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Eine Woche

Montag.

Heute habe ich herausgefunden, dass unser Späti, der Hermespakete annimmt, kein Frühi mehr ist. Es muss am neuen Inhaber liegen. Herausgefunden habe ich es um halb acht, bei strömendem Regen, mit zwei großen Paketen vor mir auf den Armen.

Ich habe das Kleid, das ich mir gekauft habe, um es vielleicht zur Konfirmation des Vierzehnjährigen anzuziehen, über einer Feinstrumpfhose anprobiert. Es klebt grässlich an. Das Internet weiß, dass man in so einem Fall am besten die angezogene Feinstrumpfhose von außen mit Haarspray behandeln soll und das Kleid von innen. Alternativ kann man auch Handcreme verwenden (nur auf der Feinstrumpfhose), Wasser aus einer Sprühflasche (nur auf dem Kleid) oder ein Anti-Statik-Spray, das als Nebenwirkungen Schläfrigkeit und Benommenheit auslösen kann. Ich habe vermutlich noch eine extensive Testphase vor mir. Hoffentlich muss ich mir nicht noch ein Kleid kaufen.

Dienstag.

Die Frau, die mir heute Morgen in der S-Bahn gegenübersaß, fragte mich erst nach einem Tempotaschentusch und schminkte sich dann ungefähr fünf Stationen lang ausgiebig und in aller Ruhe. Ich war sehr fasziniert.

Der Vierzehnjährige hat heute Fieber bekommen und liegt schniefend und frierend unter mehreren Decken vergraben. Zum Glück habe ich jetzt vorsichtshalber immer mein Dienstlaptop dabei, ich werde also von zu Hause arbeiten können.

Mittwoch.

Heute habe ich den Ratschlag bekommen, meinem Vierzehnjährigen eine PlayStation zu kaufen, damit er leichter Freunde findet. Dafür würde ich vieles tun. Ein Konfirmationsgeschenk brauche ich auch noch. Trotzdem wird mir ganz schlechte bei der Vorstellung, riesige Kisten mit unverständlichen technischen Geräten auspacken und irgendwie zum Funktionieren bringen zu müssen; ich stelle mir Kabel vor, die sich wie bösartige Schlangen durch die Wohnung winden, unverständliche Bedienungsanweisungen, einen Riesenbildschirm, der blasiert auf mich herabglotzt – und habe noch nicht mal Lust, herauszufinden, ob irgendwo in meiner Wohnung eine Fernseh-Kabelempfangsdose versteckt ist.

Was mich tröstet, ist wie fast immer ein Buch. Ich fange Lily Bretts Kolumnensammlung „New York“ an zu lesen und freue mich sehr an ihren kleinen, feinen Beobachtungen.

Donnerstag.

Heute war der Vierzehnjährige beim BoysDay in einem Kindergarten. Weil sein Rucksack zu klein war für seine Wechselschuhe in Größe 41, habe ich ihm meinen ausgeliehen und dann aus Versehen mein Handy wie üblich in diesen Rucksack gesteckt. Auf dem Weg simste mein Sohn mir mehrfach, hatte aber keine Idee, warum es auf seinem Rücken immer wieder mal brummte.

Nach dem BoysDay sind wir schrecklich enttäuscht. Die Erzieherin, in deren Gruppe mein Sohn den Tag verbracht hat, wusste garnicht, was der BoysDay überhaupt ist. Vermutlich wusste sie noch nicht mal, dass der Vierzehnjährige an diesem Tag zu einem kleinen Praktikum kommt. Hätte er nicht eine schon vorausgefüllte Teilnahmebestätigung im Rucksack gehabt, hätte er keine bekommen, weil die Kita-Leiterin sich darum nicht gekümmert hatte. So geht Werbung für den Erzieherberuf jedenfalls nicht.

Freitag.

Heute habe ich den Tag begonnen, indem ich mit der Mitmutter vor der Arbeit einen Kaffee getrunken habe. Am Nachmittag habe ich auf dem Balkon Cosmeen und Tomaten vereinzelt, Zinnien und kleinblütige Studentenblumen. Beides war sehr, sehr schön.

Außerdem habe ich eine verstopfte Nase – vermutlich habe ich mich beim Vierzehnjährigen angesteckt. Trotzdem machen wir, was wir uns gestern vorgenommen haben: Der Zehnjährige, der Vierzehnjährige und ich bauen uns ein großes Bett auf dem Sofa, gucken noch ein bisschen Fernsehen auf dem Laptop, lesen noch ein paar Seiten und schlafen dann alle drei ein.

Wir lernen, wir lernen

Während Elfjährige lernt, wie man einen Kurzvortrag macht und sehr bald lernen wird, ob es eher cool oder eher uncool bei den Vorpubis in seiner Klasse ankommt, den Musik-Kurzvortrag (ja genau, den, für den ich ihm zu Weihnachten schon – zähneknirschend – eine CD von Crow geschenkt habe und zum Geburtstag – frohlockend – eine von Muse) über Dota Kehr zu halten und ein Hörbeispiel mit eher erwachsenem Witz zu wählen –

Und während ich mich an meinen alten Vorsatz erinnere, irgendwann mal flüssig Italienisch lesen lernen zu wollen und in der S-Bahn stirnrunzelnd, aber entschlossen die Nase in einen dtv-zweisprachig-Band stecke, den 15 Jahre in meinem Bücherregal weder sprachlich leichter noch inhaltlich spannender gemacht haben –

Währenddessen lernt der Siebenjährige lesen und soll das jeden Tag zu Hause zehn Minuten lang laut üben, woraufhin er jeweils eine Unterschrift bekommt und für fünf Unterschriften in der Schule eine Perle auf seine Leseraupe aufgefädelt wird und… eine vollgefädelte Leseraupe zu weiteren Belohnungen führt.
Also, führen könnte, wenn wir jemals sooo weit kommen.

Erstlesebücher sind nämlich oft schrecklich langweilig, vor allem die, denen man es anmerkt, dass da nicht etwa eine kleine, feine Geschichte in größerer Schrift gedruckt worden ist, sondern dass ein Format für Erstleser mit strengen Vorgaben an Satzlänge, Wortschwierigkeit und Zeichenzahl entwickelt und dann mit einer Auftragsschreibe wahlweise über Ritter, Monster, Buchstaben, Schule, Freundschaft, Drachen, die Feuerwehr – oder eine beliebige Kombination von drei bis sieben der genannten Motive – gefüllt wurde.

Die Fibel ist keine Alternative, die bleibt in der Schule, weil der Siebenjährige ja ein „Lernmittelfonds“-Kind ist (nie wieder…). Und das „Froschheft“, das er zum Lesenüben im Ranzen trägt, ist so abstoßend lieblos gemacht, dass ich damit keine zehn Minuten meines Nachmittages verbringen möchte.
Ich durchstöbere also als erstes die Bücherregale nach Lieblingsbüchern aus den letzten Jahren, bei denen die Schrift ausreichend groß ist. Zum Glück gibt es ein paar: Die Hasengeschichte „Schlaf gut, träum schön“ von Ingrid Uebe/Zora Davidovic mag der Siebenjährige, der seine vier Hasis noch immer heiß und innig liebt, besonders gern; mit der fangen wir an. „Augen zu, kleiner Tiger“ von Kate Banks und Georg Hallensleben lege ich noch bereit; Peter Hacks Quatschgedicht „Die Katze wäscht den Omnibus“, illustriert von Getrud Zucker, und natürlich Astrid Lindgrens „Pelle zieht aus“ und „Nils Karlsson Däumling“, die es irgendwie ins Erstleseformat geschafft haben.

Wir kuscheln uns also am Nachmittag gemeinsam in den Sessel, gucken – wegen der zehn Minuten – auf die Uhr, und ich stippe meinen Finger unter das Wort, bei dem wir am Vortag aufgehört haben.

Erstaunlicherweise ist der Buchstabe „e“ die größte Hürde für den Siebenjährigen. Sind es tatsächlich mehr als zwei verschiedene Laute, die sich hinter diesem kleinen unscheinbaren Kringel verbergen können („ie“ und „ei“ hat er verstanden, die zählen also nicht mit), oder kommt das nur meinem kleinen Sohn so vor?

Wort für Wort, Satz für Satz, eine Seite ungefähr in zehn Minuten; ich lobe ein bisschen und sage Halt, das Wort nochmal, das heißt anders! –
Und ich freue mich an den Fortschritten des Siebenjährigen und wundere mich, dass ich mich an diese Leselernphase des Elfjährigen kein bisschen erinnern kann. War ich damals so abgelenkt, so mit dem damals zweijährigen kleinen Bruder beschäftigt, so sehr dabei, mich im Getrenntleben und im Wechselmodell einzurichten? Oder hat der Elfjährige damals wirklich immer nur Schreiben geübt? Ich bin sicher, dass ich mehr als eine Einkaufsliste aufgehoben habe, die er mir damals verfasst hat, lautschriftliche Wiedergaben der Namen von allerlei Lebensmitteln in krummen Druckbuchstaben – ausschließlich für mich zu entziffern.
Hach, die Zeit dieser wunderschönen Schriftstücke kommt jetzt auch bald wieder.

Im Advent (9)

Meine allmorgendliche Lesezeit in der S-Bahn verbringe ich derzeit in einem amerikanischen Waldstückchen.

Der Naturwissenschaftler David G. Haskell hat ein Jahr lang ein kleines Wald-„Mandala“ immer wieder besucht und beobachtet, und sein Buch „Das verborgene Leben des Waldes“ versammelt seine Beobachtungen und die daran anschließenden Betrachtungen, die er als Essays z.B. über Flechten, Moose, Pilze, Vögel, Blumen, Bäume und Schneekristalle aufgeschrieben hat.

Auch wenn ich nicht jeden seiner Vergleiche mag, seine Begeisterung für die Verbindung zwischen allem Lebendigen durch Bakterien nicht wirklich teile – dass und wie er Naturbeschreibung, Wissenschaft und Poesie verbindet, gefällt mir. Und dass das genaue Hinsehen auf ein ganz winziges Stückchen Welt reicher und wunderbarer sein kann als eine Reise über alle Kontinente, leuchtet mir ganz unmittelbar ein.

Ich lese. Ich lerne. Ich staune. Egal, was mich sonst gerade beschäftigt – ich bin weit, weit weg vom Alltag.

So’n Tag eben

„Was machst Du eigentlich den ganzen Tag?“ – so fragt Frau Brüllen. Ja, was eigentlich?

Um 5.45 klingelt der Wecker. Ich schalte das Licht an und brauche ein paar Minuten, bis ich mich aufraffe und ins Bad gehe. Die Kinder schlafen noch, also habe ich Ruhe. Anziehen, Frühstücksdosen füllen, Frühstück machen. Meine Kinder haben sich beschwert, dass sie nie Süßigkeiten in ihren Brotdosen haben. Stimmt. Ich schnippele dafür leidenschaftlich Obst und Gemüse, weil ich finde, das trockene Stullen einfach nicht schmecken. Der Zehnjährige behauptet, dass er deswegen inzwischen in seiner Klasse den Spitznamen „Kaninchen“ trägt.

6.30 Uhr. Frühstück ist fast fertig, der Zehnjährige kommt aus seinem Zimmer geschlappt, umarmt mich kurz mit seinen langen, sperrigen Armen und schlappt wieder zurück, um sich zwischen seine Fußballkarten zu hocken und irgendein imaginäres Turnier auszutragen. Deutschlandfunk bringt die neuesten Nachrichten über die allgegenwärtige politische Ratlosigkeit angesichts der vielen, vielen Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen. Ich gehe zum Hochbett des Sechsjährigen, schaue einen kurzen Glücksmoment lang mein schlafendes kleines großes Kind an – so friedlich, so wunderbar – und kuschele es wach.

7.05 Uhr. Wir stehen vom Frühstücksstisch auf, die Kinder ziehen sich an, putzen Zähne und packen ihre Brotdosen und Trinkflaschen ein, damit wir gemeinsam und rechtzeitig losgehen können. So jedenfalls der Plan. In Wirklichkeit läuft der Zehnjährige um 7.25 Uhr mit einem Küchenmesser in der Hand die Treppe runter, um das Eis von seinem Fahrradsattel zu kratzen, während der Sechsjährige noch nicht mal richtig angezogen ist.

7.35 Uhr. Heute nacht war gar kein Frost, wie dumm, gerade heute hat der Sechsjährige endlich daran gedacht, sich eine lange Unterhose anzuziehen. Ich stecke das unbenutzte Küchenmesser in meine Handtasche, damit der Zehnjährige in der Schule keine Probleme bekommt, verabschiede mein großes Kind und gehe mit dem Sechsjährigen zur Schule.

8.08 Uhr. Ich bin pünktlich am S-Bahnhof, um die durchgehende Bahn zu kriegen. Prima. Ich hole mein Buch aus der Tasche, Jojo Moyes „Ein ganz neues Leben“; ein Auge liest, das andere hält nach einem freiwerdenden Sitzplatz Ausschau. Nach drei Stationen gibt es einen. Wunderbar.

8.40 Uhr. Büro. Gefühlte 75% meiner jährlichen Arbeit fallen zwischen Oktober und April an, gefühlte 15%  ausgerechnet in dieser Woche. Ich gehe panisch die 30 neuen Mails durch, die meinen Posteingang fluten, nicke viel zu zerstreut zu dem, was meine Büro-Kollegin von ihrem neuen Freund erzählt, die andere Kollegin hat ein krankes Kind, aber zum Glück auch eine Nanny, die einspringen kann, so dass sie zu Hause am Rechner sitzt und im Laufe des Tages eine Milliarde Powerpoint-Seiten erstellt, während ich mir die Finger blutig excele.

13.00 Uhr. Mittagspause. Mir klappern die Zähne vor Anstrengung. Spreche mit der Kollegin mit dem kranken Kind ab, wer von uns beiden am kommenden Freitagabend, Samstag und Sonntag wann arbeitet.

15.07 Uhr. Stehe am S-Bahnhof und hole mein Buch aus der Tasche. Es passt genau für so eine Stresswoche, nicht anspruchsvoll, mit einer Protagonistin, der es richtig, richtig schlecht geht und einem Mann, von dem man ziemlich schnell ahnt, dass er derjenige sein wird, der beim Happyend ihre Hand hält. 20 Minuten Eskapismus in der S-Bahn.

15.40 Uhr. Schnell in den Supermarkt. Brot; Walnüsse, die haben die Kinder sich gewünscht; Lieblings-Schokokekse und Lieblings-Mini-Schokoriegel. Habe mit meinen Kindern vereinbart, dass sie einmal in der Woche auch was Süßes in ihren Dosen haben dürfen.

15.55 Uhr. Der Sechsjährige kommt aus dem Klassenzimmer und umarmt mich. Schnell geht das bei ihm auch nachmittags nicht mit dem Anziehen. Auf dem Schulhof gebe ich meinen Schlüsselbund dem Zehnjährigen, damit der mit dem Rad schon vorfahren kann; dann ziehe ich den erschöpften Sechsjährigen an meiner Hand hinter mir her nach Hause, ein paar Straßen weit plauschend neben einer Mit-Mama und die ganze Zeit unter diesem leuchtend blaugrauen Novemberhimmel, der so garnicht zu der müden herbstbraunen Stadt passt, sondern aus einer ganz anderen Welt ausgeschnitten und mit dieser hier zu einer Collage zusammengeklebt worden zu sein scheint.

16.40 Uhr. Ich fülle die Trinkflaschen neu, packe das Sportzeug ein, versuche Zahnarzttermine für uns alle zu vereinbaren, verabrede den Sechsjährigen für Freitagnachmittag mit dem Sohn der Freundin des Vaters meiner Kinder zum Spielen, verabrede mit dem Vater meiner Kinder, dass er am Samstagnachmittag die Kinder nimmt, damit ich arbeiten kann, trage den Plätzchenbacktermin mit unserer ehemaligen Nachbarin in den Kalender ein, bringe den Zehnjährigen dazu, seine Schularbeiten zu erledigen, wickle einen Strang Wolle zu einem Knäuel und trinke einen Kaffee.

17.25 Uhr. Wir sitzen im Bus zum Sportverein. Sehnsüchtig gucke ich aus dem Busfenster zur Schwimmhalle. In die Sauna möchte ich mal wieder, oh, wär das schön. Gehe im Kopf die nächste Woche durch. Dienstag vielleicht?

18.00 Uhr. Die Jungs turnen. Ich setze mich ins „Casino“ der Turnhalle und hole mein Strickzeug raus.

18.25 Uhr. Ich scheitere komplett an der Strickschrift für ein Lochmuster. Allein die Frage, ob es von links oben nach rechts unten oder von rechts unten nach links oben zu stricken ist, eröffnet zu viele Möglichkeiten, etwas falsch zu machen. Um die wartenden Kinderturneltern herum wird der triste Turnhallenaufenthaltsraum für eine Hochzeit geschmückt, es ist ein komisches Gefühl, in anderer Leute Hochzeitsvorbereitungen zu geraten. Ich versende ein paar Hilfe-ich-bin-so-allein-sms; Antworten summen ins Handy. Der liebste Freund ist auf dem Weg zur Lesebühne; die Besuchsfreundin konnte heute ihr Haus nicht verlassen, weil jemand das Schloss so sehr kaputtgemacht hatte, dass es von innen nicht mehr zu öffnen war. Abenteuer überall.

19.30 Uhr. Meine Söhne ziehen sich um, wir gehen zum Bus. Auf der Heimfahrt gucken sie hinten aus dem Busfenster und addieren blitzschnell die Ziffern aller Autokennzeichen, die sie sehen. Der Sechsjährige kommt auf eine Zahl weit über Tausend, bevor wir zu Hause sind.

20.15 Uhr. Wir essen zu Abend. Der Zehnjährige und der Sechsjährige leeren die ganze Tüte Walnüsse und versuchen – inspiriert von der Sendung mit der Maus – Walnussöl aus den Stückchen zu pressen. Der Sechsjährige macht ein großes Gezeter, weil er beim Tischabräumen mit seinem Bruder den Brotteller der Tischhälfte findet, für die er zuständig ist. Brot wegzuräumen findet er einfach zu mühsam, wegen der Tüte. Ich wasche ab und hätte furchtbar gern ein zweites Paar Arme und Hände, um mir die Ohren zuzuhalten.

20.35 Uhr. Der Sechsjährige liegt im Bett, wir versöhnen uns. Ich war aber auch eine ganz schöne Nörgel- und Schimpfmama eben, sage ich, um mich zu entschuldigen; und ich, sagt der Sechsjährige, war ein ganz schönes Nörgel- und Schimpfkind. Wir sind halt verwandt, sage ich – und wir kichern und umarmen uns und vergessen den Streit.

20.55 Uhr. Der Zehnjährige liegt im Bett und wir reimen Unsinn, eine wilde Ballade mit Made, schade, Gnade, Marmelade – der Zehnjährige steuert noch Brigade und Barrikade bei, gerade fällt uns noch ein und, ach ja: malade. Endlich erzählt er ein bisschen von der Schule, also bleibe ich einen Moment bei ihm stehen, obwohl es so spät ist. Bleib hier, Mama, sagt mein großer Sohn, schlaf doch hier! – Morgen, nehmen wir uns ganz fest vor, legen wir die Matratze des Sechsjährigen mit dem Hausstaubmilbenbezug vor die große Kuschelmatratze im Zimmer des Zehnjährigen und schlafen alle drei nebeneinander, das haben wir schon viel zu lange nicht mehr gemacht. Na hoffentlich muss ich morgen abend nicht mehr zu lange arbeiten, denke ich… aber irgendwie wird das schon gehen.

21.15 Uhr. Schmutzige Wäsche, volle Mülleimer, ungeöffnete Post ignorieren. Schnell Haare waschen. Ins Bett kuscheln, Rechner an. Gebloggt habe ich auch schon viel zu lange nicht mehr.

Fundstücke

Eine kleine Wochenendreise, Freitag auf Samstag. Auf der Hinreise etwas Wartezeit am Bahnhof; auf der Rückreise ein verpasster Anschluss – und natürlich zieht es mich in die Buchhandlungen, obwohl ich ein Buch im Gepäck habe: Fredrik Sjöbergs „Die Fliegenfalle“, das mir bei einem anderen Bummel ein paar Monate vorher in die Hände gefallen ist.

Ich schlendere durch die Bahnhofsbuchhandlung am Berliner Südkreuz und stelle einmal mehr fest, dass ich die Art mag, in der diese neuen Zeitschriften – „Flow“ und „Happinez“, leichtverdauliche Wohlfühlversprechen, Bastelanleitungen und Binsenweisheiten – und die Frauenbüchercover neuerdings illustriert sind. Das neue Buch von Jojo Moyes ist noch nicht ausgeliefert, und ich weiß auch noch nicht, ob ich eine Fortsetzung von „Ein ganzes halbes Jahr“ lesen will; ich glaube nicht richtig, dass die Autorin nochmal ein Buch schreiben wird, das an ihren Erstling heranreicht. Aber ich bin auch garnicht auf der Suche nach romantischer Liebe zwischen Buchdeckeln. Da drüben stehen die All-Age-Vampire, dort liegt ein Tisch voller Regionalkrimis, die mag ich auch nicht. Meinen Glücksmoment habe ich, als ich Rebeca Solnits „Wenn Männer mir die Welt erklären“ entdecke, als ich gerade die Anzahl der Frauen- und Männernamen auf den philosophischen „Anregungen für 2016“ prüfe; da liegt es! Einfach so!, gleich neben „Darm mit Charm“ – die Buchhandlung steigt irgendwo in meiner inneren Rangliste ein paar Punkte auf. Und dann gehe ich doch mit einem älteren Band Terry Pratchett zur Kasse (nur um im Zug festzustellen, dass ich seine Bücher nicht mehr so gern mag wie früher) – und mit einer Auswahl aus einer neuen Serie Spruchpostkarten. „Ich bin froh, dass ich mein Essen nicht selber jagen muss. Ich wüsste nicht mal, wo Pizzen leben“, und „Da will man mal in Ruhe das ganze Haus putzen und was passiert? Man hat keine Lust“, und „Ich kam, sah, und vergaß, was ich vorhatte“. Postkarten machen einfach glücklich.

Auf der Rückreise – Terry Pratchett in der „Erfurter Bahn“ gelassen, in deren Schienenbussen neuerdings kleine Tauschbuchregale integriert sind (dieses hier enthielt „Störtebecker“ und einen Band Maupassant in alten DDR-Leinenausgaben, und möglicherweise gab es Reisende, die meine Zugabe eine Bereicherung nennen würden) – strande ich in Leipzig und stöbere eine ganze Weile in der stattlichen Ludwig-Buchhandlung herum. Rebeca Solnit gibt es hier nicht, es ist einfach keine Kategorie vorgesehen, in der sie untergebracht werden könnte. Politik? Ethik? Nirgendwo. Oder richtig, richtig gut versteckt. Ganz zu schweigen von Laurie Pennies „Unsagbare Dinge“, in das ich gern einen Blick werfen würde, seit ich gesehen habe, wie das Buch auf Amazon die Leute polarisiert. Stattdessen nehme ich Rachel Macy Staffords „Der Tag, an dem ich aufhörte, beeil dich zu sagen“ zur Hand. Eine Mutter, die die Augenblicke mit ihren Kindern genießen möchte, statt ihren To-Do-Listen hinterherzuhetzen. So weit, so gut – ich erwarte irgendwie, auf einer der ersten Seiten zu lesen, wie sie ihren Beruf aufgibt, um hinzukriegen, was sie sich da so hehr vornimmt, aber dann scheint es doch darauf hinauszulaufen, dann und wann Laptop, Smartfon und Telefon beiseitezulassen. Und als sie sich dazu einmal entschieden hatte, schreibt die Autorin, fing sie gleich an, über ihre Erfahrungen mit diesem Selbstversuch zu bloggen und richtete eine Facebookseite dazu ein. Ach so. Ich lege das Buch wieder beiseite. An der Kasse blättere ich noch ein Weilchen in den vielen Ausmalbüchern für Erwachsene – Zen und Entspannung und Selbstzentrierung und was sie nicht alles versprechen, ein Verkaufsrenner, obwohl ich mir nicht wirklich vorstellen kann, dass irgendjemand die winzig kleinen Flächen der filigranen Muster wirklich ausmalt. Wer hat denn Zeit für sowas?

Dann gehe ich. „Die Fliegenfalle“ lese ich im Zug nach Berlin aus. Ein schönes, unterhaltsames Buch über das Leben und die Schwebfliegen auf einer kleinen schwedischen Insel, die Selbstbeschränkung und diverse Insektenforscher jener goldenen Zeit, in der die Welt noch voller weißer Flecken war, aber bereits die Möglichkeiten bot, diese zu erforschen. Beides – die Wissenschaftler dieser Zeit und das Thema Entomologie – begegnet mir nicht zum ersten Mal in essayistischer Literatur. Beides hat diesen Glanz eines Lebens ohne Handys, Ausmalmandalas, To-Do-Listen und banaler Zugverspätungen; diesen Glanz von Forschung, der unendllich viel Optimismus und Neugier zu Grunde liegt; verwegene Abenteuerlust im Falle der Reisenden und verschrobene Geduld im Falle der zu Hause keschernden Forscher und bei beiden das Streben nach dem Ruhm, eine neue Spezies – sei es eine Pflanze in einem unerforschten Land, sei es eine neue Schwebfliegenart vor der eigenen Haustier – zu entdecken.

Lächelnd – diesen Glanz noch ein wenig in den Augen – packe ich mein Buch ein. Wir kommen in Berlin an. Ab nach Hause.

Träume, Fäden, Schritte

Wenn ich 40 werde – so mein langgehegter Traum – möchte ich eine größere Auszeit nehmen und den Jakobsweg laufen. (Und dabei, so die geheime Absicht, endlich das Leben verstehen, meine Berufung finden und den Mut, allesalles ganz anders zu machen).

Ich muss dieses Projekt teilen, wurde mir irgendwann klar, ich möchte nicht sechs Wochen lang meine Kinder nicht sehen. Also nicht einmal sechs, sondern zweimal drei Wochen. Warte nicht so lange, geh das doch schon eher an, hat ein Freund vor einem Jahr geraten, und so kam es, dass ich mir Wanderschuhe gekauft und meinen Chef angesprochen habe. Weil aber ein größeres Arbeitsprojekt ansteht, wurden aus den gewünschten vier freien Wochen irgendwann eine, aus dem Jakobsweg in Portugal erst der von München an den Bodensee und nun schließlich der sächsische. Ein Hans-im-Glück-Pilgerprojekt, das sich mehrfach in etwas anderes verwandelte und kleiner und kleiner wurde, bis es nun endlich vor der Tür steht.

Hinter der Tür, in meiner Wohnung, steht der gepackte Rucksack. Ich habe keine Waage, aber er ist bestimmt schwerer als die empfohlenen 10% meines Körpergewichtes. Aber er enthält nur Unverzichtbares (glaube ich, weil meine Schultern ja noch nicht wehtun), den Schlafsack, das kleinste Duschgelpröbchen, viel zu wenig Kleidung, die Wanderkarte, den Reiseführer, ein paar Müsliriegel, Blasenpflaster und Allergietabletten. Und ein Buch.

Mein Pilgerbuch ist „A Field Guide To Getting Lost“ von Rebecca Solnit. Dass ich dieses Buch entdeckt habe und nun mitnehmen kann, verdanke ich meinem neuerworbenen Smartphone, das ich dabeihatte, als ich traurig auf der Rückfahrt von einem Wochenende mit dem liebsten Freund war und in der S-Bahn, weil ich niemanden ansehen wollte, die Word-Press-App ausprobierte, die so eingestellt war, dass ich zuerst die unter der Rubrik „freshly pressed“ empfohlenen Artikel zu lesen bekam. In einem von denen berichtete eine Frau davon, dass sie gerade dieses Buch las – und von einer Wanderung mit ihren Kindern durch den Schnee (Wo kam diese Bloggerin her? Wo liegt gerade Schnee? Ich weißt es nicht.), zu der die Lektüre des Buches sie angeregt hatte.

Eine Anleitung zum Verlaufen und Verlorengehen. Das gefällt mir. Inzwischen habe ich Rebecca Solnits „The Faraway Nearby“ gelesen, eines der wunderbarsten Bücher über das Geschichtenerzählen (und über Empathie, Aprikosen, die Arktis, Labyrinthe, Motten, Kunst, Zufälle, Identität, die Alzheimererkrankung ihrer Mutter und noch ein, zwei Dutzend andere Themen); und „Wanderlust“, ihre Kulturgeschichte des Wanderns, liegt für die Wochen nach der Pilgerreise als Lektüre bereit. Ich habe eine neue Lieblingsschriftstellerin.

Geschichten vergleicht Rebecca Solnit mit Fäden – und wie letztere auf Spulen oder zu Knäulen gewickelt werden, können Geschichten Zeile um Zeile in Büchern zusammengefaltet werden (um sich in der Vorstellung des Lesers wiederum zu entfalten) – wobei sie auch Labyrinthen ähneln, die, schreibt die wunderbare Essayistin, eigentlich nichts anderes als klein zusammengefaltete Wege sind. Ich mag ihre Vergleiche.

Auf den langen Faden, zu dem wir unsere Schritte auf der Pilgerreise aneinanderreihen werden; auf die Geschichten, die wir erleben, wenn wir tatsächlich tun, was ich mir schon so lange vorstelle: losgehen mit den paar Kleinigkeiten auf dem Rücken, mit dem man auskommen kann; den Weg, der auf der Karte zu sehen ist, Schritt für Schritt in Wirklichkeit erleben, offen für das, was uns unterwegs begegnet, offen für das Unerwartete und auch das Anstrengende, den Regen und die schmerzenden Füße und die Möglichkeit des Verlorengehens und mit der Hoffnung, das Alltagsleben möge aus der Ferne ein klein wenig unvertraut werden und deshalb hinterher ein wenig anders, ein wenig neuer sein – darauf freue ich mich jetzt.

Meine ganz große Schwester denkt darüber nach, ein Buch über das Ankommen (bei sich, in der Stille des Herzens) mitzunehmen.

Wir werden uns wunderbar ergänzen.

Gesehen, gelesen, gehört… im Februar und im März und im April und bis in den Mai…

Eigentlich ein Nachtrag zum Februar: Der Film „Wild Tales“. Sechs Episoden, in denen Menschen total ausrasten, Rache nehmen, sich von ihrem Zorn davonreißen lassen. Warum haben alle, die diesen einen Flug geschenkt bekommen haben, einen gemeinsamen Bekannten? Warum ist eine Reifenpanne im Nirgendwo schrecklich, wenn man vorher beim Überholen den Fahrer des langsamen Autos beleidigt hat? Warum sollte man einem Sprengstoffexperten besser nicht unrechtmäßig das Auto abschleppen? Und warum, warum nur hat der Bräutigam seine Kollegin – die, mit der er mal eine Affaire hatte – zu seiner Hochzeit eingeladen? Spannende Fragen. Beantwortet in ziemlich wilden, spannenden Geschichten.

Madelaine Bourdouxhes Roman „Auf der Suche nach Marie“ wurde 1943 zum ersten Mal veröffentlicht. Wie ungewöhnlich ihre Figur der Marie – einer Frau voller Lebendigkeit und Sehnsucht, die, auf der Suche nach sich selbst, neben ihrer Ehe eine Affaire beginnt und daran wächst, stärker und lebendiger wird – damals war, kann ich nur schwer beurteilen. Zwischen den Frauensfiguren, die die Buchläden heute bevölkern, fällt sie jedenfalls angenehm auf. Schön, dass das kleine Büchlein vor etlichen Jahren wieder aufgelegt wurde.

Was wäre ein Haushalt, in dem kleine Jungs leben, ohne Wissensbücher und Wissensfilme? „Wissen vor acht“ ist eigentlich gar keine Sendung speziell für Kinder – und an mir bisher völlig vorbeigegangen. Bis die DVDs zur Sendung auf den Geburtstagstischen meiner Söhne aufschlugen. Im Drei-Minuten-Takt werden auf der DVD kleine Fragen beantwortet, zum Beispiel die, warum in aller Welt schlafende Vögel nicht vom Ast fallen. Nein, das wussten wir alle noch nicht. Und es sind sogar noch mehr Fragen dabei, die die Sendung mit der Maus noch nicht beantwortet hatte.

Für die Seele lesen wir Ottfried Preusslers „Das kleine Gepenst“ vor, beim Inhalieren mit Mucosolvan und Adrenalin. Das nette kleine Spukwesen mögen wir alle drei lieber als die kleine Hexe und den kleinen Wassermann. Und den Uhu Schuhu so gerne, dass wir auf dem Schulweg einen ganzen langen U-Satz für ihn basteln: „Du, Uhu Schuhu, flugst Du rund um den Ulmenturm und ruhst Du nun Stunde um Stunde unter der lustigen Turmuhr?“

Dass Peter Bieri der wirkliche Name des Romanautors Pascal Mercier ist, habe ich erst herausgefunden, als ich mehr über den Autor des Buches „Eine Art zu leben. Über die Vielfalt menschlicher Würde“ erfahren wollte. Lange – und mit Unterbrechungen – habe ich immer wieder an der klugen, anspruchsvollen, aber gut verständlichen Abhandlung weitergelesen, in der der Autor das Phänomen der „Würde“ von möglichst vielen Seiten betrachtet und als Möglichkeit beschreibt, „unser stets gefährdetes Leben selbstbewusst zu bestehen“. Auch wenn ich glaube, dass eine Frau die eine oder andere Erfahrung von Würde – oder Würdeverlust – anders gewichtet oder zusätzlich berücksichtigt hätte (ja, doch), ist das Buch eine bereichernde und sehr anregende Lektüre.

Kreuz und quer durcheinander, was es in den letzten Monaten noch so gab:

Filme. „Still Alice“, ganz beeindruckend und an die eigenen Ängste rührend. Und „Hedi Schneider steckt fest“ – sehenswert schon allein wegen der Szene, in der die angsterkrankte Frau ihrem Mann vorschlägt, sie könnten doch einen Tag glücklich sein. Und dann sofort wieder unglücklich. Dann, sagt sie, nehmen wir uns nicht so viel vor.

Und Bücher: Marina Keegans „Das Gegenteil von Einsamkeit“ (ja, lesenswert!). Noëlle Châtelets „Die Klatschmohnfrau“ (schöne kleine Lektüre über einen Neuanfang im Alter). „Geht alles garnicht“ von Marc Brost und Heinrich Wefing (Stimmt, geht alles garnicht. Arbeit und Kinder und dann noch etwa ein Hobby wie Schreiben haben zu wollen und dann noch Freunde haben zu wollen. Oder davon zu träumen, sich dann doch noch mal irgendwo zu engagieren oder neue Freunde im Kiez zu finden, weil die alten alle verzogen sind. Geht alles garnicht. – Deshalb hänge ich ja gerade so durch. Drüber lesen macht aber auch nicht froher.). Judith Schalansky: „Blau steht dir nicht“ (Kleines, anspruchsvolles Büchlein. Spannend. Wiedererkennungseffekte bei den DDR-Kindheitserinnerungen.) Und Damon Galguts „In a Strange Room“ (Reisegeschichten, von ganz weit her, ganz anders).

Frühling

Die Silhouetten der kahlen Bäume verändern sich. Ein ganzes endloses Meeting lang schaue ich aus einem Fenster; hinten rauscht der Verkehr auf der Autobahn vorbei; vorne schaukeln die Platanenfrüchte vom letzten Jahr an den Zweigen, an denen neue, dicke Knospen sitzen.

In der Mittagspause blinzele ich auf einer Bank in die Sonne, verbrenne mir den Gaumen am heißen Kaffee und schmiede Ausflugspläne.

Zu Hause geht mir beim Anstreichen der verwitterten Balkondielen die Holzschutzlasur aus; als ich neue besorgt habe, ist es zum Weiterarbeiten wieder zu kalt. Gegenüber von meinem Bett richten sich Stapel aus leeren Blumentöpfen und Kisten mit alter Erde auf längeren Aufenthalt ein. Im Flur steht ein schweres Paket mit Humus der Firma „Superworm“, das mir die neuen Nachbarn, die es netterweise entgegengenommen haben, mit spitzen Fingern ausgehändigt haben.

Auch im Wohnzimmer beginnt ein Stapel zu wachsen – Dinge, die ich auf meine kleine, kleine Pilgerreise – aus den gewünschten drei Wochen ist eine geworden, aus der geplanten Wanderschaft in Portugal eine vor der Haustür; nicht so schlimm, der Jakobsweg ist ja eigentlich überall – mitnehmen werde. Ein brandneuer Wanderrucksack steht da, schaukelt erwartungsvoll mit allerlei Schnallen und Riemen und belächelt hochmütig meinen uralten Schlafsack, der fast 30 Liter von den 38, die der Rucksack fassen kann, ausfüllen wird. Neben den Pilgerausweisen die Tüten, in denen ich meine Füße vor der Nässe verregneter Tage schützen will. Pilgerausweise, eine Wanderkarte. Der rechte Wanderschuh kommt vom Weiten zurück, vielleicht macht er mir beim nächsten Probewandern ja endlich keine Blasen mehr.

Mit dem Zehnjährigen klicke ich mich am Abend durch Hörbeispiele zu Gembri, Kürbisgeige, Sitar, Steeldrum und allerlei anderen Instrumenten aus der weiten Welt, die er für seinen Musiktest kennen muss. „Yesterday“, gespielt von einem Balalaika-Orchester, oh, diese Melodie musst du kennen, das hören wir noch schnell, dann ist Schluss, viel zu spät.

Der Sechsjährige beginnt seinen Schwimmkurs, der Trainer im Neoprenanzug sieht aus wie Superman persönlich, die Kinder haben Spaß. Als wir hinterher nach Hause kommen, hat der Zehnjährige schon Abendessen gemacht, sogar mit dem völlig falschen Messer Scheiben und Stücke vom Brot abgeschnitten. Mir wird nachträglich flau im Magen, und ich schärfe ihm ein, wo die Heftpflaster liegen und bei wem er klingeln soll, falls er sich mal richtig schlimm schneidet.

Nach dem Essen gucken wir eine der neuen Folgen von „Rennschwein Rudi Rüssel“. Noch eine, bettelt der Sechsjährige, bittebitte! Hinterher lasse ich mich ohne Meckern duschen, versprochen!

Morgens ist es schon hell, wenn ich aufstehe. Ich stelle meinen Lieblingsradiosender ein und schneide Apelspalten für die Frühstücksdosen der Kinder. Später, in der S-Bahn, ziehe ich „Geht alles garnicht“ aus der Tasche, ein Buch, untertitelt mit „Warum wir Liebe, Karriere und Kinder nicht vereinbaren können“, in dem zwei Journalisten vom Alltag überforderter Väter berichten.

Oft, sooo oft bin ich genau so gestresst, müde und erschöpft, wie die beiden es beschreiben. Aber gerade heute, an diesem Tag mit blauem Frühlingshimmel, ist mein Leben gut – so wie es ist.

(Jedenfalls, bis am Nachmittag auf meiner S-Bahn-Linie ein Polizeieinsatz stattfindet und ich verspätet zur Kita komme, bei der ausgerechnet heute der Zehnjährige schon wartet. Jedenfalls bis ich mein Versprechen einlöse, den Kindern Nudeln zu kochen, und aus dem einen oder anderen Grund nach dem Abendessen der Abwasch stehenbleibt. Jedenfalls, bis ich nach zehn am Abend endlich dazu komme, die Schwimmtasche für morgen zu packen und das Sportzeug des Zehnjährigen durchzusehen und den Freunden hinterherzutelefonieren, mit denen wir am Wochenende verabredet sind, so halb. Jedenfalls, bis ich den Elternbrief lese, in dem die Schule Eltern, die beim Frühjahrsputz (Freitag ab 13 Uhr) nicht mitmachen, Desinteresse an der schulischen Laufbahn ihrer Kinder unterstellt. Samstag wird in der Schule auch noch gemalert oder alternativ in der Kita der Garten gestaltet, man bittet um rege Teilnahme. Und schon schlägt alles über mir zusammen. Noch schnell bloggen oder ein paar Pullis fürs Büro bügeln? Noch mit der Besuchsfreundin telefonieren oder endlich mal eine Mail beantworten? Rechtzeitig schlafengehen oder noch die Blumen gießen? Am Wochenende Freunde vernachlässigen oder wieder nicht zum Ausruhen kommen? – Doch, ich verstehe die überforderten Väter, ich habe ihr Buch nicht ohne Grund in der Tasche. Zeit. Ich hätte gerne sooo viel mehr Zeit.)

Donnerstagsmelancholie

Von der Supermarktkassenschlange aus kann man durch den Eingang raus auf den begrünten Platz schauen. Dort taucht die Sonne ein paar großwüchsige Koniferen in derart goldenes Abendlicht, dass ihr Grün wie Herbstlaub aufleuchtet und ein paar Oktoberminuten in den März zaubert.

Trübselig hängt zu Hause mein Bademantel rum, in dem ich gestern im Liquidrom vom Liegestuhl aus (ah, dieser herrliche Moment, in dem der Liegestuhl nach hinten klappt und der Kreislauf nach Saunagang und Tauchbecken verrückt spielt und das Schwindelgefühl so schön wie Schweben ist -) Leute beobachtet habe. Paare mit Kaffeesatzpeeling im Gesicht wie halbgesäuberte Schornsteinfeger; junge fremdsprachige Berlin-Touristen, deren englische Gespräche dann doch nicht so leicht zu verstehen waren; eine vielleicht finnische Mutter, die ganz unaufgeregt mit ihrem kleinen aquabewindelten Kind im dampfend warmen Außenbecken planschte – und die Reinigungskraft, die mitten in der „urbanen Badekultur“ mit ihrer grünen, deutlich ruralen Gießkanne Kaffeesatzschlieren von den dunkelgrauen Steinböden spülte.

In der S-Bahn lese ich von den „Kriegskindern“ des zweiten Weltkrieges (Yury und Sonja Winterberg: „Erinnerungen einer Generation“) und schaue mit einem dicken Kloß im Hals auf. Das war hier, genau hier. Und es ist noch nicht mal so lange her. Wie irre gut es uns geht! Mir. Meinen Kindern, die nicht ausgebombt werden und deren Vater nicht in den Krieg ziehen muss und deren Gedanken um die kleinen, superduper-angesagten Supermarktkassensammelfigürchen (eins gratis pro 15 Euro Einkaufswert) kreisen dürfen und nicht um Hunger und Tod.

Und Terry Pratchett ist gestorben.
Wenn es einen Himmel gibt, dann soll er bitte vom Chorgesang befreit werden und ein Schreibzimmer kriegen.

Gesehen, gelesen, gehört… im Februar

Der Februar beginnt mit Kunst: Ich mag das, wenn Cafés ihre Wände Künstlern zur Verfügung stellen und wechselnde kleine Ausstellungen veranstalten. Zum Beispiel Café Behring in Treptow, in dem gerade Acrylbilder von Martin Künkler zu sehen sind. Leuchtende Bilder, mal ganz abstrakt, mal gegenständlich, die weder sich selbst noch den Betrachter auf eine Deutung festlegen, sondern die Gedanken – über Kaffee und Frühstücksbrötchen – zum Fliegen einladen.

Nochmal Kino: „Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach“. Mit schrägen, sonderbaren Filmen habe ich viele Erfahrungen. Ein ganzes halbes Jahr lang saß ich vor langer Zeit mit der Patentante des Neun- äh… Zehnjährigen wöchentlich in der Spätvorstellung, die in der kleinen Stadt die einzige Möglichkeit war, kleine, sonderbare europäische Filme anzusehen. Dieser hier ist aber nur am Anfang spannend. Die blassen Bilder, vor denen die Kamera jeweils für eine ganze Szene still verharrt. Die Hintergründe, die zu betrachten sich immer lohnt, weil dort noch eine weitere, eine Hintergrundgeschichte, spielt. Dieser Satz, den immer wieder Leute am Telefon sagen: „Ich freue mich, zu hören, dass es Euch gutgeht“. Aber dann fährt der Film sich fest, da kommt nichts mehr, nur immer beklemmendere und verstörende Bilder, Krieg, Kolonialismus, Tierversuche, Tod – und jede Menge einsame Männer. Das alles mag „wahr“ sein, und wäre es die ganze Wahrheit über das Leben und die Menschen – wie der Film behauptet – bliebe einem nur noch, sich umzubringen. Aber so ist es nicht, ich weiß es.

Aus dem Bücherstapel, den ich beim Bücherkistenpacken für den Umzug meiner Besuchsfreundin beiseitegeschafft habe, ziehe ich Banana Yoshimotos „Amrita“.Wie schon vor vielen Jahren, als ich „Kitchen“ gelesen habe (das Buch steht seitdem in dem besonderen Regalfach bei den Büchern, die mich schwer beeindruckt haben), fasziniert mich wieder, wie die Autorin ihre Geschichte von den Gefühlen ihrer Hauptperson aus erzählt – das, was geschieht und diese Gefühle auslöst, wird eher nebenbei erwähnt oder ist zum Erzählzeitpunkt sowieso schon passiert – und mich damit ganz nah an ihre Geschichte heranholt. Ich mag die Frauen in Banana Yoshimotos Büchern, junge Großstädterinnen, die die großen Lebensfragen immer mit sich herumtragen. Und manchmal hätte ich beim Lesen gern eine Übersetzerin an der Seite, die mir ihre Emotionen deutet, wo ich sie ungewöhnlich oder widersprüchlich finde, wo sich die „Gefühlskonventionen“ in der japanischen Kultur vielleicht von unseren westlichen unterscheiden.

Ein schöner Kontrast dazu ist „Wenn ich eine Frau wäre“ von Sarah Bosetti. Viele kleine Geschichten – von denen etliche auch einzeln funktionieren und von ihr auf der einen oder anderen Lesebühne gelesen werden – reihen sich zu einer unglaublich komischen, klugen, traurigen, bösen Geschichte über ein Großstadtpaar mit chronischem Geldmangel aneinander. Das einzige, was noch schöner ist, als dieses Buch zu lesen, ist, Sarah Bosetti selbst lesen zu hören. Noch so ein Buch! Bitte!

Und meine neueste nette Musikentdeckung stammt (um den Kreis zu schließen) von dem von Sarah Bosetti moderierten „Peace, Love & Poetry“-Slam. Byebye ist ein Duo mit einem mir sehr sympathischen restsächsischen Akzent, schönen Texten und angenehmem Gitarrengeschrabbel. Schön!

Ich fülle literarische Wissenslücken, lese Wilhelm Genazinos „Die Kassiererinnen“ (auf der Innenklappe als „Genazinos beschwingtestes, heiterstes, humorvollstes Buch“ bezeichnet, was mich davor zurückschrecken lässt, gleich mehr von ihm lesen zu wollen) und Jakob Arjounis „Idioten. Fünf Märchen.“ An dem gefällt mir das Setting – dass zu den fünf Personen in seinen Geschichten jeweils eine gute Fee kommt, die dem- oder derjenigen einen Wunsch erfüllt (Geld im Wert von mehr als einer Spülmaschine, Liebe, Gesundheit und Unsterblichkeit ausgeschlossen). Wie zu erwarten, geht das mit dem Wünschen in den meisten Geschichten schief. Davon könnte wohl jeder seine eigenen Märchen dazuspinnen.