Schlagwort-Archive: Erschöpfung

Tagesnotizen: 20.4.17

Die Schädlingsbekämpfungsfirma hat offensichtlich endlich einen Schlüssel zu dem Keller erhalten, in dem die Sanitärfirma neulich nach meinem Anruf bei der Hausverwaltung eine tote Ratte entdeckt hat. Dieser hatten wir anscheinend den schrecklichen Kloakengestank zu verdanken, der über Ostern im Treppenhaus hing. Jetzt ist die Luft wieder rein. Dankbares Aufatmen!

Die Balkonblumen haben die Frostnacht überlebt, alle. Der Zwölfjährige hilft mir am Morgen, die Kübel und Kästen wieder nach draußen zu bugsieren. Ich begleite die Kinder nur noch den halben Weg zur Schule – an dem ungesicherten Kanalufer unter der Brücke vorbei, weil es da gefährlich ist; und bis zur nächsten Straße, weil ich es so gern mag, am Morgen mit den beiden ein Stück zu laufen und dabei zu plaudern – und bin deshalb morgens wieder häufiger pünktlich im Büro.

Nachmittagsprogramm: Die Heimfahrt unterbrechen, um im Copyshop ein Foto für ein Schulprojekt des Zwölfjährigen zu kopieren. Im Stechschritt und mit nur noch fünf Euro im Portemonaie zum Geldautomaten, der ist aber leider defekt. Mit den Kindern in der Drogerie mehr Fotos fürs Schulprojekt drucken. Nach Hause, kurz Pflichten besprechen, mit dem Achtjährigen Keyboard üben und mit ihm zum Einkaufen fürs Wochenende, damit der Zwölfjährige ohne Ablenkung arbeiten kann. Lebensmittel nach Hause schleppen, auspacken. Abendessen machen. Essen. Hinterher kuscheln wir uns ein halbes Stündchen vors Laptop und sehen fern. Schnell Wäsche aufhängen, den Achtjährigen ins Bett. Tickets fürs Barberini-Museum am Samstag kaufen – aber nein: die gibt es nur noch für 18 Uhr, damit fällt unser Wochenendplan ins Wasser. Und das nur, weil ich gestern soooo müde war und nicht mehr nachgesehen habe! Die große Schwester, die uns besuchen wird, ist am Telefon auch zu müde, um zu entscheiden, ob wir es am Sonntag bis 10 Uhr nach Potsdam schaffen und bis 13 Uhr zurück zu ihrem Zug. Abwaschen. Dem Zwölfjährigen Gute Nacht sagen, Müll runterbringen. Haare waschen.

„Verzaubere mich“, sagt die deutlich aus ihrer Jugendform gegangene Frau auf meiner neuen Lieblingspostkarte sehnsüchtig zu dem Mann neben ihr mit dem schütteren Haar. Und erhält die traurige Antwort: „In was?“ –

2016

2016 war das Jahr, in dem ich das Wort „postfaktisch“ gelernt und meinen Kindern das Wort „populistisch“ erklärt habe. Hätte auf beides auch gerne verzichtet.

2016 war ein Jahr, in dem viel zu oft schon ein paar Minuten Nachrichten am Morgen ausreichten, um auf eine Weise traurig zu werden, die den ganzen Tag einfärbt. Mal abgesehen von Kriegen und Politik: Schmelzende Polkappen; Methan, das ungestört in die Atmosphäre aufsteigt. Wir schaffen es nicht mehr, die Welt zu retten, die wir kennen. Mülltrennen hilft nicht. Ökostrom beziehen reicht nicht. Kein Radio hören ändert auch nichts an der Lage. Wie soll ich das meinen Kindern erklären? Wie sollen sie leben, in 20, 30 Jahren?

Für mich persönlich war 2016 ein Jahr, in dem wenig passiert ist. Außer Älterwerden, das dafür aber um so mehr. Weniger Kraft. Mehr Vergesslichkeit. So oft (wo war ich stehengeblieben?) dieses leere Gefühl im Kopf, manchmal nur grau.

Was ich geschafft habe: Nach Stockholm zu reisen und die Schären zu sehen. Eine Mutter-Kind-Kur zu bekommen. Einen Job-Newsletter zu abonnieren und eine (1) Bewerbung zu schreiben. Meinen Balkon zum Blühen zu bringen. Zwei Paar (4) Socken zu stricken. Mich an die meisten (98) Schul- und Arzt-Termine der Kinder rechtzeitig zu erinnern. Den Alltag am Laufen zu halten. Weiterzumachen.

Was ich nicht geschafft habe: Die Welt zu retten (siehe oben). Irgendwelche guten Vorsätze umzusetzen. Ganz besonders nicht solche, die mit Sport zu tun hatten. Die Stelle zu wechseln. Mit meinen Kindern ausreichend geduldig zu sein.

Was schlimm war (privat und im kleinen): Den Flamenco-Kurs absagen zu müssen, auf den ich mich so(ooo) gefreut hatte. Nach dem Einsetzen der Narkosewirkung die Hand des Elfjährigen loszulassen und aus dem OP zu gehen mit dieser Angstklammer ums Herz: man kann ein Kind auch verlieren. Gelegentlich um fünf Uhr in der leeren Wohnung aufzuwachen mit Herzrasen und dem Gefühl, ziemlich allein auf der Welt zu sein.

Wo ich wirklich glücklich war: Alleine am Meer. In meinem Bett nach langen, anstrengenden Tagen. Auf meiner Geburtstagswanderung mit den Kindern und den liebsten Freundinnen und der ganz großen Schwester. Beim Beerensammeln im Wald. Auf dem Balkon vom Kur-Appartement unter dem großen Sternenhimmel.

Traurigkeiten: Dass es in Berlin so wenig Alltagsfreundlichkeit gibt. Dass liebe, wichtige Menschen in Lebenskrisen getrudelt sind. Dass Freundschaften und Gefühle sich veränderten.

Glücksgeschenke:
Eine neue Freundin zu finden.
Einen neuen Chef zu bekommen, der erst einmal die Überstunden der gesamten Abteilung übernimmt.
Mit der Besuchsfreundin abends im Waldhäuschen zu sitzen und herumzublödeln. Und die Telefonate mit ihr, in denen ausgiebig geklagt werden darf – und sehr viel gelacht wird.
Mit dem liebsten Freund müde auf dem Sofa liegend die Probleme der Welt zu lösen, so theoretisch. Und dabei ein bisschen weniger verzagt zu werden. Der nicht abgeschlossene Strandkorb vor dem Hotel, das uns keinen vermieten wollte (Hah!).
Das unbeschwerte Lachen des Elfjährigen – das so selten ist – und das unwiderstehliche Strahlen in den Augen des Siebenjährigen: Funkelsterne und Sonnenschein.
Manchmal einen ganzen Tag lang allein sein. Manchmal einen ganzen Tag lang nicht allein sein.
Parasolpilze. Ganz kleine gelbe Tomaten.
Wenn bei Kälte, Regen und beginnender Grippe die richtige S-Bahn ohne Wartezeit kam.
Lesen: „Americanah“ von Chimamande Ngozi Adichie und „Vor dem Fest“ von Saša Stanišić. Jan Wagners „Regentonnenvariationen“. Schauen: Jens Steinbergs Malerei. Hören: Dota. Live! Und Lachen: zum Beispiel über die Weihnachtspostkarte von der Besuchsfreundin. „Stress, Stress“, schnaubt das schweißgebadete Rentier vor dem Schlitten. „Du atmest falsch“, sagt der Weihnachtsmann, der hinten die Zügel in der Hand hält.

Weiter (falsch) atmend und weiter hoffend und dankbar für die Menschen, die für mich da sind und dankbar für die Menschen, für die ich dasein darf – so will ich ins neue Jahr gehen. Uns allen wünsche ich, dass es ein besseres, ein gutes Jahr wird.

Cheers!

 

Tagesnotizen 30.11.2016

Gerate im Büro an meine Stressobergrenze. Nachmittags kommt zur Eiseskälte draußen auch noch Regen hinzu. Durch die Dunkelheit schleppe ich Bastelpapier, Obst und Gemüse, einen sperrigen Regenschirm und den schwer am Regenschirmarm hängenden Siebenjährigen nebst Schulranzen nach Hause.

Unnötiger Streit mit dem Elfjährigen wegen einer schlechten Zensur: der bevorstehende Schulwechsel macht mich nervös; der Dämpfer ausgerechnet in Mathe lässt den Elfjährigen von sich selbst enttäuscht sein und mein Erschrecken so garnicht noch obenauf brauchen.

Das Waldhäuschen für die nächsten Herbstferien buche ich, die Fahrkarte für den Adventsbesuch bei meinem Vater muss erworben, aus Versehen doppelt gelegte Termine müssen geschoben werden.

Am Abend fülle ich die dringend erwarteten Adventsbeutelchen; 13 für den Elfjährigen, 12 für den Siebenjährigen. Die andern liegen schon beim Vater der beiden, und beim Füllen der Beutelchen wird mir klar, dass ich die Vorweihnachtswoche nicht mit meinen Kindern verbringen werde; dass die Leuchtstäbe, die den Kalender krönend abschließen und am Heiligen Abend auf dem Weg zur Kirche leuchten sollten, eine Woche zu früh strahlen und ihre Leuchtkraft verlieren werden.

Der Elfjährige stellt sich überzeugend schlafend, als ich in sein Zimmer schleiche und die Stange mit den Beutelchen an den üblichen Nagel hänge.

„For the Stars“ von Anne Sofie Otter und Elvis Costello wiedergehört, wiederentdeckt. Schon durch andere Vorweihnachtszeiten hat ihre wunderbare Musik mich begleitet, jetzt klingt sie wieder.

Mittagspause

Kurze Mittagspause. Ich krieche unter meine Decke und mache die Augen zu.

Ich habe dem erkälteten Elfjährigen erlaubt, nach der zweiten Stunde – Vorbereitung für den großen Englisch-Ausatz! – nach Hause zu kommen und sich auszuruhen; ich habe versucht, mit dem hustenden Siebenjährigen zum Kinderarzt zu gehen. Und bin gescheitert: ein Zettel an der Tür „Keine Sprechstunde am 10.10. und 14.10.“, zur Vertretung wurde auf „die umliegenden Arztpraxen“ verwiesen; die Inhaberin der einzigen anderen fußläufig erreichbaren Praxis hatte Urlaub, der eigentlich von unserer Kinderärztin vertreten werden sollte. Kein Arztbesuch also, die nette Sprechstundenhilfe in der zweiten Praxis half mir wenigstens mit einer Krankschreibung aus, unkompliziert, freundlich. Das machen auch nicht alle.

Ich habe mit dem Siebenjährigen inhaliert, für beide Kinder Essen gekocht, die Waschmaschine angestellt. Wenn ich aufstehe, warten der Abwasch, das Keyboardüben mit dem Siebenjährigen, das Englischüben mit dem Elfjährigen und die nasse Wäsche; es wartet, wie sich später herausstellt, auch ein Streit mit dem Vater meiner Kinder, der den Siebenjährigen abholt und so gar keinen Nerv dafür hat, dass auch die Kennenlerntermine an weiterführenden Schulen besprochen werden müssen, die für den Elfjährigen in Frage kommen. Tage der offenen Tür, Elternabende und Schnupperunterrichtsangeboten häufen sich in den nächsten Tagen und Wochen: welche Schulen sollen angesehen werden, welche nicht, wer geht mit dem Elfjährigen hin? – Alleingelassen fühle ich mich mit dieser Entscheidung, die die nächsten Jahre lang unser Familienleben mitprägen wird.

Während ich jetzt, am Mittag, kurz die Augen schließe, geht draußen auf der Straße das Dröhnen der Baumaschinen weiter, die seit dem Frühjahr in unserer Straße stehen und irgendetwas am Abwasserkanalsystem sanieren, ohne dass dabei irgendwelche Fortschritte sichtbar wären, nur Absperrungen und aufgebuddelte Straße und Bagger und anderes schweres Gerät, dass hin- und herrollt und lärmt und dröhnt.

Gleich werde ich aufstehen und etwas Gutes aus diesem Nachmittag machen: einen Kaffee für mich kochen, ein Spiel mit den Kindern spielen, eine Rolle Kekse hervorzaubern, eine zweite Folge von „Elefant, Tiger & Co“ erlauben, dem Vater der Kinder nach unserem Streit am Telefon auf seine Rückfrage ganz freundlich versichern, dass ich achtgeben werde, dass der Elfjährige den Schlüssel zur Papa-Wohnung sicher in seinem Ranzen verstaut, freundlich und ruhig mit dem Elfjährigen besprechen, ob wir die Mathe-Profilschule mit den hohen Leistungsanforderungen anschauen wollen oder lieber nicht.

Aber jetzt – während ich für einen Moment alleine bin – erlaube ich mir, diesen Tag einen Moment lang schrecklich eintönig und anstrengend zu finden.

Wieder bloggen. Ein bisschen. Vielleicht.

Zum 5.8. und Frau Brüllens WMDEDGT-Aktion habe ich es nicht geschafft, wieder mit dem Bloggen zu beginnen. Dabei hatte ich es vor; dabei hätte ich viel schreiben können, es war ein langer Tag – mit Aufwachen auf dem Klappsofa in der lolli-lutsche-grün (so die passende Wortschöpfung des Siebenjährigen) gestrichenen Ferienwohnung in Weimar, mit vom Wegesrand genaschten Pflaumen, einem wunderschönen Wasserspielplatz, mit sehr vielen Gesellschaftsspielerunden mit meinem Vater, seiner Frau und meinen hibbeligen, in der friedlichen Seniorenwohnanlage für ungewohnte Unruhe sorgenden Kindern und mit dem Packen unserer Koffer am späten Abend, in denen nach nur fünf Thüringen-Urlaubstagen vier Gläser Marmelade, eine Zucchini, ein Kilo Bohnen und drei paar neue Schuhe (Für mich! Hah! Unter den ungläubigen Augen meiner Kinder eigenhändig spontan erworben!) zusätzlich Platz finden mussten.

Dass ich nach dem 5. Juni mit dem Bloggen aufgehört habe, war nicht geplant oder absichtsvoll. Aber wie von Zauberhand war meine Zeit zum Schreiben von einem Tag auf den anderen verschwunden – verschlungen von den Schuljahres-Abschluss-Veranstaltungen (und sie feierten sieben Tage und sieben Nächte… und alle Eltern mussten jeden Abend etwas zum Buffet beitragen); von einer kleinen Jungs-Sachen-OP des Elfjährigen, dem ich die Hand beim Setzen der Narkose hielt und hinterher den ganzen Tag lang die Spuckschüssel; von meinem 40. Geburtstag, den ich zwar glücklich mit den liebsten Freundinnen und ihren Kindern beim Wandern verbrachte, der mich wegen der ungewohnt hohen Zahl aber doch sehr beschäftigt: Sollte dieses Endlichkeits- und Vergänglichkeitsdingens etwa nicht nur Verwandten von Bekannten und vielleicht noch Großeltern zustoßen, sondern auch mir bevorstehen? Wer bin ich, wenn das Wort „jung“ nicht mehr passt? Und was von all dem, von dem ich immer dachte, dass es irgendwann schon noch kommen wird, ist mir wirklich wichtig; so wichtig, dass ich es vielleicht doch noch in Angriff nehme? –

Jetzt sind Ferien, endlich, seit zwei Wochen, und ich hatte Urlaub; die Hälfte davon haben wir – siehe oben – mit dem Einheimsen von Schuhen und Gemüse in Thüringen, die andere Hälfte gemeinsam mit der Besuchsfreundin (und der Mauz-Laune des Siebenjährigen und der Rumpelstielzchenlaune des anscheinend jetzt endgültig – oh weh! – vorpubertierenden Elfjährigen) hier zu Hause verbracht. Der Rest der Ferien wird gestückelt, ein bisschen Hort und jede Menge Hortschließzeit für den Siebenjährigen und den Elfjährigen; ein langes Wochenende mit ihrem Vater, der einmal mehr zu Ferienbeginn ganz plötzlich Arbeit gefunden hat; ein paar Tage, an denen ich „halben Urlaub“ nehmen werde; ein paar Tage werden die Jungs sogar bei der Freundin ihres Vaters verbringen, bevor wir – aufseufz, ach…  – nochmal zur Kur dürfen, meine Söhne und ich. Nein, an den Haaren herbeigezogen ist es nicht, dass da „Erschöpfungsdepression“ auf meinem Einweisungsbogen steht. Irgendwas ist aus dem Gleichgewicht, schon länger; immer weniger Kraft hatte ich im letzten Jahr, weniger Lust aufs Leben, weniger Glücksgefühl. Immer haben die Arbeit und die Kinder beim Verteilen der Energie mehr als ihren Anteil abbgekommen (und immer ist da das Gefühl, dass bei beidem mehr Engagement nötig wäre), dann kam der Haushalt, und dann war da noch ein bisschen Zeit für Freunde oder wenigstens Simse an Freunde. Alles wichtig. Alles richtig, an sich. Aber danach war da oft garnichts mehr, noch nicht mal genug Zeit zum Schlafen – denn nach meinen zwei Wochen Urlaub merke ich, dass das Allerbeste daran die zusätzliche Stunde Schlaf war, die ich jeden Tag abgekriegt habe. Die hat gutgetan.

Da mag ich plötzlich sogar wieder schreiben, auch wenn ich noch nicht weiß, wie oft und wie viel.
Denn morgen geht das ja mit dem Büro wieder los.
Dreieinhalb Wochen noch, na gut. Das wird schon gehen.

Weiterschreiben

Ich sitze auf meinem Balkon, der in diesem Jahr ein grüner Dschungel ist – mit Ringelblumen, die reichlich Samen ansetzen; Winden, die haufenweise sorgfältig gerollte Blütenknospen für morgen tragen; den blühenden Lilien und der Tomatenpflanze, die sich unter der Last ihrer Früchte schwer auf die Seitenlehne meiner Balkonbank stützt; mit windschiefen Sonnenblumen und einer unter einer wild ausgesamten blauen Winde beinahe erstickten Papkrikapflanze, die eine einzige kleine blässliche Frucht angesetzt hat.

Vor dem Balkon rauscht der Regen und bringt ein wenig Abkühlung nach einem weiteren heißen Tag. Ich sitze hier und denke über das Weiterschreiben nach.

Ich möchte meinen Blog nicht aufgeben.

Aber mein Lebensgefühl (ach, dieses schöne deutsche Gefühlswort – ) hat sich so sehr verändert, dass ich nach einer Form des Weiterschreibens suchen muss, die jetzt für mich passt.

Das ist schwierig.

Was geschieht da gerade?
Vieles verändert sich.

Das Weiterwachsen unseres Wechselmodells wird die Zeit verkürzen, die ich ohne Kinder verbringe. Die beiden sollen um einen Tag versetzt wechseln, um auch Aktivitäten zu ermöglichen, die mit beiden Jungs gemeinsam schwierig sind. Zusätzlich soll der Zehnjährige an einem Tag der Woche über seinen Aufenthalt selbst entscheiden können; er äußert seinen Willen, es ist nicht mehr einzusehen, ihm ohne Berücksichtigung seiner Interessen vorzuschreiben, wann er sich bei seinem Vater oder mir aufzuhalten hat.

Überhaupt wird der Zehnjährige selbständiger. Die ersten Wege außerhalb unseres Kiezes darf er seit diesem Frühjahr allein zurücklegen. Seit der Fahrradprüfung besteht er darauf, allein mit dem Rad zur Schule zu fahren – und ist, wenn hitzefrei angesagt ist oder sein Bruder zum Schwimmen geht, auch schon mal gerne allein zu Hause.

Für mich bedeutet letzteres Erleichterung, ersteres aber weniger als früher die Möglichkeit, mein „eigentliches“ Leben – das, was ich als „eigentlich“ empfinde – in die Zeit zu verlagern, in der meine Söhne bei ihrem Vater sind. Mein „wirkliches“ Leben ist mein Familienleben. So sollte es ja auch sein – oder nicht?

Ach, das große Berlin, voller Leben und Möglichkeiten und Verlockungen. In den letzten fünf Jahren hatte ich fast immer mehr Ideen und Pläne, als sich realisieren ließen. Weder zum Zen noch zum Flamenco bin ich je wirklich gegangen; habe keinen Schreibkurs besucht und bin keiner Wandergruppe beigetreten. Aber von all dem habe ich geträumt, habe mir eingebildet, ich könnte, ich könnte ja, eigentlich jederzeit, sobald dieser oder jener Punkt von der To-Do-Liste abgearbeitet wäre.

Aber seit längerer Zeit schon kommen mir all die wunderbaren Möglichkeiten unrealistisch und mein abenteuerlustiger Übermut weit, weit entfernt vor. Es ist, als ob das, was ich nach der Trennung vom Vater meiner Kinder an mir selbst – unabhängig von meiner Rolle als Mutter – wiederentdeckt habe, nun wieder von mir abfällt. Weil es einen enormen Kraftaufwand bedeutet, das Leben von zwei Grundschulkindern zu organisieren. Weil die Büroarbeit über ihre nett gedachte 80%-Begrenzung in die Abende und Wochenenden suppt. Weil es mir nicht mehr reicht, wichtige, nährende Beziehungen nur in dem Teil meines Lebens zu leben, in dem ich „kinderlos“ bin.

Weil ich so müde bin.

Mehrfach ist mir in den letzten Monaten der Begriff der „Rush-Hour des Lebens“ für diese Jahre begegnet, in denen alles auf einmal wichtig ist, Beruf und Kinder und, wenn möglich, auch noch die Verwirklichung diverser Träume, Reisen und Eigenheimprojekte.
In der neuesten Ausgabe von Publik Forum erzählt ein Artikel davon, dass es genau diese Überforderung mit verschiedensten Themen ist, die es in der „Lebensmitte“ so schwer macht, neue Freunde zu finden. Die meisten Menschen haben schlicht zu wenig Zeit, um den Kontakt zu neuen Menschen aufzubauen. Und da ist was dran. Für die Bekannten und Nachbarn, die uns in den letzten Jahren durch Umzüge „verlorengegangen“ sind, sind kaum neue nachgekommen. Keiner meiner Hausnachbarn nimmt meine Einladung an, als ich im Hinterhof mit Familie und guten Freunden (doch, die gibt es…) feiere und nicht nur mit einem Aushang im Treppenhaus einlade, sondern auch mehrere Familien im Haus direkt anspreche und zu Kuchen und Kaffee bitte. Alle sind zu beschäftigt.

Die Konsequenz ist, dass da manchmal tagelang kein anderer Erwachsener ist, mit dem ich außerhalb von Büro- und Kindergartenhallihallo rede. Und es sieht nicht danach aus, als ob sich das leicht ändern würde.

All das macht mich in den letzten Monaten still, nachdenklich und zurückgezogen. Es gibt wenig zu schreiben über mein Leben; wenig kommt mir berichtenswert vor.

Alles wird erst einmal einfach genau so weitergehen, denke ich.
Aber auch: wer weiß, wozu diese Zeit gut ist. Und was – irgendwann – Neues kommen wird.

Weiterschreiben also. Vielleicht selten. Vielleicht in kurzer Notizform. Wahrscheinlich immer wieder von den selben Themen. Und davon, wie es weitergeht.

Rauch

Die S-Bahn streikt. Überfüllte U-Bahnen, die Leute tippen angestrengt in der Öffi-App auf ihren Smartphones herum, wer kein Smartphone in der Hand hat, glotzt seinem Nachbarn auf den Bildschirm.

Der „Helpling“, den ich mir bestellt habe, damit ich meine drei Krankschreibungstage tatsächlich zum Erholen nutze und nicht anfange, die verdreckte Wohnung zu putzen, storniert seinen Termin bei mir, ich sei nicht mit den öffentlichen Nahverkehrsmitteln zu erreichen.

Mein Chef am Telefon: So krank klingst Du garnicht! Kannst Du mal eben dies und das –

Abends beutelt mich der Husten dann wieder, die Ärztin hat Keuchhusten und Lungenentzündung und Allergie ausgeschlossen und mich dann mit einer Krankschreibung in der Hand aus dem Untersuchungszimmer geschoben. Schlafen Sie sich mal aus. Sowas kann ja auch von der Erschöpfung kommen.

Ja, ich bin erschöpft. Schrecke um fünf Uhr morgens mit Herzrasen hoch. Habe wenig Geduld mit den Kindern. Habe immer diese lange Liste im Kopf, dieses muss dringend und jenes müsste eigentlich auch. Das Runterkommen klappt nicht mehr, noch nicht mal die drei Tage zu Hause helfen. Sonst fange ich, sobald die Genesung von irgendwas einsetzt, sofort an, im Kopf Pläne zu schmieden und lange Listen mit Dingen zu schreiben, die ich unbedingt dringend sofort machen möchte – und die ich dann nie schaffe, höchstens halbherzig beginne. Aber immerhin.

Jetzt fühle ich mich, als ob ich sogar das Wünschen verlernt habe.

Er wäre da – irgendwo gleich hier, nur einen oder zwei Schritte entfernt, ich kann es spüren: der Raum, in dem ich irgendwas spannendes mit meinem Leben machen, in dem ich etwas gestalten könnte. Aber ich nutze ihn nicht, ich habe viel zu viel zu tun. Und wenn ich nichts zu tun habe, nehme ich mir schnell etwas vor, aus Angst vor der Leere.

Meine Kinder toben über den Nachbarhof und verschwinden mit ihrem Vater im Hinterhofeingang seiner Freundin. Glücklich sehen sie aus. Für die Tests üben, fehlende Schulmaterialien nachkaufen und den drohenden Kita-Streik mit meinen Arbeitszeiten zusammenbasteln – mein absehbares Programm mit den Kindern, sobald sie wieder zu mir kommen – ist so viel weniger schön.

Ich werde zu einer schrecklichen Gesprächspartnerin (und ihr Name war „maulende Myrte“…) für die Menschen, die mit mir reden.

Ich würde gerne fortgehen, irgendwo an einem Meer sitzen und in die Wellen starren und warten, bis ich mir nicht mehr wünsche, dass alles einfach aufhört. Aber das geht nicht, also muss ich wohl das Gegenteil tun, ankommen nämlich, hier, wo ich bin, und den Dingen ins Gesicht sehen. Meiner Einsamkeit. Meiner Traurigkeit. Meiner Erschöpfung.

Ein Frühlingsdurchhänger. Eigentlich kenne ich das schon. Und weiß, dass ich mich auch wieder besser fühlen werde. Vielleicht bald, vielleicht morgen. Bestimmt morgen schon.

Frühling

Die Silhouetten der kahlen Bäume verändern sich. Ein ganzes endloses Meeting lang schaue ich aus einem Fenster; hinten rauscht der Verkehr auf der Autobahn vorbei; vorne schaukeln die Platanenfrüchte vom letzten Jahr an den Zweigen, an denen neue, dicke Knospen sitzen.

In der Mittagspause blinzele ich auf einer Bank in die Sonne, verbrenne mir den Gaumen am heißen Kaffee und schmiede Ausflugspläne.

Zu Hause geht mir beim Anstreichen der verwitterten Balkondielen die Holzschutzlasur aus; als ich neue besorgt habe, ist es zum Weiterarbeiten wieder zu kalt. Gegenüber von meinem Bett richten sich Stapel aus leeren Blumentöpfen und Kisten mit alter Erde auf längeren Aufenthalt ein. Im Flur steht ein schweres Paket mit Humus der Firma „Superworm“, das mir die neuen Nachbarn, die es netterweise entgegengenommen haben, mit spitzen Fingern ausgehändigt haben.

Auch im Wohnzimmer beginnt ein Stapel zu wachsen – Dinge, die ich auf meine kleine, kleine Pilgerreise – aus den gewünschten drei Wochen ist eine geworden, aus der geplanten Wanderschaft in Portugal eine vor der Haustür; nicht so schlimm, der Jakobsweg ist ja eigentlich überall – mitnehmen werde. Ein brandneuer Wanderrucksack steht da, schaukelt erwartungsvoll mit allerlei Schnallen und Riemen und belächelt hochmütig meinen uralten Schlafsack, der fast 30 Liter von den 38, die der Rucksack fassen kann, ausfüllen wird. Neben den Pilgerausweisen die Tüten, in denen ich meine Füße vor der Nässe verregneter Tage schützen will. Pilgerausweise, eine Wanderkarte. Der rechte Wanderschuh kommt vom Weiten zurück, vielleicht macht er mir beim nächsten Probewandern ja endlich keine Blasen mehr.

Mit dem Zehnjährigen klicke ich mich am Abend durch Hörbeispiele zu Gembri, Kürbisgeige, Sitar, Steeldrum und allerlei anderen Instrumenten aus der weiten Welt, die er für seinen Musiktest kennen muss. „Yesterday“, gespielt von einem Balalaika-Orchester, oh, diese Melodie musst du kennen, das hören wir noch schnell, dann ist Schluss, viel zu spät.

Der Sechsjährige beginnt seinen Schwimmkurs, der Trainer im Neoprenanzug sieht aus wie Superman persönlich, die Kinder haben Spaß. Als wir hinterher nach Hause kommen, hat der Zehnjährige schon Abendessen gemacht, sogar mit dem völlig falschen Messer Scheiben und Stücke vom Brot abgeschnitten. Mir wird nachträglich flau im Magen, und ich schärfe ihm ein, wo die Heftpflaster liegen und bei wem er klingeln soll, falls er sich mal richtig schlimm schneidet.

Nach dem Essen gucken wir eine der neuen Folgen von „Rennschwein Rudi Rüssel“. Noch eine, bettelt der Sechsjährige, bittebitte! Hinterher lasse ich mich ohne Meckern duschen, versprochen!

Morgens ist es schon hell, wenn ich aufstehe. Ich stelle meinen Lieblingsradiosender ein und schneide Apelspalten für die Frühstücksdosen der Kinder. Später, in der S-Bahn, ziehe ich „Geht alles garnicht“ aus der Tasche, ein Buch, untertitelt mit „Warum wir Liebe, Karriere und Kinder nicht vereinbaren können“, in dem zwei Journalisten vom Alltag überforderter Väter berichten.

Oft, sooo oft bin ich genau so gestresst, müde und erschöpft, wie die beiden es beschreiben. Aber gerade heute, an diesem Tag mit blauem Frühlingshimmel, ist mein Leben gut – so wie es ist.

(Jedenfalls, bis am Nachmittag auf meiner S-Bahn-Linie ein Polizeieinsatz stattfindet und ich verspätet zur Kita komme, bei der ausgerechnet heute der Zehnjährige schon wartet. Jedenfalls bis ich mein Versprechen einlöse, den Kindern Nudeln zu kochen, und aus dem einen oder anderen Grund nach dem Abendessen der Abwasch stehenbleibt. Jedenfalls, bis ich nach zehn am Abend endlich dazu komme, die Schwimmtasche für morgen zu packen und das Sportzeug des Zehnjährigen durchzusehen und den Freunden hinterherzutelefonieren, mit denen wir am Wochenende verabredet sind, so halb. Jedenfalls, bis ich den Elternbrief lese, in dem die Schule Eltern, die beim Frühjahrsputz (Freitag ab 13 Uhr) nicht mitmachen, Desinteresse an der schulischen Laufbahn ihrer Kinder unterstellt. Samstag wird in der Schule auch noch gemalert oder alternativ in der Kita der Garten gestaltet, man bittet um rege Teilnahme. Und schon schlägt alles über mir zusammen. Noch schnell bloggen oder ein paar Pullis fürs Büro bügeln? Noch mit der Besuchsfreundin telefonieren oder endlich mal eine Mail beantworten? Rechtzeitig schlafengehen oder noch die Blumen gießen? Am Wochenende Freunde vernachlässigen oder wieder nicht zum Ausruhen kommen? – Doch, ich verstehe die überforderten Väter, ich habe ihr Buch nicht ohne Grund in der Tasche. Zeit. Ich hätte gerne sooo viel mehr Zeit.)

So eine Woche

Am Montagmorgen wechseln meine Kinder zu ihrem Vater. Nach der Arbeit gehe ich zum Zahnarzt, der findet, dass alles in Ordnung ist, sogar die alte Amalgamfüllung, die er vor einem Jahr als undicht bezeichnet hat. Und dann gehe ich aus. Dazwschen rufe ich die Berliner Bäderbetriebe an und erfahre, dass die Schwimmkurse, zu denen ich den Sechsjährigen und den Zehnjährigen anmelden möchte, nun doch nicht „frühestens am 16. Februar“, sondern schon am Dienstag verkauft werden.

Am Dienstagmorgen stehe ich fünf vor sechs vor der Tür der Schwimmhalle. Eine Stunde später – so habe wohl nicht nur ich gehört, sondern auch die anderen beiden Eltern, die sich wie ich unter die Frühschwimmer mischen – ist der einzige Seepferdchenkurs, der sich mit üblichen Bürostunden vereinbaren lässt, nämlich immer schon ausgebucht. Ich melde den Sechsjährigen und seinen Freund, den Sohn der Hinterhoffreundin des Vaters meiner Kinder, zum Seepferdchenkurs an. Der Bronzekurs für den Zehnjährigen fällt aus, weil die Berliner Bäderbetriebe kein Geld mehr haben, um unsere Schwimmhalle samstags zu öffnen. Dann gehe ich heim und schreibe jemandem, der gerne hätte, dass ich ihn liebe, dass ich ihn nicht lieben werde. Dann gehe ich arbeiten. Hinterher addiere ich alle Kinderausgaben des letzten halben Jahres zusammen und rechne aus, wie viel ich dem Vater meiner Kinder nach Abzug meiner Kinderausgaben von seinen zum Ausgleich noch überweisen muss. Dann recherchiere ich im Internet, wie ich den neuerdings besonders schlappen Sechsjährigen besser ernähren kann, damit er trotz seiner äußerst selektiven Essgewohnheiten keinen chronischen Eisenmangel entwickelt.

Am Mittwoch kaufe ich nach der Arbeit einen Pilgerführer für den Weg von München an den Bodensee. Und dann alle eisenhaltigen Getreideflocken, die ich kriegen kann. Und Reismilch. Und Sesam. Dann rufe ich die nach Köln verzogene Patentante des Sechsjährigen an und plane unseren Besuch in den Osterferien und dann rufe ich meinen wilden Großcousin in Hessen an und plane unseren Besuch in den Osterferien und dann kaufe ich drei Fahrkarten für die Osterferien. Dann spreche ich mit meiner großen Schwester, die uns im Sommer gern für eine Woche mit nach Dänemark nehmen würde – aber nur ausgerechnet die mittlere von unseren drei Urlaubswochen anbietet, was mein schönes diesmal-aber-nicht-nur-eine-Woche-Sommerurlaub-Konzept zu zerstückeln droht. Ich erschlage eine Motte. Dann suche ich nach Urlaubsalternativen. Ein Zelthotel am Plauer See mit Dauerregen? Ein einsames Ferienhaus in Schweden mit Mankell-Krimi-Stimmung? Ein Ferien-auf-dem-Bauernhof-Bauernhof weitab von der nächsten asphaltierten Landstraße? Ich erschlage drei Motten. Ich stelle Anfragen an insgesamt 13 Familienferienstätten, einziges Auswahlkriterium neben meinem Wunschtermin ist „ein Schwimmbad“.

Am Donnerstag auf Arbeit fällt mir ein, dass ich bei meinen Anfragen an die Familienferienstätten das falsche Anreisedatum angegeben habe. Ich rufe die Kinderärztin an und mache einen Termin aus, an dem der Sechsjährige ein Schwimmfähigkeitsattest für seinen Schwimmkurs ausgestellt bekommen kann. Nach der Arbeit kaufe ich eine neue Druckerpatrone, damit ich meine Fahrkarten für die Osterferien ausdrucken kann. Und neues Mottenschutzpapier für die Kleiderschränke. Ich telefoniere mit meinem Vater, der bald einen runden Geburtstag feiert, und dann buche ich eine Fahrkarte für die Reise zu seinem runden Geburtstag. Ich drucke meine vier Fahrkarten aus. Ich nehme die Sterne vom zu zwei Dritteln abgenadelten Weihnachtsstrauß des Sechsjährigen ab und packe die Weihnachtskisten endlich weg. Ich suche einen Kinofilm raus, den ich am Wochenende mit meiner Kinofreundin sehen möchte. Ich suche ein Café raus, in dem ich am Wochenende mit dem Menschen frühstücken und reden kann, dem ich geschrieben habe, dass ich ihn nicht lieben werde. Ich reserviere einen Tisch. Ich verzweifle ein bisschen. Ich rufe die Besuchsfreundin an, die am Wochenende umziehen wird, und lenke sie mit meinem Gejammer von ihren Umzugssorgen ab.

Am Freitag rufe ich vom Büro aus drei Familienferienstätten an, die auf meine Anfrage reagiert haben. Kann man von der Nordsee aus nach Dänemark gelangen? Und wenn ja: wie? Ich überweise dem Vater meiner Kinder das Geld, das ich Anfang der Woche ausgerechnet habe. Ich bezahle die Rechnung vom Sportverein für den Sechsjährigen. Stelle die Waschmaschine an. Ich hole den Zehnjährigen vom Vater meiner Kinder ab, der gerade gemütlich mit seiner Hinterhoffreundin zusammensitzt, während ihr Sohn mit unseren Kindern spielt. Ich fahre mit dem Zehnjährigen zur Therapiestunde. Hinterher kaufen wir – unsere kleine, geheime Freitagabendtradition – einen Döner an der neuen Dönerbude im S- Bahnhof. Abwechselnd, mein Sohn genauso gierig wie ich, fallen wir über den Döner her. Wir schlendern ganz langsam, damit er aufgegessen ist, wenn ich meinen Sohn wieder bei seinem vegan lebenden Vater abliefere. Ich gebe dem Sechsjährigen einen wir-sehen-uns-am-Montag-Kuss und werfe dem Zehnjährigen, dessen neuen Spiel-Hubschrauber der Sohn der Hinterhoffreundin des Vaters meiner Kinder gerade zerstört hat und der mir deshalb nicht richtig „Tschüss“ sagen kann, eine Kusshand zu. Dann gehe ich heim und hänge Wäsche auf. Die frisch gewaschene Wäsche vom letzten Wochenende liegt auch noch rum. Und der Stapel mit den amtlichen Briefen der letzten sechs Wochen liegt noch so unberührt da wie am Montag.

Nach einer Woche wie dieser wünsche ich mir, nicht pausenlos das Leben von drei Menschen organisieren zu müssen. Mich nicht pausenlos um alles, alles kümmen zu müssen. Nicht ständig Entscheidungen treffen, nicht ständig Alternativen durchdenken zu müssen.

Nach einer Woche wie dieser wünsche ich mir, ich könnte mich daran erinnern, wie sich ganz viel unverplante Zeit anfühlt, und wie es sich anfühlt, einen ganzen Tag lang einfach irgendwas zu tun. Nach einer Woche wie dieser frage ich mich, ob ich das überhaupt noch kann: Faulenzen. Muße.

K.o. in zwei Tagen

Liegt es daran, dass ich wegen dem Wechselmodell nicht so richtig an das Leben mit den Kindern gewöhnt bin? Oder ist es bei uns so besonders anstrengend? Jedenfalls schaffen es oft schon wenige ziemlich „normale“ Tage Familienleben, mich total zu erschöpfen.

Zum Beispiel zwei Tage wie diese – in die ich eigentlich nach den Ferien und einer Woche ohne die Kinder ziemlich ausgeruht gestartet bin:

Montagmorgen, der Neunjährige geht rechtzeitig los, um zur ersten Stunde pünktlich zu sein, extrafrüh, weil Montagmorgen Sport auf dem Plan steht. Mit dem Fünfjährigen muss ich zum Blutabnehmen zum Kinderarzt. Was als kleiner Labortermin vor der Arbeit gedacht war, wächst sich – denn wir haben einen sehr gründlichen Kinderarzt – zu einer längeren Geschichte aus. Mit Wiegen und Messen (immerhin war mein Sohn drei Monate lang nicht in der Praxis und KÖNNTE theoretisch in diesen drei Monaten schwerer Unterernährung ausgesetzt gewesen sein), einer Abfrage sämtlicher jemals bei Kindern beobachteter Verhaltensauffälligkeiten (immerhin hatte mein Sohn vor einiger Zeit zwei Wochen lang Bauchschmerzen, und das KÖNNTE ja psychisch gewesen sein), einem beinahe-EKG, gegen das ich mich zur Wehr setze, weil heute EINFACH NUR NAHRUNGSMITTELUNVERTRÄGLICHKEITEN GETESTET WERDEN SOLLEN – Jetzt werden Sie doch nicht gleich so aggressiv!, sagt die Sprechstundenschwester vorwurfsvoll, muss aber zugeben, dass ein EKG wirklich nicht vorgesehen war und sie es einfach reflexartig machen wollte – und einem Rundum-Blutbild (Wie, Sie haben keine familiäre Vorbelastung mit Diabetes? Das – und alles mögliche andere – wird trotzdem mitgetestet. Einfach, weil mein Sohn einmal da ist.). Als wir rauskommen, guckem mich alle, die inzwischen das Wartezimmer füllen, ganz komisch an. War ich wirklich SOOO laut?

Wir kommen eine Minute nach Neun in die Kita, das ist garnicht so schlecht. Draußen hängt ein Zettel, der vor einem besonders heftigen Magen-Darm-Infekt und Kopfläusen in der Gruppe meines Sohnen warnt. Den montags mitzubringenden frischen Schlafanzug haben wir mal wieder vergessen. Halb so schlimm.

Ich hetze zur Arbeit, eine Stunde zu spät. Es ist Planungssaison, das bedeutet: Viiiiiiiel zu tun. Sechs Stunden später stehe ich mit zittrigen Knien wieder auf und flitze zur Bahn zurück. Schnell noch Brot einkaufen, dann zur Kita. Auf dem Zettel an der Tür stehen jetzt zusätzlich Scharlach und Hand-Fuß-Mund. Wegen Hand-Fuß-Mund ist sämtliches Spielzeug aus dem Gruppenraum verbannt worden – so lange, bis zwei Wochen lang kein neuer Fall aufgetreten sein wird. Kuscheltiere dürfen auch nicht mehr mitgebracht werden. Mache mir (ganz unnötig, betont die Erzieherin, alles frisch bezogen) Sorgen, weil ausgerechnet mein Sohn seinen Mittagsschlaf auf der Matte hält, die tagsüber als Kuschelsofa für alle Kinder im Raum liegt. Werden sie uns in der Kinderarztpraxis noch behandeln, nachdem ich heute morgen so laut geworden bin? Schnell an was anderes denken. Schnell nach Hause.

Im Ranzen des Neunjährigen finden sich bei genauem Nachsehen ca. fünf zu unterschreibende Tests und Arbeiten, ca. sieben einzuheftende Arbeitsblätter und allerlei Hausaufgaben. Gefühlte 15 Din A4-Seiten Elternbriefe und Fördervereins-Infos aus Kita und Schule lege ich mir zum Lesen bereit. Irgendwas wichtiges steht meistens doch drin – versteckt zwischen all den Informationen, die ich eigentlich nicht brauche.

An diesem Abend habe ich noch Kraft zum Vorlesen. Und sogar dazu, mit dem hustenden Fünfjährigen (Den Kindern gehts gut, prima gesund, hatte ihr Vater mir bei der Übergabe zu erklären versucht, bevor ihn ein Hustenanfall des Fünfjährigen und das laute Schnauben des Neunjährigen ins Taschentuch unterbrachen – ) zu inhalieren. Hinterher merke ich, dass mein Hals zu kratzen anfängt. Schnell abwaschen. Sachen für Dienstag rauslegen. Zwei Rechnungen bezahlen. Mails beantworten. Schlafen.

Dienstagmorgen. Heute können wir gemeinsam losgehen. Irgendwie bin ich schon nicht mehr so schnell wie am Montag, das Frühstücksgeschirr bleibt auf dem Tisch, und der Neunjährige muss doch schon vorflitzen, um pünktlich in der Schule zu sein. Aber ich komme pünktlich zur Arbeit. Heute nur 20 neue Mails. Sechs Stunden später mache ich mit zittrigen Händen den Rechner aus, eigentlich müsste ich noch, eigentlich hätte ich heute – geht aber nicht, es ist Martingstag, ich muss zum Laternenumzug. In der Kita ein gemütliches Lagerfeuer im Sandkasten, Schmalzstullen und Glühwein (schnell einen trinken, dann überstehe ich das hier auch) werden angeboten, die Kinder – gruselig geschminkt und mit Umhängen ausstaffiert – führen einen wilden Hexentanz auf, dessen Zusammenhang zum  Martinstag mir ein bisschen unklar bleibt.

Der Neunjährige kommt dazu und hat wirklich daran gedacht, alles im Schließfach zu lassen, was er heute nicht zu Hause braucht. Ich hucke mir den ungewöhnlich leichten Ranzen auf, hänge unsere Fischlaternen an unsere funkelnagelneuen LED-Laternenstäbe (die gehen nie mehr kaputt, hat der Verkäufer mir versprochen), und gemeinsam mit einer Freundin und ihren beiden Jungs machen wir uns zur Martinsandacht in der Kirche auf, in der wie jedes Jahr ein paar engagierte Eltern zusammen mit dem Pfarrer die Geschichte vom geteilten Mantel nachspielen, während Dutzende ungeduldiger Kinder von Minute zu Minute lauter werden.

Dieses Mal sind so spät in der Kirche angekommen, dass wir keinen Sitzplatz mehr gefunden haben, was aber bedeutet, dass wir als erste aus der Kirche rauskommen und tatsächlich das Pferd sehen, das den Martinsumzug wie jedes Jahr anführt. Während der Laternenzug sich dreimal um den Block windet, gesellt sich eine dritte Mutter von zwei Jungs zu uns. (Warum wollen eigentlich nur Mütter von zwei Jungs mit anderen Müttern von zwei Jungs befreundet sein, frage ich mich, als Mädcheneltern mit strahlenden Töchtern und blinkenden rosa-Pferd-Laternen gemütlich an uns vorbeiziehen? – Aber ich kann darüber jetzt nicht nachdenken, es ist zu laut, die sechs Jungs versuchen, mit ihren Laternen die Laternen der anderen so anzustoßen, dass sie runterfallen, mindestens eine Laterne muss ständig aufgehoben, an den Leuchtstab gehängt, ausgebeult und wieder zum Leuchten gebracht werden, außerdem hat der Neunjährige angefangen, immer neue unanständig umgedichtete Versionen vom Laternenlied zu singen. Große Begeisterung bei den Kleineren.)

Als wir am Ziel ankommen, wird das Pferd schon wieder in seinen Transporter geladen. Wir Mütter schauen uns an und sind uns wortlos einig: den gemütlichen Ausklag des Martingsumzuges schenken wir uns. Ab nach Hause. Die erste biegt zu ihrem Auto ab, die zweite verabschieden wir an ihrer Haustür. Dann sind nur noch wir in der Dunkelheit unterwegs, wir und unsere beiden ziemlich verbeulten Fischlaternen.

Ach Mama, sagt der Neunjährige zu Hause ganz beiläufig, kannst du mir nachher was über die Zahl Pi ausdrucken? Ich muss im Mathe-Extrakurs morgen einen kleinen Vortrag dazu halten… Wie praktisch, dass das Frühstücksgeschirr noch auf dem Tisch steht. Da können wir ja gleich Abendbrot essen. Während ich den Fünfjährigen ins Bett bringe, merke ich, dass meine Halsschmerzen schlimmer werden. Der Neunjährige bringt seinen Ranzen in Ordnung – keine neuen Tests! keine neuen Elternbriefe! – und dann suchen wir am Rechner nach „Pi einfach erklärt“. Dass alle großen Flüsse dieser Erde eine tatsächliche Länge von ungefähr dem Pi-fachen der Luftlinie zwischen Quelle und Mündung haben, wusste ich auch noch nicht.

Das sind zwei absolut durchschnittliche Tage. Das alles bewegt sich im ganz normalen Rahmen des Lebens mit einem Schulkind, einem Kita-Kind und einem Beruf. Trotzdem bin ich völlig fertig. Durchhalten, rede ich mir gut zu, krankwerden geht jetzt einfach nicht, zu viel Arbeit auf Arbeit! Durchhalten, sage ich mir, und schleunigst bei der Ärztin nach meiner alljährlichen Vitamin-B-Stpritzenkur fragen, die mich im Herbst immer für drei Monate so schön fit macht.

Aber am liebsten möchte ich mir von dem Zeugs jetzt sofort eine Dauerinfusion legen lassen.