Es war einmal, im tiefen Wedding, wo die Leute nicht so gerne wohnen mögen und die Nächte kalt und grau und finster sind… Da fand sich – vor vielen Jahren schon – eine freundliche Wohnungsbaugenossenschaft, die Künstlern Räume zum Nebenkostenpreis zur Verfügung stellte.
Und an jedem letzten Freitag im Monat darf man durch das Viertel laufen und ein paar dieser Kunsträume ansehen.
Der geführte Spaziergang beginnt in der „Kegelbahn“, einem gemütlichen Raucherlokal mit echtem Kaminfeuer und Ölbildern und Drucken an der Wand, die mir sofort gut gefallen. Die Künstlerin ist anwesend und erzählt ein wenig von ihrer Arbeit.
Sie ist ganz jung (ich habe sie mir fünfzehn Jahre älter vorgestellt, als ich ihr Gemälde auf dem Ausstellungsflyer gesehen habe, sagt der liebste Freund), die meisten Teilnehmer am Kunstspaziergang sind das auch. Vom Treffpunkt aus ziehen wir jetzt durch die Ateliers und „Projekträume“. Eine russische Malerin hat die Abendstimmung auf der winterlichen Straße Unter den Linden so schön eingefangen, dass ich sicher bin, dass die Rücklichter der Autos und die Lichterketten in den Bäumen leuchten würden, wenn im Atelier das Licht ausginge. Schmälert es meine Bewunderung für ihre Bilder, dass man ihnen ansieht, dass sie zumeist von Fotos abgemalt sind? Ein wenig.
Eine serbische Künstlerin präsentiert Monotypien, ihre Technik bleibt trotz ihrer bereitwilligen Erklärungen in gebrochenem Englisch geheimnisvoll. Der Galerieinhaber lädt breit lächelnd zur Balkan-Party ab Mitternacht ein. Hier ist es, denke ich, das junge, wilde, lebendige, Berlin, ach! Nur müde darf man nicht sein, um es zu erleben, jedenfalls nicht nachts.
Ein anderer Raum zeigt Videoanimationen, die sich künstlerisch mit Molekularbiologie auseinandersetzen. Wir bekommen 3D-Brillen und sehen riesige wabernde Kugeln durch den Raum auf uns zuschweben. Es geht hier auch um String-Theorie, sagt der junge Mann, der das Projekt ein wenig erklärt, darum, wie die Dimensionen ineinandergefaltet sind. Und solange ich ihm zuhöre und mit meiner rot-blauen Brille auf den Bildschirm starre, auf dem ein Liniengitter sich wellt, leuchtet mir das auch ein, eine gefaltete Linie wird flächig, eine gefaltete Fläche wird 3-dimensional, gefalteter Raum wird zur Raumzeit – meinetwegen. Nur wie man einen Punkt falten soll, um eine erste Dimension zu bekommen, versteht mein armes 3D-Hirn nicht.
Draußen, auf der Straße, versuche ich, ein paar Blicke in die Wohnungen zu werfen, an deren Fenstern wir vorübergehen. Da – ein Zimmer mit einem Kronleuchter aus ganz viel funkelndem Kristall-Imitat und mit vielen pastellfarbigen Schmetterlingen an der Wand. Und da – ein ganz kahler Raum, in dem ein Mann still am Fenster sitzt.
Dass die Kunsträume eigentlich auch kleine Wohnungen sind, verleiht ihnen etwas äußerst Gemütliches. Fast überall gibt es eine Küche, steht Essen auf einem Tisch, sitzen Künstler mit ihren Freunden zusammen. Besonders klein ist der Raum, in dem die Performance „Licht trifft Klang“ gezeigt werden soll. Gerade hier ist es rappelvoll, der liebste Freund und ich flüchten nach draußen, bevor ich mich – macht es Euch doch bitte gemütlich, das dauert jetzt eine Weile, so lange stehen geht ja nicht – ganz hinten in der Ecke eingequetscht auf eine Decke niederlassen muss. Hinter uns gehen die Jalousien runter, ein paar enttäuschte Performance-Fans kommen zu spät und werden dann doch noch über den Hausflur eingelassen.
Weil wir nicht von außen zusehen können und auch nicht im Nieselregen abwarten wollen, bis Licht und Klang sich kennengelernt haben, schauen wir uns auf eigene Faust noch zwei Gruppenausstellungen an, die auf der heutigen Spaziergangsroute liegen.
Die erste, tief in einem finsteren Hinterhof, übersehen wir fast, weil die Räume so kahl sind und draußen nur „Prayer-Workshop“ dransteht (vorne an der Toreinfahrt war ja auch ein Schild der neuapostolischen Kirche, hätte ja sein können – ). Einer der Künstler hat Holzklötzchen schwarz-weiß angestrichen und dann ein Bild von ihnen gemalt, beides zusammen steht da nun. Ein anderer zeigt unter dem Titel „Horror vacui“ die Reservierungsbestätigung einer Pension für eine Buchung in 2025. Wieder ein anderer hat sich darauf spezialisiert, gedrechselte Holzstäbe in die Tüllen von Gießkannen oder die Öffnungen von Sonnenschirmständern zu stecken. Diese Ausstellung macht mich ratlos, besteht denn diese Art von Kunst vor allem darin, dass da ein Künstler sich selbst und seine Ideen so ernst nimmt, dass er es schafft, Ausstellungsmacher und -publikum davon zu überzeugen, dass sie tiefe Bedeutung besitzen? Beweisen meine Irritation – und mein Lachen beim Lesen der Buchungsbestätigung – dass die Künster Recht hatten, dass gelungen ist, was sie beabsichtigt haben?
Die letzte Ausstellung zeigt Kunstwerke von vier Frauen. Eine hat Nasen aus schwarzem Glas gemacht und sie zu hohen Stapeln aufgetürmt oder einzeln in Eierbecher drapiert; eine hat verschiedene Objekte in weiß und orange zusammengestellt; gegenüber hängen viele Fotos von einem Rasen, die nach rechts hin immer grüner werden (ist das eine optimistische Aussage, weil unsere kulturelle Lesrichtung von links nach recht verläuft?) – und im hinteren Raum zeigt ein Bildschirm das Bild einer riesigen Clivia.
In diese Ausstellung, sagt der liebste Freund, wäre ich gern gekommen, ohne zu wissen, dass diese Kunstwerke alle von Frauen sind. Ob ich es erraten hätte? In diese Ausstellung, sage ich, würde ich gern in einem (mal eben aus einer Raum-Zeit gefalteten) Paralleluniverum nochmal in der Überzeugung kommen, dass alle diese Kunstwerke von Männern stammen. Und dann vergleichen: Hätte ich sie anders interpretiert?
Mit Bildern, Gedanken und Fragen im Kopf machen wir uns auf den Weg in Richtung Straßenbahn. Vor uns laufen junge Menschen, die Jungs in hautengen Hosen und unförmigen Pelzmänteln, die Mädchen in hautengen Hosen und unförmigen Wolljacken und mit um den Kopf geflochtenen Haaren; ich möchte garnicht fünfzehn Jahre jünger sein, sage ich.
Wir steigen in die Bahn. Ich schließe die Augen und lehne meinen Kopf müde an die Schulter des liebsten Freundes. In dem einen Atelier fängt vielleicht gerade jetzt diese Balkan-Party an, laut und ausschweifend; in dem anderen ist vielleicht gerade jetzt die Klang-trifft-Licht-Performance zu Ende und die beeindruckten Zuschauer schnappen nach frischer Luft; überall hier im Wedding wachsen in den Köpfen von jungen Künstlern und Künstlerinnen gerade jetzt neue Ideen, still und unaufhaltsam wie Haare oder Fingernägel oder Bäume.
Und einige ihrer Kunstwerke könnten zu mir sprechen oder mich anrühren, mich irritieren oder zum Nachdenken bringen, beim nächsten Mal, irgendwann.