Schlagwort-Archive: Familie

Woche 4

Osterferien. Zwei Tage habe ich mir freigenommen. Manches funktioniert (Die Känguru-Chroniken als Heimkinonachmittag anschauen); manches funktioniert nicht so gut (meine Idee, mit dem Elfjährigen und dem Fünfzehnjährigen mal wieder Linoldrucke zu machen. Das gehört in den Winter und es gehören Freunde dazu eingeladen…) Mir tut die Struktur gut, die meine Homeofficearbeit mir gibt, stelle ich nach den zwei freien Tagen fest; der Arbeitsbeginn ungefähr halb neun, das Teammeeting am späten Vormittag, meine Nachmittagsrunde im Wald nach dem Feierabend.

Dem Elfjährigen und dem Fünfzehnjährigen tut die Ferienwoche bei ihrem Vater gut, vermute ich; weil dort das Familienleben mit Baby und Großpatchwork ungefähr genauso chaotisch abläuft wie sonst, während bei mir fast alles, was uns gemeinsam froh macht und womit wir unter normalen Umständen unsere Ferien hätten verbringen können – Ausflüge, Schwimmbadbesuche, Freunde und Familie, die uns besuchen oder die wir besuchen – gerade entfällt. Für den Elfjährigen gibt es inzwischen Online-Kinderschachturniere, das ist ein Lichtblick. Um den Fünfzehnjährigen mache ich mir noch immer Sorgen; anscheinend hat das selbständige Arbeiten für die Schule dann doch nicht so gut geklappt, vermutlich ist nach den Ferien das eine oder andere nachzuarbeiten. Wie ich ihn noch zwei oder drei oder fünf Wochen zu Hause bei Laune und zum Arbeiten für die Schule anhalten soll, weiß ich nicht.

Die vorösterlichen freien Tage ohne die Kinder verbringe ich in gemütlichem Tempo. Die Steuererklärung wird fertig, die Hausarbeit verringert sich auf einen angenehmen Ein-Personen-Level, ich spanne den großen gelben Sonnenschirm auf dem Balkon auf und setze mich mit einem Buch darunter. Die Karfreitags-Waldrunde gehe ich schon am späten Vormittag, gemeinsam mit der anderen Mitmutter. Obwohl wir so früh losgegangen sind, sind schon so viele Menschen unterwegs, dass wir ständig ausweichen müssen. Überall im Unterholz haben Kinder Hütten aus abgestorbenen Ästen gebaut. Vielleicht wird es eine ganze Generation geben, die in diesem Frühjahr den Wald lieben lernt? Für mich verbindet sich der Geruch verwesenden Bärlauchs Tag um Tag mehr mit der dumpfen Sorge um die nächsten Wochen und Monate. Wann werden wir wieder angstfrei und ohne Mindestabstand mit anderen Menschen zusammen sein können? Reisen, Konzerte besuchen, Essen gehen, Urlaub machen?

Am Abend bin ich gedrückter Stimmung. Es tut gut, dass die große Schwester anruft. Auch ihr macht es Sorge, dass wir nicht wissen, wie es mit den Einschränkungen weitergehen wird. Aber irgendwann lachen wir wieder und erzählen uns auch die guten Dinge: von den Wildbienen, die im Bienenhotel auf dem Balkon der großen Schwester leben und den ganzen Tag dort herumsummen; vom Online-Bauchtanzkurs, für den ich in dieser Woche eine interessante Probestunde mitgemacht habe.

Ja, es geht uns weiterhin gut.

Die Ferien erreichen

Woche 3.

Das Leben mit den Ausgangsbeschränkungen wegen des Corona-Virus ist fast schon Routine, und es macht uns sehr müde.

Der Fünfzehnjährige hat es beim Joggen übertrieben und joggt nicht mehr; dann geht auch noch sein Fahrrad kaputt, also fährt er auch nicht mehr Fahrrad. Er zieht sich nach dem Frühstück zwar noch an, zieht aber den Bademantel über den Pullover und rollt sich auf der Matratze zusammen, wo ich ihn aufstöbern und dringend dazu anhalten muss, den inneren Siebenschläfer zu überwinden und sich an seine Schulaufgaben zu setzen.

Die Sportstunde von Alba Berlin im Internet ist auch nicht für Mietwohnungen geeignet: Beim Hüpfen bekomme ich Angst um die Deckenlampen der Familie unter uns; und als dann noch der Ellenbogen des Fünfzehnjährigen im Auge des Elfjährigen landet, ist es aus mit dem Online-Sport.

Der Elfjährige ist zwar ein wenig privilegiert, weil er seinen Stiefbruder sehen und mit ihm spielen kann, aber er hängt trotzdem durch, klagt darüber, wie viel anstrengender die Schule zu Hause ist als die Schule in der Schule, und sitzt schon morgens bedrückt am Frühstückstisch. Wir haben uns am Wochenende den Film „Und ewig grüßt das Murmeltier“ angesehen, aber mein Rat, es wie Phil zu machen und das Beste aus der unabänderlichen Situation herauszuholen, löst beim Elfjährigen nur noch mildes Genervtsein aus.

Ich arbeite mich durch meinen Homeoffice-Arbeitsberg wie die Raupe Nimmersatt durch das Angebot des Obsthändlers – unser Obsthändler, a propos, hat leider inzwischen geschlossen. Mein psychosomatisches Bein beginnt vor lauter Bewegungsmangel so sehr wehzutun, dass ich Hilfe brauche, zauberische osteopathische Wunderhilfe. Dank einer Regelungslücke in den Corona-Verordnungen kann ich die sogar bekommen, nur muss ich dafür die U-Bahn benutzen: ein hoher Preis. Sie ist immernoch zu voll, um irgendwie Abstand zu anderen Menschen zu halten. Wäre ich – wie es die ganz große Schwester gerne formuliert – hier die Königin, dann würde ich das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes in der Berliner U-Bahn vorschreiben. Und beim Joggen, aber das kommt später. Erst einmal fahre ich – ausgerüstet mit einer selbstgenähten Maske, die sich wie ein Maulkorb anfühlt und das Naseputzen unmöglich macht, was sehr ungünstig ist – tapfer meine fünf Stationen U-Bahn und bin erleichtert über jeden, der auch so ein Ding trägt: Männer mit dem Baumarktmodell, das von weitem so aussieht, als bestehe es aus Styropor; Asiatinnen mit schicken Papiermasken, die eleganter befestigt werden als alles, was es derzeit nirgendwo zu kaufen gibt; und Kreuzberger Kiezbewohner mit der coolen schwarzen Stoffmaske, auf er nur noch der kleine Totenkopf fehlt.

Die osteopathische Behandlung hilft mir sehr; und ich bringe auch den – nicht ganz unvorhergesehenen – Rat mit nach Hause, mich mehr zu bewegen. Von nun an gehe ich morgens eine kleine Runde („Wir simulieren jetzt den Schulweg“, mache ich es dem Elfjährigen schmackhaft, und dem tut das richtig gut, besonders, weil wir sogar an einem frischen Baumschnitt vorbeikommen und uns dort Osterzweige mitnehmen können); und dann eine größere am Nachmittag. Nachdem mich ein Jogger mit einem Abstand von höchstens fünfundzwanzig Zentimetern überholt und mir dabei grässlich ins Ohr geschnauft hat, vermeide ich dabei die größeren Spazierwege und wage mich Tag für Tag tiefer in den Stadtwald vor; bis mir kaum noch Radfahrer und Jogger und Hundebesitzer begegnen, sondern nur noch Familien mit Kleinkindern, die irgendwo neben dem Weg Holz für ein improvisiertes Waldhaus zusammentragen, während ihre Eltern erschöpft auf einem Baumstamm sitzen und an den mitgebrachten Reiswaffeln knabbern.

Am Freitag freut sich der Elfjährige riesig auf die Ferien. Wir sind beide enttäuscht, als gegen Mittag nicht etwa eine nette Rundmail vom Klassenlehrer mit guten Wünschen für die Ostertage im Postfach liegt, sondern weitere Schulaufgaben von einer Lehrerin, die das Hochladen anscheinend nicht rechtzeitig geschafft hat. Der Elfjährige verschiebt die Aufgaben schmollend auf den Montag, er will  jetzt frei haben. Am Montag darf er sowieso den Känguru-Wettbewerb der Mathematik nachholen, darauf freut er sich. Ich dagegen hätte mich über einen Feriengruß des Klassenlehrers gefreut; überhaupt, finde ich, wäre ein wenig mehr persönliche Ansprache der Kinder, oder vielleicht doch mal eine Klassenleiterstunde per Videokonferenz, einfach gut gewesen, damit die Kinder sich weniger alleingelassen fühlen.

Immernoch am Freitag – nachdem meine Kinder für ein paar Tage zu ihrem Vater gegangen sind – entscheiden der Hannoverliebste und ich seufzend, dass wir die Möglichkeit, uns als Partner gegenseitig zu besuchen, an diesem Wochenende noch nicht nutzen können; meine Erkältung ist zwar schon viel besser, seine aber noch nicht. Beim Spazierengehen leide ich unter akutem Pärchenneid.

Und trotzdem: Es geht uns allen gut. Wir haben, was wir brauchen. Wir sind nicht allein. Das Internet funktioniert, das Telefon klingelt, per Messenger sehe ich, wie der Hannoverliebste in seiner Sonnenecke Kaffee trinkt; und jeden Abend stoße ich virtuell mit der Patentante des Fünfzehnjährigen an: auf Freunde und Patenkinder, auf den Wald, der gerade zusehends grün wird; auf die Freiheit, die wir uns wünschen und auf alle Orte, an die wir gern reisen wollen, wenn das wieder geht.

Tiefpunkte und Trost

Tag 12 und 13.

Gegen Ende der 2. Homeoffice/Schulschließungswoche hänge ich richtig durch. Zu viele Bilder gesehen, zu viele Artikel gelesen, wie schlimm es werden könnte, wie schwer Covid-19 verlaufen kann und wie Gesundheitssysteme zusammenbrechen oder beinahe zusammenbrechen. Trotz Telefon fehlt mir Gesellschaft, erwachsene.

Ein besonderer Tiefpunkt ist der Einkauf, morgens vor der Arbeit am Freitag: Ich stelle mein Rollwägelchen neben dem Unterstand der Einkaufswagen ab und ziehe mir Einweghandschuhe an. Im gleichen Moment bringt ein Mann seinen Einkaufswagen zurück, zieht seine Handschuhe aus und wirft sie zusammen mit seinem Einkaufsbeleg achtlos in mein Rollwägelchen. Ich werde unglaublich wütend: wahrscheinlich einer von denen, die ihren Abfall auch in fremde Fahrradkörbe werfen, die Welt sein Mülleimer. Kleinlaut entschuldigt er sich. Die Senioren in der Kassenschlange halten garnichts von Sicherheitsabstand und rücken dicht auf. Die Apotheke verkauft dünnen Einmal-Mundschutz für fünf Euro das Stück, Wucherpreise wie im Internet. Ich decke mich mit Schmerztabletten ein – die verkrampfte Wade macht mir wieder große Probleme, Kopfschmerzen habe ich auch ständig.

Später arbeite ich unmotiviert vor mich hin und bin froh, als das Wochenende beginnt. Das bedeutet: Den Dienstrechner zuklappen und in seine Hülle stecken. Auf den Schrank stellen. Der Elfjährige räumt seinen Schulstapel in sein Zimmer. Der private Rechner kommt wieder auf den Schreibtisch. Das LAN-Kabel rollt sich zusammen mit der Verlängerungsschnur zusammen. Ich räume auf und fege durch, der Fünfzehnjährige bringt den Müll weg, der Elfjährige saugt das Wohnzimmer. Alle gehen auch an die Luft, Fahrradfahren, eine Runde Spazieren, mit dem Stiefbruder – der quasi im gleichen Haushalt lebt und sowieso keinen Virus hat, den wir nicht auch abbekommen – in den Hinterhof.

Der Samstag beginnt langsam, wieder mit Kopfschmerzen, jeder darf in seinem Tempo in den Tag starten, spät frühstücken, den Schlafanzug anlassen. Ich mache ein paar kleine Erledigungen. Auf dem Platz vor der Kirche – da, wo wir im letzten Jahr mit den Konfirmationsgästen in der Sonne Fotos gemacht haben – sitzt ein Mann mit Trompete und spielt „Killing me softly“ zum Playback aus der Lautsprecherbox. Rundherum stehen Bänke, die meisten leer, und ich setze mich in die Sonne und höre ihm zu. Ein Stück nach dem anderen spielt er, Musik, die man irgendwoher kennt, Tablet mit Noten auf dem Notenständer, Trompete zwischendurch auf den Knien, lächelt mich und die Frau auf der Bank mir gegenüber kurz an, spielt weiter. Die Frau auf der Bank gegenüber wischt sich verdächtig mit dem Taschentuch im Gesicht herum; auch mir stehen Tränen in den Augen. Kommen unsere von den sich überstürzenden Nachrichten und Veränderungen der letzten Wochen schockgefrorenen Gefühle in diesem Moment wieder in Bewegung? Ist das der Grund, warum wir gerade jetzt Kunst, Musik, Kreativität brauchen? Eine Mutter mit Kinderwagen und zwei weiteren Kindern an beiden Seiten schiebt ungerührt an dem Musiker vorbei, hat vermutlich ganz andere Sorgen. Ein älterer Mann, der mit Einkäufen beladen aus Richtung Supermarkt kommt, legt eine Banane neben den Trompeter. Der lächelt. Ein älteres Pärchen wählt in Ruhe eine besonders sonnig gelegene Bank aus und setzt sich. Eine Frau mit Fahrrad in gelber Warnweste bleibt stehen, ein junger Mann mit Wollmütze klatscht in der Pause zwischen zwei Stücken. Die Frau auf der Bank gegenüber lächelt mir zu. Am liebsten würde ich hier für immer sitzenbleiben.

Mittags kocht der Fünfzehnjährige, und es darf so lange dauern, wie es eben dauert. Ich stelle dem Elfjährigen Reis und Erbsen hin, der isst ein paar Gabeln und geht dann mit dem Stiefbruder in den Hinterhof. Jetzt sind auch die Brot-Käse-Klöße fertig, die der Fünfzehnjährige gemacht hat, und sie schmecken fantastisch. Nicht schlimm, dass ich hinterher die Küche aufräumen muss. Die andere Mitmutter ruft an, und wir verabreden uns – gewagt – auf einen gemeinsamen Kaffee. Wir haben Glück: Die Bänke vor der geschlossenen Schwimmhalle, zwanzig Stufen über dem Weg, auf dem Fußgänger und Radfahrer unterwegs sind, sind frei, und ich gieße ihr – berührungslos, von weitem, mit langem Arm – heißen Kaffee aus meiner Thermoskanne in den von ihr mitgebrachten Becher. Eine Stunde zusammensitzen, reden, lachen. Wie kostbar das ist.

Später schaue ich mit den Jungs „Und ewig grüßt das Murmeltier“ an: Filmnachmittag ohne Kino, Ausleihe im Internet, nur ein paar Klicks, wer hätte das gedacht.

Und in der Flamenco-Gruppe wird dieses fantastische Video vom Staatsballett Berlin geteilt. Kunst, Musik, Kreativität: für den langen Atem, den wir für die nächsten Wochen brauchen werden, wenn der Frühling da draußen stattfindet und wir – meistens – hier drin allein sind.

Alltag im Ausnahmezustand

Tag 8, Tag 9, Tag 10.

Unser Alltag spielt sich ein. Aufstehen um halb sieben. Die Playlist vom Cosmo-Radio anschalten zur Morgengymnastik. Frühstückstisch decken und den Fünfzehnjährigen wecken. Die ersten Nachrichten hören.

Um acht Uhr kommt der Elfjährige von seinem Vater, er verbringt seine Heimschultage auch in der Papawoche bei mir. Mein Laptop steht für ihn auf dem Wohnzimmertisch bereit; mein dienstliches auf dem Schreibtisch. Auf dem Bügelbrett vor dem Drucker kann das Laptop geparkt werden, wenn etwas auszudrucken ist. Der Fünfzehnjährige arbeitet mit seinem neuen Laptop in seinem eigenen Zimmer. Der Schultag beginnt.

Wenn etwas einzukaufen ist, mache ich das am liebsten jetzt gleich. Ich ziehe mir dicke Handschuhe an (bei der Kälte ist das ziemlich ok) und gehe einkaufen. Inzwischen haben wir auch eine Packung Einweghandschuhe hier stehen. Und ein (selbstgenähter!) Mundschutz liegt bereit, weil ich wirklich erkältet bin – aber laut online-Fragebogen-Vorauswahl ein Test auf das Corona-Virus nicht in Frage kommt. Toilettenpapier ist kein Problem mehr; die Beschaffungsherausforderung dieser Woche ist Mehl. Dabei würde ich gern mit den Jungs einen Kuchen backen. Ansonsten gibt es fast alles. Die Kassiererin sitzt geschützt hinter einer dünnen Plexiglasscheibe. Das ist gut.

Zu Hause Hände schrubben, Einkauf auspacken. Schnell mit der Kaffeetasse zum Rechner. Im Handy ein Gruß vom Hannoverliebsten. Mails, Aufgaben, Anliegen der Kinder, Teammeeting. Zwischendurch bringe ich den Kindern ein Stück Schokolade oder einen Toast mit Honig, wasche Gardinen, bestelle mir ein neues Handy. Meine Sim-Karte ist auch schon volljährig und muss mal durch eine frischere ersetzt werden – die Tage zu Hause schaffen die Gelegenheit, mich um solche ungeliebten Themen zu kümmern.

Mittags koche ich Kartoffeln (abwechselnd mit Möhren, Erbsen oder Quark) für den Elfjährigen. Für den Fünfzehnjährigen und mich versuche ich abends vorzukochen: Paprikaquiche, Hühnersuppe… Der Fünfzehnjährige hat sich auch schon angeboten, das dann und wann zu übernehmen, und alle seine Lieblingsgerichte aufgezählt.

Weiterarbeiten. Den jammernden Elfjährigen motivieren, der schnell verzweifelt, wenn Schulaufgaben des Vortages erst am Abend ins Lernsystem geladen wurden und nun im Nachhinein zusätzlich bearbeitet werden müssen, wenn eine neue Lernplattform zu erkunden ist oder Arbeitsblätter sich weigern, in den Drucker zu flutschen. Aber er hat schon sehr viel über den Umgang mit dem Computer und den verschiedensten Lernplattformen gelernt und wird von Tag zu Tag selbständiger. Mein Kaffee wird kalt, ich friere. Jacke an, heißen Tee kochen. Weitere Meetings am Telefon. Ein Telefonat mit einer britischen Kollegin, die ganz verzweifelt klingt. Vor zehn Tagen habe sie einen Einkauf bestellt. Heute sei er geliefert worden – aber die Hälfte fehle. Sie hat Angst, zum Supermarkt zu gehen, aber sie muss, sie hat kaum Lebensmittel.

Der Elfjährige hat unterdessen schon zu Ende gearbeitet und geht wieder nach nebenan zu seinem Vater. Der Fünfzehnjährige hat seine Aufgaben – so scheint es – auch erledigt und geht raus, eine Stunde Fahrradfahren. Wenn ich meinen Rechner ausschalte, mag ich auch als erstes in die Sonne gehen, und wenn es nur eine kleine Runde ist. Im Stadtwald kann man kaum anderthalb Meter Abstand zu den anderen Spaziergängern halten, so voll ist es. Auf der Einkaufsstraße ist immernoch relativ viel Betrieb. Auf dem Sportplatz spielt eine Großfamilie Fußball und ein paar Jugendliche sitzen zusammen – keine Polizei in Sicht.

Der Spätnachmittag zu Hause: Online bestellen wir T-Shirts und kurze Hosen für den Fünfzehnjährigen, auch wenn der Frühling gerade weit weg zu sein scheint. Ich räume ein bisschen Wäsche weg. Ich wasche ab, ich koche vor. Der Fünfzehnjährige macht Abendessen und ich schreibe unterdessen ein paar Nachrichten an Freunde und Familie. Das ist sehr entspannt – vielleicht war meine Idee gut, eine Liste mit Hausarbeiten aufzuhängen und die Kinder zu bitten, sich morgens für zwei oder drei kleine Aufgaben einzutragen. Vielleicht vermeiden wir ein bisschen Streit. Vielleicht habe ich den einen oder anderen ruhigen Moment mehr – so wie jetzt.

Nach dem Abendessen spielen wir eine Runde oder schauen gemeinsam einen Krimi und dann die Tagesschau. Das Mailpostfach muss noch durchgesehen werden; der Hannoverliebste hat ein paar lesenswerte Artikel geschickt, die große Schwester einen Link zu den Fotos vom Geburtstag unseres Vaters, die Schule informiert darüber, dass die Abiturprüfungen nun doch verschoben werden müssen. Ich bin erleichtert, dass es den Fünfzehnjährigen nicht betrifft.

Zeitig bin ich müde. Telefoniere noch etwas, lege mich schlafen.

Bisher keine Zeit für die Steuerklärung oder die Fotoalben der Kinder. Das mag noch kommen.

Dankbar und sorgenvoll und erschöpft – und traurig angesichts der Bilder aus Italien. Das geht gleichzeitig. So fühlen wir uns.

Homeoffice, Homeschool

Heute ist Tag 3, an dem unser Leben sich zu Hause abspielt. Ich bin müde. Dabei geht es uns gut. Ich kann arbeiten, wir sind gesund. Keine Existenzängste.

Aufstehen erst um 7 Uhr. Das ist – diese Erleuchtung kam mir heute – der Grund dafür, dass die halbe Stunde, die ich sonst in der S-Bahn mit Lesen verbringe, an Homeofficetagen immer spurlos verschwunden ist. Frühstück halb acht. Um acht müssen die Kinder ihre Heimbeschulung beginnen.

Die sieht im Moment so aus, dass der Fünfzehnjährige zu jeder Schulstunde Aufgaben vom Lehrer bekommt. Per Mail. Die sollen in der Zeit erledigt werden, in der sonst der Unterricht stattfinden würde. Manchmal kommen die Aufgaben aber auch erst nachmittags an oder der Fünfzehnjährige denkt, dass keine kommen und entdeckt sie zu spät. Wann er das alles nacharbeiten soll, haben wir noch nicht herausgefunden.
Der Elfjährige soll im „Lernraum Berlin“ arbeiten, das scheint darauf hinauszulaufen, dass man für jedes einzelne Schulfach Arbeitsblätter – mit jeweils unterschiedlichem Abgabedatum pro Fach –  ausdruckt, ausfüllt, fotografiert und wieder hochlädt, was ziemlich mühselig ist. Ich habe inzwischen entdeckt, wie man Textfelder in pdf-Dateien einfügt, aber ausgedruckt und im Hefter abgeheftet werden muss der bearbeitete Stoff dann ja doch, also nur eine mittelgroße Arbeitsersparnis. Außerdem gibt es „Quizlets“ und „Padlets“ (nie zuvor davon gehört) und Elternbriefe und gefühlte 30 Mails von den hyperaktiven Eltern der Klasse des Elfjährigen, in denen über die Einrichtung von Online-Videounterricht beraten wird. Wenn die Lehrer sich dazu nicht einladen lassen, wollen es die Eltern moderieren, jeden Tag eine Stunde lang.
Dabei haben wir doch gar keine Zeit – wir müssen Toilettenpapier jagen (ok, das war inzwischen erfolgreich, rechtzeitig, bevor die letzte Rolle verbraucht war), ich muss um 8.30 Uhr an meinem dienstlichen Rechner sitzen und habe wirklich zu tun. Wirklich meinen kompletten Arbeitstag lang zu tun, unterbrochen nur durch eine Mittagspause, in der ich wahllos irgendetwas auf den Tisch stelle, damit wir essen und dann weiterarbeiten können. Und unterbrochen von den Anliegen der Kinder.

Gegen halb vier habe ich Feierabend oder kann einfach nicht mehr. Ich gehe mit den Kindern – oder mindestens mit dem Elfjährigen – eine Runde raus in die Sonne. Bisher haben wir es hingekriegt, die Tischtennisplatte für drei Partien nutzen zu dürfen, bevor zu viele andere Leute Schlange stehen. Und dann haben wir immer noch eine kleine Runde durch den Park gedreht.

Der Strom der schulischen Mails reißt bis abends nicht ab. Wir spielen eine Runde, ich koche irgendwas. Wir sehen ein wenig fern, um uns zu entspannen, und vielleicht schaue ich dann noch Nachrichten. Ich telefoniere. Ich schreibe Messenger-Botschaften. Die Patentante des Fünfzehnjährigen schickt lustige Bilder und Videos, das tut gut. In der Küche steht dann meistens noch ein Abwaschberg.

Dringend: Unsere technische Ausstattung verbessern. Drei Personen, zwei Laptops, eine Computermaus. Spätestens heute, an Tag 3, fällt auf, dass das so nicht gehen kann. Aber wie aufrüsten, wenn die Läden alle geschlossen haben und Online „verlängerte Lieferzeiten“ angekündigt werden?
Auch dringend: Ein Buch lesen. Einen Kaffee in der Sonne trinken. Die Termine der nächsten Woche absagen, alle. Die Allergiebezüge des Elfjährigen waschen; die Steuererklärung anfangen; den Balkon bepflanzen. Wäsche legen. Bügeln. Aufräumen.

Aber bis zu „auch dringend“ komme ich nicht. Ich bin müde.

WmdedgT – 1/2020

Kaum beginnt das Jahr, ist auch schon wieder WmdedgT-Tag. Frau Brüllen lädt uns alle ein, zu erzählen, was wir alle eigentlich den ganzen Tag machen – und alle, die mitschreiben, finden sich hier.

Ca. 3 Uhr. Ich bin kurz wach und stecke meinen Wecker unters Kissen, damit er später nicht die Kinder gleich mit wachklingelt. Gestellt ist er auf 5.45 Uhr, der Zehnjährige spielt bei einem Schach-Turnier mit, das ist in Potsdam, der Weg ist weit, die Gruppe muss um sieben Uhr schon losfahren.

6.15 Uhr. Irgendwas piept ganz leise unterm Kissen. Au weia, verschlafen. Schnell in die Küche, eine Trinkflasche spülen und füllen, die allerletzten Lieblingsplätzchen in eine Dose stecken, zum Mitnehmen. Ich setze Wasser auf, mache schon mal die Tür zum Zimmer des fest schlafenden Zehnjährigen auf, stelle Müsli auf den Tisch und schäle eine Birne, die er sowieso nicht essen wird. Aus Prinzip.
Dann versuche ich, mein murrendes Kind wachzustreicheln. Ich brauche auch nur ungefähr vier Anläufe. Wir frühstücken schnell, ziehen uns an, ich fahre dem Zehnjährigen mit der Bürste durch die Haare und packe die Trinkflasche in seinen Rucksack. Zähneputzen, losgehen, Fahrscheine nach Potsdam müssen wir ja auch noch kaufen.

Die Stadt schläft noch tief und fest, als wir zur S-Bahn gehen. Nur die anderen Schachspieler sind schon wach, sammeln sich auf dem Bahnsteig, lächeln sich zu. Sie wissen, welche Tapferkeit es verlangt, in den Ferien drei Tage lang so früh aufzubrechen. Gemeinsam mit einer anderen Mutter winke ich der Bahn hinterher, wir wechseln noch ein paar Worte. Ich nehme vom Bäcker zwei Brötchen mit und gehe wieder nach Hause. Im Osten wird der Himmel ganz langsam hell.

Der Vierzehnjährige hat unseren Aufbruch heute verschlafen, also lege ich die Brötchentüte ab und falle selber auch wieder ins Bett.

8.50 Uhr. Der Vierzehnjährige steht auf. Wir kochen – und teilen uns – das eine Ei, das sich im Kühlschrank noch findet, essen die beiden Brötchen und die für den Zehnjährigen geschälte Birne auf. Irgendjemand hat über Nacht schon wieder das ganze Geschirr benutzt und in den Abwasch gestellt, aber ehe ich den Vierzehnjährigen auch nur bittend ansehen kann, winkt er schon ab und meint, er würde mir viiiiiiel lieber alles andere helfen, wenn er nur nicht abwaschen muss.
Weil ja in zweieinhalb Wochen der französische Austauschschüler kommt und dann alles schön aussehen soll, habe ich beschlossen, dass heute Fensterputzen angesagt ist, und nutze das Hilfsangebot des Vierzehnjährigen gleich mal dafür aus. Zusammen kriegen wir es sogar hin, den großen Querflügel des Fensters im Zimmer des Zehnjährigen zu reinigen, den man aushängen muss und dann von außen trotzdem nur von der obersten Leiterstufe aus erreicht, wenn man sich sehr, sehr weit aus dem Fenster lehnt. Das Experiment glückt, und bis zum Mittag habe ich zwei weitere Fenster geputzt, ein paar nicht mehr so gut riechende Adventszweige entsorgt und sogar meine Haarbürste saubergemacht. Es ist Luxus, sich um unwichtige Dinge kümmern zu können, Ferienluxus!

11.30 Uhr. Ich spiele mit dem Vierzehnjährigen eine Partie Reversi und muss leider eine Niederlage einstecken – schon die zweite in diesen Tagen, dabei habe ich mich in diesem Spiel mal für relativ unbesiegbar gehalten. Grrrr.
Ich koche – Linsen, Rosenkohl, Hirse – und wir essen. Der Vierzehnjährige wünscht sich noch eine Partie Scrabble (wir haben viel Freude an „Käsequote“ und „Keimteig“, wir spielen sowieso, ohne Punkte aufzuschreiben), hinterher sinke ich aufs Sofa und bin eingeschlafen, ehe ich auch nur eine einzige Whatsapp-Nachricht beantwortet habe. Kurz vor zwei werde ich wieder wach und verabrede mich mit der anderen Mitmutter auf einen Spaziergang im Stadtwald. Wir nehmen uns unterwegs vor, dieses Jahr ganz, ganz bestimmt unbedingt beide wieder tanzen zu gehen, vielleicht finden wir ja sogar einen Kurs, den wir gemeinsam besuchen können. Gegen drei bin ich wieder zu Hause, die Schachkinder sind noch nicht zurück. Ich suche für die große Schwester ein Rezept aus dem Internet und schicke es ihr, mache mir einen Kaffee, stelle die erste Waschmaschine seit Weihnachten an.

Ungefähr um vier ist der Zehnjährige zurück, er hat insgesamt 2,5 von 5 Punkten erreicht und ist zufrieden. Und extrem erschöpft! Ich heile seine Erschöpfung mit ein paar Honig-Toastbroten, und danach spielen wir das neue Weihnachtsspiel, Halali. Drei Runden reichen nicht aus, um mich für den Kampf zwischen Jägern und Holzfällern auf der einen, Bären und Füchsen auf der anderen Seite zu begeistern. Irgendwie verliere ich immer, das Spiel verlangt zu viel Vorausdenken, das hat der Zehnjährige gerade zweieinhalb Tage lang geübt.

Dann Abendessen. Hinterher bereite ich in der Küche alles für Montagmorgen vor, wir müssen alle drei früh los. Die Kinder spielen so lange an ihren Handys und haben sich auch noch eine halbe Stunde Fernsehen gewünscht. Während der Zehnjährige sich danach ins Bad trollt, schaue ich mit dem Vierzehnjährigen noch Tagesschau. Bedrückende Bilder aus Iran und Irak. Der Vierzehnjährige würde sehr, sehr gerne noch Tatort gucken, aber ich weiß schon, dass ich ihn nach einer halben Stunde da nicht mehr losgeeist kriege. Außerdem bin ich zum Telefonieren verabredet. Also schalte ich den Laptop aus und schaue mein Handy auf Nachrichten durch. Der Vierzehnjährige macht sich bettfertig und darf noch lesen.

21.00 Uhr. Die aus Berlin verzogene Mitmutter ruft an – monatelang haben wir nichts voneinander gehört, jetzt gibt es viel nachzuholen.

22.30 Uhr. Ich stelle das Telefon auf die Ladestation zurück, die Heizung und das WLAN ab. Bad, Buch, Bett. Zu müde zum Lesen, also Licht aus. Der Wecker steht wieder auf 5.45 Uhr.

Adventswochenende

Im Schlafanzug die Lieblingsplätzchen des Zehnjährigen backen
Nach dem Vierzehnjährigen Ausschau halten, der einkaufen wollte und erstaunlich lange wegbleibt
Die Besuchsfreundin, die allerliebste, begrüßen und umarmen
Kochen Essen Abwaschen (da capo ad libitum) und Kaffee, und Reden
Mit dem Vierzehnjährigen streiten, der so gar keine Lust hat, sich auf die Englischklassenarbeit vorzubereiten
Spielerunde mit quirligen Kindern
Doch einen Stern falten, und dann noch einen
Dem Vierzehnjährigen englische Youtube-Filme über Australien raussuchen
Mit der Besuchsfreundin im Internet nach der perfekten Pfanne suchen (mit Titanic-Beschichtung und Hotspot)
Ins Batt fallen

Früh um acht Uhr Brötchen und Croissants holen
Dabei in meinem Gummistiefel ein verspätetes Nikolausgeschenk vom Zehnjährigen finden
Mit der Besuchsfreundin spontan auf den kleinen Weihnachtsmarkt fahren
Ihr an der Bushaltestelle das ganze Elend einer Textnachrichten-Kommunikation mit einem potentiellen Date zeigen
Schmuck aus pflanzlichem Elfenbein bewundern, Creme de Leche kosten, an gefilzten Quallen freuen
Kochen Essen Abwaschen (da capo ad libitum) und Kaffee
Die Besuchsfreundin zum Abschied fest umarmen
Den Vierzehnjährigen motivieren, doch noch eine Seite Englisch schreiben zu üben
Dienstlaptop anschalten und etwas Arbeit, bis der Chef vom Chef offiziell durchgibt, dass alles auf Montagmorgen verschoben ist
Abendessen und dabei Menü und Programm für Heiligabend planen
Den Zehnjährigen an Mathe-im-Advent erinnern und die Phyisk-im-Advent-Aufgabe mit halben Ohr mitkriegen
Textnachrichten von lieben Menschen
Küche aufräumen und gut vorbereiten: Montag müssen beide Kinder zur 1. Stunde
Bügelbrett aufstellen, Kopfhörer auf, superkitschigen Weihnachtsfilm an

Bloggen, Wecker stellen.

WmdedgT – 5.12.2019

Ein letztes Mal in diesem Jahr lädt Frau Brüllen uns zum Tagebuchbloggen ein. Alle Texte dazu finden sich hier.

Gegen halb sechs drifte ich ganz langsam aus einem Traum ins Wachsein. Ich könnte noch eine Stunde schlafen – der Vierzehnjährige hat heute erst zur 2. Stunde Unterricht – aber im Kopf beginnt es sofort zu rattern. Ich entwerfe whatsapp-Antworten, ein Blogtext beginnt sich zu formen, Punkte für die heutige To-Do-Liste fallen mir ein. Um halb sieben stehe ich dann doch auf. Unter der Tür des Vierzehnjährige schimmert schon Licht, mir fällt ein, dass ich seine Handynutzungszeit in der App noch nicht von Papawoche auf Mamawoche umgestellt – d.h. jeden Tag um eine halbe Stunde reduziert – habe, also mache ich das schnell. Dann Bad.

Um Viertel nach sieben bringt der Vater meiner Kinder die Sachen vom Zehnjährigen vorbei, der nach der Schule bei mir eintrudeln wird. Halb acht ist Frühstück, das ist wunderbar spät, der Vierzehnjährige räumt den Tisch ab, während ich schon zur Arbeit losgehe. In der S-Bahn beantworte ich ein paar Handynachrichten, aber eigentlich ist es viel schöner, aus dem Fenster zu schauen, denn der Morgen ist blassblau und sonnig.

Im Büro ist Donnerstagmorgen die beste Zeit, um meine Orchideen zu wässern. Dabei treffe ich in der Küche eine Kollegin – auch alleinerziehend, mit Kindern im gleichen Alter wie ich – , mit der ich kurz austausche, wie viele Klassenarbeiten die Kinder noch schreiben müssen, wie die Stimmungslage in ihrer und meiner Abteilung ist und wer an Weihnachten voraussichtlich wie viel Urlaub nehmen kann. Im Posteingang 3MB Mails mit Arbeitsaufträgen, die mich bis mittags beschäftigen. Kantine. Weiterarbeiten. Trotz Kaffee überfällt mich eine grässliche Müdigkeit, und der undefinierbarer Ziegelstein, der als Nudelauflauf getarnt in meinem Magen gelandet ist, liegt dort so schwer, dass ich auf den Geburtstagskuchen der Kollegin im Büro um die Ecke und auf den von der Geschäftsleitung als kleines Advents-Event ausgegebenen Glühwein lieber verzichte.

Arbeitsende pünktlich um drei, aber nur, weil heute noch Weihnachtsfeier in der Schule des Zehnjährigen ist. Also schnell nach Hause. Der Himmel schon wieder blassblau, die Sonne beleuchtet die vielen Rohbauten entlang der S-Bahn – Eigentumswohnungen, die sich niemand, den ich näher kenne, wird leisten können – jetzt von der anderen Seite. Ich besorge zwei Baguettes. Zu Hause lege ich mich kurz hin und hoffe, die Müdigkeit durch ein Feldherrenschläfchen in den Griff zu bekommen, aber der Vierzehnjährige kommt nach ungefähr einer halben Minute ins Zimmer, um aus den neben meinem Bett gestapelten Plätzchendosen einen neuen Teller voller Naschwerk zusammenzustellen und der Zehnjährige kommt dazu, um sicherzustellen, dass von seinen Lieblingssorten auch genug Plätzchen auf den Teller kommen. Wisst ihr, in was Mütter sich verwandeln, die nicht genug Schlaf bekommen?, ächze ich mit halbgeschlossenen Augen – in schreckliche Monster! – Meine Kinder kichern. Statt Schläfchen setze ich also Kaffee auf. Ich schneide Baguette, hole das vorbereitete Blech mit Datteln im Speckmantel vom Balkon und stecke es in den Ofen, packe Käsecremes, Geschirr, Spiele zusammen. Der Zehnjährige hat in der Papawoche kein Schulessen für Dezember bestellt, das schaffen wir auch noch, bevor wir uns wieder anziehen und uns auf den Weg zur Schule machen.

Gegen halb sechs trudeln Eltern und Kinder erwartungsvoll im Speisesaal der Schule des Zehnjährigen ein. Er ist stimmungsvoll mit Lichterketten geschmückt, es sind Tische gestellt und Plätzchen auf Tellern arrangiert; es gibt Fotos vom Wandertag, den leckersten Schokoladenkuchen, den ich je gegessen habe, und Gelegenheit, mit verschiedenen Eltern ins Gespräch zu kommen, von denen ich erst ganz wenige kenne. Die Kinder toben unterdessen auf dem Schulhof herum und spielen im Dunklen Verstecken und Fange. Nach zwei Stunden knipst der Klassenlehrer unbarmherzich das Deckenlicht an, bittet um Hilfe beim Aufräumen und freut sich sichtlich auf seinen späten Feierabend. Der müde Zehnjährige klagt mir in der S-Bahn sein Leid – diese oder jene Klassenarbeit könnte schlecht ausgefallen, seine mündliche Mitarbeit nicht ausreichend für eine gute Note sein und in seiner Klasse sei er auch nicht glücklich gerade. Meinem müden Kind erscheint die ganze Welt düster; gut, dass wir bald zu Hause sind. Dort muss noch der Ranzen gepackt und „Mathe im Advent“ und „Physik im Advent“ gemacht werden, während ich spüle und der Vierzehnjährige über die Reste herfällt, die wir vom Buffet wieder mit nach Hause gebracht haben.

Der Vierzehnjährige putzt noch seine Schuhe, der Zehnjährige schafft das nicht mehr und handelt mit mir eine Verschiebung des Nikolaustages aus. Meinetwegen, sage ich, und der Vierzehnjährige bietet an, die Schue des Zehnjährigen mitzuputzen (für fünf Euro? drei? einen?), aber der spart sein Geld und bestellt den Nikolaus für Sonntagmorgen. Ich bringe ihn schnell ins Bett. Dann sinke ich selbst aufs Sofa und schaue fern. Ungefähr alle fünf Minuten rufe ich: Vierzehnjähriger! Du musst jetzt ins Bett! – und irgendwann geht er sogar.

Dann nur noch ich. Stille. Bloggen. Gute Nacht!

Was ich mir wünsche (Dezember 2019)

Zwei oder drei gute Bücher für die dunklen Abende.
Und Abende mit Freunden, lachend, erzählend.
Keine Katastrophen in den Nachrichten morgens
um sechs Uhr dreißig. Stattdessen ab und zu Wunder.
Zeit zum Schreiben, im Kopf genug Raum für ein paar neue Gedanken.
Jeden Tag jemanden anlächeln, der das Lächeln erwidert,
und in der S-Bahn einen Sitzplatz weit weg von dem, der schon wieder
so laut seine Nase hochzieht.
Einmal wenig genug erkältet,
um in die Sauna zu gehen, und dann am liebsten
einen Aufguss mit Grüntee und Zitrus.

Zwischen Büro und Schulweihnachtsfeier ein bisschen Stille.
Eine geschenkte Stunde an Tagen, an denen die Kinder
für Sprachklassenarbeiten lernen. Anrufe und Mails statt Whatsapps.
Dass weder Toilettenpapier noch Geduld im falschen Moment ausgehen
(und der Sauerstoff uns über den Winter reicht und gerne viel Regen).
Einen Euro in der Tasche für jemanden, der mich bittet.
Vielleicht einen Weihnachtsmarkt besuchen, ganz früh,
wenn die Buden erst öffnen,
und abends
in fremden Fenstern Herrnhuther Sterne und über den Dächern
den Orion sehn.

Einen Weihnachtsbaum (der darf auch schief stehn),
noch Geschenkideen für Menschen, die mir lieb sind. Bitte
kein Kaufhaus
betreten müssen (und wenn doch, dann nur die Abteilung
mit der Sockenstrickwolle) – und dem Paketboten,
der mich freundlich grüßt seit er mir mal ein Möbelstück in den Keller geschleppt hat,
einen Weihnachtsgruß geben.
Dass am Heiligen Abend die Kinder irgendwann hochglücklich einschlafen.
Ein bisschen Feuerwerk am Silvesterhimmel, funkelnde Räder; jemanden,
der mich umarmt und die richten Wünsche weiß, und
dass der Sekt gut schmeckt und dass später die Ohrstöpsel halten.

Von vorn

Die Ferien sind vorbei. Keinen richtigen Urlaub zu haben, hat mir gefehlt, das möchte ich nächstes Jahr wieder anders. Trotzdem war es schön, länger schlafen zu können, mein Müsli morgens auf dem Balkon zwischen Ringelblumen, Sonnenhut und reifenden Paprika zu essen und die Windenblüten zu zählen. Ich hatte auf zwei Zetteln schöne Unternehmungen und Projekte oder Pflichten sowohl für die drei Ferienwochen mit meinen Jungs als auch für meine drei Ferienwochen allein aufgeschrieben. Die meisten schönen Dinge, die ich mit den Kindern vorhatte, haben wir gemacht. Die meisten Dinge, die ich selbst gern gemacht hätte, sind nichts geworden. Aber dafür war ich spontan in Dänemark, am Meer, das war wunderbar.

Mit meinen Söhnen galt es, das Familienleben neu auszutarieren. Was kann ich fordern, wo möchte ich loslassen – gelassener werden – und gerade den Vierzehnjährigen selbst Verantwortung übernehmen lassen? Was brauche ich selbst, um einen freien Tag mit den Kindern schön zu finden? Und vor allem: Was möchte ich selbst gern tun und woher nehme ich die Freiheit dafür? Diese Fragen nehme ich ins neue Schuljahr mit, in dem ich mich schon am ersten Tag wieder in die Basis-Versorgungsstation der Familie mit Rundum-Service verwandle, Kleidung, Essen, Sauberkeit, Regeln, Struktur, Unterschriften, ein offenes Ohr, Zärtlichkeit und die Erfüllung von Wünschen bereitstelle.

Der Vierzehnjährige verbringt die erste Schulwoche im Jugendhaus der Kirche mit der Jungen Gemeinde. Das freut mich, auch wenn die Kinder vielleicht zu wenig schlafen und deshalb ein wenig holprig ins neue Schuljahr starten werden. Aber ich bekomme am Montagmorgen – nach der ersten dort verbrachten Nacht – eine begeisterte Sprachnachricht; anscheinend hat der Vierzehnjährige eine Menge Spaß. Nachmittags kommt er vorbei, es sind Bücher einzubinden, Formulare auszufüllen, Schulsachen für den nächsten Tag zu holen. Dann schwirrt er wieder ab, selbständig, mein großes Kind.

Den Zehnjährigen habe ich am Morgen zum ersten Mal in seiner neuen Schule abgeliefert. Gegen neun ist die S-Bahn dorthin angenehm leer, die Straße morgensonnig, Cafés haben geöffnet, an einem Spielplatz mit Tischtennisplatte kommen wir vorbei, an einem Eiscafé, an einem indischen Restaurant. Auf dem Weg schon lernen wir ein Kind aus der neuen Parallelklasse kennen und seinen Vater. Vor dem Schultor mache ich schnell ein Foto von meinem kleinen großen Sohn, bevor wir uns auf die Suche nach dem Klassenraum begeben und ich mich verabschiede. Zwei Stunden Homeoffice, dann hole ich ihn wieder ab, der erste Schultag ist kurz. Eigentlich müsste ich jetzt noch bis zum Abend arbeiten; drei Stunden zusätzliche Wegezeit passen eigentlich nicht in einen Tag, der kein Urlaubstag ist. Aber das wird sich einspielen, der Zehnjährige wird seinen Schulweg bald allein bewältigen können und die Schultage werden spätestens in zwei, drei Wochen ihre übliche Länge erreicht haben, die es Eltern erlaubt, „zwischendurch“ auch berufstätig zu sein.

Auf dem Smartfon, dass der Zehnjährige jetzt bekommen hat, um im Klassenchat Anschluss zu finden und per Öffi-App den Heimweg auch an den vielen Tagen zu finden, an denen die Berliner S-Bahn unzuverlässig ist, habe ich eine Kindersicherungs-App installiert; wir sind noch im Prozess des Experimentierens – wie viel darf jeden Tag gespielt werden; wie viel darf jeden Tag gechattet werden und was muss immer erlaubt sein, damit wir in Kontakt bleiben können, wenn er in der Stadt allein unterwegs ist. Der Vierzehnjährige hat ein Handy anderer Marke und konnte die App nach wenigen Tagen selbständig deinstallieren. Dabei fällt es gerade ihm schwer, sich von Handyspielen loszureißen und um das kümmern, was ihn (jedenfalls nach der unmaßgeblichen Meinung seiner Mutter) wirklich angeht – Schulprojekte, die Bewerbung fürs Schülerpraktikum, Vokabeln.

Am Abend kehrt Ruhe ein. Die Ruhe der Noch-Urlaubszeit: keine Anrufe, keine Nachrichten auf dem Handy. Ich habe mich ein bisschen zu sehr ans Nicht-Kommunizieren gewöhnt; seit wir im letzten Herbst zum ersten Mal allein im Waldhäuschen waren, ist Einsamkeit mein Thema gewesen. Ja, ich hätte gerne wieder so etwas wie ein eigenes Leben. Und Menschen um mich, Erwachsene.

Hoffen auf ein gutes Jahr.