Unsere Fischlaternen sind schön geworden! Obwohl ich die ganzen Profitricks nicht kannte und wir einfach darauflosgekleistert haben. Traurig hängen sie in den Zimmern der Kinder herum, ausgerechnet in der Martinstagswoche musste der hustende Vierjährige dann doch zu Hause bleiben.
Nachdem die Schule in den letzten Wochen unser Leseverhalten mit verschiedenen Projekten optimiert hat, kommt jetzt der Rest unseres Lebens an die Reihe. Los ging es an einem dieser Mittwochnachmittage, an denen ich die Kinder von ihrem Papa wiederbekomme und an denen dem Ranzen des Achtjährigen – so ähnlich wie der Büchse der Pandora – regelmäßig immer neue zeitraubende Projekte und Aufgaben entsteigen. Neues Thema in der dritten Klasse: Fitness und Bewegung.
Nicht, dass ich irgendwas gegen Bewegung hätte, keineswegs! Dass ich keinen Sport mache – jedenfalls in letzter Zeit nicht gerade regelmäßig – ist ganz bestimmt keine Entscheidung gegen Sport. Sondern eine Entscheidung für schrecklich viele andere Dinge, die ich auch wichtig finde.
Der Achtjährige jedenfalls darf sich drei Wochen lang – puh, die erste haben wir hinter uns – für jeweils 10 Minuten sportliche Bewegung einen Punkt gutschreiben. Täglich werden die gesammelten Punkte seiner Schulklasse im Internet eingegeben, wo die Sportvereinsstunden und die zu Fuß zurückgelegten Schulwege, die Fußballspiele in den Pausen, der Sportunterricht und das nachmittägliche Toben mit Freunden zu virtuellen Kilometern auf einer virtuellen Europareise werden. Jeden Nachmittag möchte der Achtjährige sich mit mir an den Computer setzen und die neu erreichten Städte anschauen.
Mache ich ja, meinetwegen. Sitzen wir eben eine halbe Stunde länger vor dem Computer.
Bloß dass das die halbe Stunde zwischen Heimkommen, Ranzenpacken und Abendessen ist, in der wir ein bisschen Gymnastik machen könnten. Bloß dass die Kinder auf der Rückseite des Punktesammelheftchens auch dazu angehalten werden, ihren täglichen Fernseh- und Internetkonsum aufzuschreiben und aufzupassen, dass er nicht zu groß wird. Führt das Projekt sich hier mögliciherweise selbst ad absurdum, ein klitzekleines bisschen? Dem Achtjährigen gefällt es aber. Ja, erzählte er eifrig, jeder aus meiner Klasse soll 700 Punkte erreichen! Und wenn wir das nicht schaffen, werden die drei Wochen verlängert!
Rechnen kann ich allemal besser als Sport. Deshalb dauerte es garnicht lange, bis ich heraushatte, dass 700 Punkte in drei Wochen nur mit durchschnittlich 330 Minuten Bewegung am Tag zu erreichen wären. Äh… Hatte der Achtjährige da vielleicht etwas missverstanden? Da die Eltern in einem separaten Flyer herzlich eingeladen wurden, sich mit ihren Kindern für mehr Bewegung zu engagieren, überlegte ich gleich, ob wir unseren Schulheimweg vielleicht etwas langsamer – in 20 statt 10 Minuten? – angehen könnten. Und ob „10 Minuten am Frühstückstisch herumgezappelt“ vielleicht auch einen Punkt wert wäre? Würde ich es damit vermeiden können, dass uns das Schulprojekt als Familie entlarven würde, in der sich die Eltern nicht darum kümmern, dass ihre Kinder ausreichend Bewegung bekommen?
Der Vater des Achtjährigen – der am Wochenende auch schon mal einen ganzen Tag mit den Kindern in der Wohnung herumhängt (missbilligend die Augenbrauen hochzieh), während ich am Wochenende mit den Kindern nur dann auch schon mal einen ganzen Tag in der Wohnung bleibe, wenn wir alle nach einer anstrengenden Woche dringend einen ruhigen Tag brauchen (sehr wichtig!) – verdrehte bloß die Augen, als ich ihn fragte, ob der Achtjährige ihm schon sein Punktesammelheft gezeigt habe. Wieso ausgerechnet im November? fragte ich kläglich. Was kommt als nächstes? fragte er kopfschüttelnd. Kalorien zählen? Eine Liste darüber führen, wie häufig wir uns die Füße waschen?
Nach dem Mittwoch kam der Donnerstag mit vielen schönen Sportvereinspunkten für den Achtjährigen; es kam das Wochenende, es kam ein neuer Mittwoch und mit ihm eine neue Hausaufgabe.
Diese Woche muss der Achtjährige an mehreren Tagen aufschreiben, was er von morgens bis abends so isst.
Och menno. Jetzt kommt alles raus: Dass ich am Wochenende leidenschaftlich gerne absonderliche Currygerichte koche, dass es bei uns ziemlich viel Saftschorle gibt und abends bloß Käsebrote.
Ich weiß es ja: Diese Projekte sind gut gemeint und bewirken wahrscheinlich auch viel Gutes. Und ich freue mich doch darüber – das tue ich wirklich – dass die Lehrerin des Achtjährigen engagiert und motiviert ist, nicht nur Dienst nach Vorschrift macht, sondern sich bemüht, den Kindern Wichtiges nahezubringen und aus ihrem wilden Haufen Drittklässler eine Klassengemeinschaft im besten Sinne zu machen.
Trotzdem seufze ich ein bisschen, jeden Mittwoch. Und das liegt daran, dass ich, wenn der Achtjährige Rechenschaft über sein Tun und Lassen zu Hause ablegen soll, wieder einmal dagegen kämpfen muss, mir die ewige, alte Frage zu stellen: Mache ich es gut genug? Machen die anderen es alle besser, mit links und ohne zu ermüden? Habe ich überhaupt eine Chance – als alleinlebende berufstätige Rabenmutter ohne Garten oder Waldstück zum Toben – es „richtig“ zu machen?
Wenn es mir gelingt, diese Frage beiseite zu schieben, sehe ich klarer: Im Grunde würde ich meinen Kindern gern vieles ermöglichen, was – so, wie unser Leben nun mal organisiert ist – im Alltag nicht geht. Das macht mich sowieso immer wieder unzufrieden. Und genau daran erinnert mich die Schule gerade. Ziemlich oft.