbadesee und schwimme und schwimme und schwimme…  Ich frohlocke, als ich sehe, dass meine Wetterapp optimistisch ist und für die ganze Woche warme Temperaturen ankündigt.

Es ist Sommer, im Büro ist es friedlich, die Seen locken, ich habe wieder Ideen im Kopf und Lust zu leben.
So soll es sein.

Das Balkongartentagebuch: Krähenkind

Am Pfingstsamstagsnachmittag ist es in all den von unserem Häuserkarree eingeschlossenen Hinterhöfen, die ich von meinem Balkon aus einsehen kann, menschenleer.

Oben, in den Baumwipfeln der Linden und des Ahorns und des anderen Ahorns und der Birke, in der die Krähe gebrütet hat, spielt der Wind. Die Spatzen und Meisen schwatzen und schimpfen laut von Baum zu Baum und von Zweig zu Zweig miteinander. In der großen Gabelung des Ahornbaums gegenüber schreien zwei Krähen. Ich recke den Hals, bis ich sie sehen kann. Die eine – vielleicht die Krähenmutter aus der Birke? – füttert die andere, ein kaum flügges Küken, und fliegt dann über die Dächer davon – sicherlich, denke ich, um neue Nahrung herbeizuschaffen. Geduldig und still bleibt das Krähenkind in der Gabelung des dicken Stammes sitzen.

Unten im Gras marschiert das Starenpaar auf und ab, das in diesem Sommer den Kirschbaum gepachtet hat – sie (?) würdig in Schwarz und er (?) frohgepunktet. Ein paar Spatzen folgen den beiden neugierig über den Rasen unterm Wäscheplatz. Zwischen roten und grünen Leinen schimmert eine gelbe in der Sonne wie ein langes goldenes Haar.

Wenn ich nicht hinsehe, drehen die Bohnensprösslinge auf meinem Balkon ihre Spitzen ein wenig weiter. Immer gegen den Uhrzeigersinn – die im linken Topf haben das Spalier schon gefunden, die rechts tasten noch danach. Lila beginnt der verlauste Salbei zu blühen, rot die Verbene. Die Studentenblumen in den Beeten der Kinder sind prächtig, an der Tomatenpflanze des Zehnjährigen gibt es schon kleine grüne Früchte; die Erbsen des Sechsjährigen muss ich zum vierten Mal nachstecken, ich wühle in der Erde nach den früher dort eingebrachten Samen, finde aber nichts.

Allmählich wird das Krähenkind im Baum unruhig. Es streckt die noch ungelenken Flügel, hüpft auf der einen Seite seiner Gabelung ein wenig den Stamm hoch; stakst auf der andern Seite auf dem dort flacher wachsenden dicken Ast nach außen; fängt sich mit weit ausgebreiteten Flügeln, wenn es dabei abzurutschen droht. Keine Spur von seiner Mutter. Es beginnt kläglich nach ihr zu schreien, und sitzt dann wieder still, ein Bild der Verlassenheit.

Aus dem Ahorn, auf dem es sitzt, propellern immer wieder einzelne Samen nach unten wie irgendwelche Dinge in Computerspielen, die man in einem Korb auffangen oder vor denen man sich in Sicherheit bringen muss.

An meinem Balkon vorbei lässt der Wind behutsam einen einzelnen Pusteblumensamen aufsteigen.

Als eine Krähe durch den Hinterhof fliegt, reißt das Krähenkind im Baum seinen Schnabel so weit auf, dass ich – viele Meter entfernt – das Rote im Inneren seiner Kehle leuchten sehe. Aber die große Krähe fliegt vorbei. Inzwischen warte auch ich gespannt – und irgendwie entrüstet über ihr langes Ausbleiben – auf die Krähenmutter. Kann das wirklich so lange dauern, ein paar Würmer einzusammeln? Und warum ist das Kleine so allen, hat es keine Geschwister?

Irgendwann hat das Küken sich beruhigt, vielleicht ist es eingeschlafen. Es wird kühl, ich gehe nach drinnen. Als ich nach einer Weile aus dem Fenster schaue, ist die Gaben im Ahornstamm im frühen Abendlicht leer.

Kunstspaziergang

Es war einmal, im tiefen Wedding, wo die Leute nicht so gerne wohnen mögen und die Nächte kalt und grau und finster sind… Da fand sich – vor vielen Jahren schon – eine freundliche Wohnungsbaugenossenschaft, die Künstlern Räume zum Nebenkostenpreis zur Verfügung stellte.
Und an jedem letzten Freitag im Monat darf man durch das Viertel laufen und ein paar dieser Kunsträume ansehen.

Der geführte Spaziergang beginnt in der „Kegelbahn“, einem gemütlichen Raucherlokal mit echtem Kaminfeuer und Ölbildern und Drucken an der Wand, die mir sofort gut gefallen. Die Künstlerin ist anwesend und erzählt ein wenig von ihrer Arbeit.
Sie ist ganz jung (ich habe sie mir fünfzehn Jahre älter vorgestellt, als ich ihr Gemälde auf dem Ausstellungsflyer gesehen habe, sagt der liebste Freund), die meisten Teilnehmer am Kunstspaziergang sind das auch. Vom Treffpunkt aus ziehen wir jetzt durch die Ateliers und „Projekträume“. Eine russische Malerin hat die Abendstimmung auf der winterlichen Straße Unter den Linden so schön eingefangen, dass ich sicher bin, dass die Rücklichter der Autos und die Lichterketten in den Bäumen leuchten würden, wenn im Atelier das Licht ausginge. Schmälert es meine Bewunderung für ihre Bilder, dass man ihnen ansieht, dass sie zumeist von Fotos abgemalt sind? Ein wenig.
Eine serbische Künstlerin präsentiert Monotypien, ihre Technik bleibt trotz ihrer bereitwilligen Erklärungen in gebrochenem Englisch geheimnisvoll. Der Galerieinhaber lädt breit lächelnd zur Balkan-Party ab Mitternacht ein. Hier ist es, denke ich, das junge, wilde, lebendige, Berlin, ach! Nur müde darf man nicht sein, um es zu erleben, jedenfalls nicht nachts.

Ein anderer Raum zeigt Videoanimationen, die sich künstlerisch mit Molekularbiologie auseinandersetzen. Wir bekommen 3D-Brillen und sehen riesige wabernde Kugeln durch den Raum auf uns zuschweben. Es geht hier auch um String-Theorie, sagt der junge Mann, der das Projekt ein wenig erklärt, darum, wie die Dimensionen ineinandergefaltet sind. Und solange ich ihm zuhöre und mit meiner rot-blauen Brille auf den Bildschirm starre, auf dem ein Liniengitter sich wellt, leuchtet mir das auch ein, eine gefaltete Linie wird flächig, eine gefaltete Fläche wird 3-dimensional, gefalteter Raum wird zur Raumzeit – meinetwegen. Nur wie man einen Punkt falten soll, um eine erste Dimension zu bekommen, versteht mein armes 3D-Hirn nicht.

Draußen, auf der Straße, versuche ich, ein paar Blicke in die Wohnungen zu werfen, an deren Fenstern wir vorübergehen. Da – ein Zimmer mit einem Kronleuchter aus ganz viel funkelndem Kristall-Imitat und mit vielen pastellfarbigen Schmetterlingen an der Wand. Und da – ein ganz kahler Raum, in dem ein Mann still am Fenster sitzt.

Dass die Kunsträume eigentlich auch kleine Wohnungen sind, verleiht ihnen etwas äußerst Gemütliches. Fast überall gibt es eine Küche, steht Essen auf einem Tisch, sitzen Künstler mit ihren Freunden zusammen. Besonders klein ist der Raum, in dem die Performance „Licht trifft Klang“ gezeigt werden soll. Gerade hier ist es rappelvoll, der liebste Freund und ich flüchten nach draußen, bevor ich mich – macht es Euch doch bitte gemütlich, das dauert jetzt eine Weile, so lange stehen geht ja nicht – ganz hinten in der Ecke eingequetscht auf eine Decke niederlassen muss. Hinter uns gehen die Jalousien runter, ein paar enttäuschte Performance-Fans kommen zu spät und werden dann doch noch über den Hausflur eingelassen.

Weil wir nicht von außen zusehen können und auch nicht im Nieselregen abwarten wollen, bis Licht und Klang sich kennengelernt haben, schauen wir uns auf eigene Faust noch zwei Gruppenausstellungen an, die auf der heutigen Spaziergangsroute liegen.
Die erste, tief in einem finsteren Hinterhof, übersehen wir fast, weil die Räume so kahl sind und draußen nur „Prayer-Workshop“ dransteht (vorne an der Toreinfahrt war ja auch ein Schild der neuapostolischen Kirche, hätte ja sein können – ). Einer der Künstler hat Holzklötzchen schwarz-weiß angestrichen und dann ein Bild von ihnen gemalt, beides zusammen steht da nun. Ein anderer zeigt unter dem Titel „Horror vacui“ die Reservierungsbestätigung einer Pension für eine Buchung in 2025. Wieder ein anderer hat sich darauf spezialisiert, gedrechselte Holzstäbe in die Tüllen von Gießkannen oder die Öffnungen von Sonnenschirmständern zu stecken. Diese Ausstellung macht mich ratlos, besteht denn diese Art von Kunst vor allem darin, dass da ein Künstler sich selbst und seine Ideen so ernst nimmt, dass er es schafft, Ausstellungsmacher und -publikum davon zu überzeugen, dass sie tiefe Bedeutung besitzen? Beweisen meine Irritation – und mein Lachen beim Lesen der Buchungsbestätigung – dass die Künster Recht hatten, dass gelungen ist, was sie beabsichtigt haben?

Die letzte Ausstellung zeigt Kunstwerke von vier Frauen. Eine hat Nasen aus schwarzem Glas gemacht und sie zu hohen Stapeln aufgetürmt oder einzeln in Eierbecher drapiert; eine hat verschiedene Objekte in weiß und orange zusammengestellt; gegenüber hängen viele Fotos von einem Rasen, die nach rechts hin immer grüner werden (ist das eine optimistische Aussage, weil unsere kulturelle Lesrichtung von links nach recht verläuft?) – und im hinteren Raum zeigt ein Bildschirm das Bild einer riesigen Clivia.
In diese Ausstellung, sagt der liebste Freund, wäre ich gern gekommen, ohne zu wissen, dass diese Kunstwerke alle von Frauen sind. Ob ich es erraten hätte? In diese Ausstellung, sage ich, würde ich gern in einem (mal eben aus einer Raum-Zeit gefalteten) Paralleluniverum nochmal in der Überzeugung kommen, dass alle diese Kunstwerke von Männern stammen. Und dann vergleichen: Hätte ich sie anders interpretiert?

Mit Bildern, Gedanken und Fragen im Kopf machen wir uns auf den Weg in Richtung Straßenbahn. Vor uns laufen junge Menschen, die Jungs in hautengen Hosen und unförmigen Pelzmänteln, die Mädchen in hautengen Hosen und unförmigen Wolljacken und mit um den Kopf geflochtenen Haaren; ich möchte garnicht fünfzehn Jahre jünger sein, sage ich.

Wir steigen in die Bahn. Ich schließe die Augen und lehne meinen Kopf müde an die Schulter des liebsten Freundes. In dem einen Atelier fängt vielleicht gerade jetzt diese Balkan-Party an, laut und ausschweifend; in dem anderen ist vielleicht gerade jetzt die Klang-trifft-Licht-Performance zu Ende und die beeindruckten Zuschauer schnappen nach frischer Luft; überall hier im Wedding wachsen in den Köpfen von jungen Künstlern und Künstlerinnen gerade jetzt neue Ideen, still und unaufhaltsam wie Haare oder Fingernägel oder Bäume.
Und einige ihrer Kunstwerke könnten zu mir sprechen oder mich anrühren, mich irritieren oder zum Nachdenken bringen, beim nächsten Mal, irgendwann.

Wünschen [*txt.]

Dass endlich Feierabend ist und
der Regen aufhört und
die Bahn pünktlich kommt –

Eine Gehaltserhöhung und
einen Sommermantel und
ein Haus am Wasser –

Schreiben und
Reisen und
Tanzen, nächtelang –

Zeit für die Kinder –

Wenn du einen Wunsch frei hättest, Mama, nur einen!,
stellt der Neunjährige beim Sonntagsfrühstück die Fangfrage, was müsstest du
dir dann wünschen? – Ich weiß es!

Ich auch, sage ich, dass alle meine Wünsche –
Aber wenn dieser eine Wunsch
verboten ist, was wünscht ihr euch dann?

Ich würde wünschen, dass
alle Menschen ein gutes Leben haben, sagt der Fünfjährige, der immer
möchte, dass alles gut wird;
und weil wir einmal bei den Weltwünschen sind, hat der Neunjährige
auch gleich wieder eine Idee,
beinahe so raffiniert wie die erste: Ich
würde mir Geld wünschen, das niiiiie
alle wird, und den Leuten, die Krieg machen, ganz viel davon geben,
damit sie mir ihre Waffen geben und der Krieg aufhört –
Oh, sage ich, skeptische Mutter, ob die sich nicht
neue Waffen kaufen würden, bessere,
von deinem Geld?
Jetzt bin ich dran. Ja.
Einen Wunsch für eine heilere Welt habe ich auch.

Aber eigentlich möchte ich
vier Wünsche frei haben, mindestens, denn zuerst
sind mir die persönlichen eingefallen, die die Fee (ausgelastet
mit den Wünschen meiner Kinder, groß wie ihre Fragen ans Leben) heute wohl nicht erfüllt:
Liebe, Gesundheit und Geld bis ins Alter. Das Standardprogramm.

Ein paar Tage später hat
der Wind den Morgenhimmel blankgefegt und Berlin
ist eine große Bühne vor einem leuchtenden Blau,
auf der ein Arbeiter auf einer Leiter steht und Taubenschutzdrähte anbringt und
gelbe Kräne ihre schlanken Hälse in Baugruben senken,
und hinter der aus einer letzten Wolkenbank weit im Osten
die Sonne steigt.

Und ich möchte glauben, dass es
– wenigstens manchmal –
so einfach ist:
Den hellen Himmel anschauen.
Wunschlos.


Dieser Text ist Teil des [*txt.]-Projektes.

25 Jahre

Meine Erinnerungen an die Wende und den Fall der Berliner Mauer sind grobkörnige Fernsehbilder, schwarz-weiß, die echten Erinnerungen überlagert von späteren Widerholungssendungen. Die Menschen da in Leipzig bei den Montagsdemos, oder die, die da in Berlin auf der Mauer tanzten… das war ganz schön weit weg. Unwirklich. Etwas, das mir passierte, wurde die Wende erst später: Mit den wenigen Demos, zu denen ich dann – als es ungefährlich war – mitgehen durfte. Mit der bunten H-Milch im Regal, der Staatsbürgerkunde-Lehrerin, die sicherheitshalber ein paar Monate lang nur noch Sexualkunde unterrichtete, bis sie ihre Blitzumschulung zum Fach Gesellschaftskunde abgeschlossen hatte; mit dem ersten Ausflug nach Kassel, den Karottenhosen, für die ich mein „Begrüßungsgeld“ ausgab und dem Staunen vor den riesigen, bunten, herrlichen Regalen in einer Kasseler Buchhandlung. Mit dem Besuch meiner Klassenlehrerin, die mit der guten Nachricht kam, dass ich nun auch als Pfarrerstochter würde Abitur machen dürfen. Mit der ersten Reise nach Ungarn, den lauen Abenden an der Donau und dem herrlichen Duft der Pfirsiche auf den Märkten.

Nein, wir waren keine Familie von Visionären, die den Fall der Mauer herbeigesehnt oder von Rebellen, die ihn herbeigeführt hätten. In unserer Familie wird die Gabe weitergegeben, sich in die Umstände zu fügen, die wir vorfinden. Die Wende kam deshalb für mich nicht nur unerwartet, sondern von irgendwo weit, weit außerhalb der Gesamtmenge der Möglichkeiten, die ich für mein Leben in Betracht gezogen habe, damals; als seltsames Wunder.

Heute – und nicht nur heute (denn ich halte viel von Familien-Sagas, von einem Geschichtenschatz, aus dem die Kinder sich Antworten auf die Frage heraussuchen könnnen, woher sie kommen) – erzähle ich meinen Söhnen davon. Euch, sage ich, hätte es garnicht gegeben ohne die Wende. Euer Vater und ich wären uns nämlich nicht begegnet. Wir rechnen aus, dass meine Kinder halb-schlesisch, viertel-fränkisch und viertel-thüringisch sind – und dann noch Berliner, sagt der Fünfjährige. Klar! Ganze Berliner noch dazu.

Zum Gedenktag des Mauerfalls wollen wir natürlich die Lichtergrenze sehen, ein kleines Stückchen der 15 Kilometer, auf denen – so haben sich das zwei findige Künstler ausgedacht – in kurzen Abständen leuchtende Heliumballons auf schlanken Stängeln den Verlauf der Mauer von der Bornholmer Brücke im Norden Berlins bis zur Oberbaumbrücke in Kreuzberg nachstellen und dann als Symbol der Maueröffnung aufsteigen sollen. Weil der Fünfjährige so gerne ein echtes Stück Mauer sehen möchte, gehen wir zur East Side Gallery. Da ist die lange Reihe leuchtender Tropfen in der Dunkelheit! Schön sieht das aus. „Ballonpaten“ in roten Windjacken mit Sponsorenlogos drauf hängen runde Zettel mit ihren Botschaften an die Ballons oder treten frierend von einem Bein aufs andere. Ein Bläserchor spielt einen Choral, ein Straßenmusiker klampft über seine Gitarrenseiten, noch ein Stück weiter gibt es laute Elektro-Beats. Guckt, sage ich zu meinein Kindern, da ist die Mauer! Bloß die Bilder gab es zu DDR-Zeiten nicht, da war die Mauer grau, und es standen Soldaten davor. Andächtig legt der Fünfjährige seine Hand auf den bunten Beton. Und dann gehen wir an den bunten Mauerstücken entlang in Richtung Oberbaumbrücke. Um uns herum ein dichtes Gewimmel, überwiegend junge Leute, die in vielen Sprachen durcheinanderreden, ihre Smartfons zücken, sich selbst, ihre Freunde, die Mauer, die leuchtenden Ballons und unbeteiligte Passanten fotografieren und wahrscheinlich sämtliche sozialen Netzwerke mit ziemlich gleich aussehenden Fotos fluten.

Auf einer riesigen Leinwand werden – noch einmal, einmal mehr – die Filmaufnahmen vom 9. November 1989 gezeigt. Schaut hin, sage ich zu meinen Kindern, so war das, so sah der Fall der Mauer aus, das da ist heute vor 25 Jahren passiert! Mama, sagt der Fünfjährige, da hat eine Frau einen Grenzpolizisten geküsst! Ja, sage ich, so sehr haben die Menschen sich gefreut. Genau wie damals, als es echt war, stehen mir Tränen in den Augen.

Weiter vorne, zur Oberbaumbrücke hin, drängen sich die Menschen so dicht, dass wir nicht mehr weiterkommen. Und immer mehr Leute strömen zur Brücke. Zwei verschnupfte Kinder an einem kalten Abend in einer undurchdringlichen Menschenmenge – und dann noch eine Stunde auf den Aufstieg der Ballons warten? Das schaffe ich nicht. Auf nach Hause! Zum Trost für die Kinder löst einer der Ballons sich plötzlich viel zu früh von seiner Halterung, steigt auf, wird vom Wind abgetrieben, immer höher, immer weiter.

Die restlichen sehen wir dann zu Hause im Fernsehen. Auch schön. Und wie das mit historischen Ereignissen so ist: Die Kinder kommen viel zu spät ins Bett. Und der Abwasch bleibt stehen. Aber wir waren dabei. Ein bisschen (wieder mal).