Hässliche Geheimnisse neigen dazu, nicht in geeigneten Momenten ans Licht zu kommen, nicht an friedlichen Vormittagen, an denen alle gute Laune haben und sich spontan ein Familienrat einberufen lässt, in dem in aller Ruhe über alles geredet werden könnte. Nein, ausgerechnet am Sonntagabend, dreieinhalb Minuten vor der Schlafenszeit, als der gebrochene Zeh noch wehtut, der Koffer vom Himmelfahrtswochenende noch garnicht recht ausgepackt ist und der Klassenfahrtskoffer für den Neunjährigen noch eingepackt werden muss, stellt sich heraus, dass der Dreizehnjährige seit einem ganzen Monat heimlich nicht mehr am Schulessen teilnimmt.
Es isst nämlich kein anderes Kind aus seiner Klassenstufe mehr mit.
Und allein zu essen findet er ganz schrecklich.
Irgendwann bin ich nicht mehr wütend, hat der Dreizehnjährige mir seine Beweggründe erklärt, ist die Schlafenszeit lange verstrichen, der Koffer gepackt… und vor mir sehe ich eine lange, traurige Zukunft, in der ich mehr Zeit am Herd verbringen werde, als mein feministisches Herz es sich je hat träumen lassen. Denn wie soll ein pubertierendes Kind bitte ohne eine warme Mahlzeit am Tag groß werden? Noch dazu meins, dessen Hosenweite immer zwei Kleidergrößen weniger beträgt als seine Hosenlänge, und das warmes Essen eigentlich über alles liebt (Während sein Bruder bekanntlich abends unter keinen Umständen etwas anderes als Frischkäsebrote zu sich zu nehmen bereit ist…)?
Meine erschrockene Mail an die Eltern der Klasse – wie handhabt Ihr das eigentlich mit dem Schulessen Eurer Kinder, schmeckt das denen nicht? Finden die das alle uncool? – verhallt ungehört in den Weiten des virtuellen Raums; nur die Mutter der Sitznachbarin und Freundin des Dreizehnjährigen schreibt mir tröstend, dass ihre Tochter sich Reste aufwärmt und manchmal gern Nudeln mit Zucker in die Schule mitnimmt.
Schlaflos liege ich im Bett und raufe mir die Haare. Was tun? Samstags und sonntags ein bisschen mehr kochen, damit montags und dienstags ein Rest zum Aufwärmen da ist? Donnerstags – wenn der Dreizehnjährige allein bei mir ist – gemeinsam kochen? Montags und donnerstags sind aber gerade die langen Schultage, also Geld mitgeben für belegte Brötchen oder für die Igittigitt-Instant-Nudeln – der letzte Schrei unter den Kindern an der Schule des Dreizehnjährigen – aus der Cafeteria? Eine größere Brotbox scheint wenig aussichtsreich, da schon jetzt meistens ein Brot wieder mit nach Hause kommt. Und was bitte machen wir mittwochs und freitags?
Es macht mich traurig, und es macht mich ein bisschen wütend: Statt dass wir froh darum sind, dass an unseren Schulen warmes Essen angeboten wird, erlauben wir unseren Kindern, das uncool zu finden und nachmittags hungrig nach Hause zu kommen; nachmittags, wenn wir selbst auch gearbeitet haben und vielleicht eine halbe Stunde wir selbst sein (auf dem Balkon sitzen, jemanden anrufen, einen Gedanken zu Ende denken, einen Plan schmieden, ein Instrument lernen, eine Revolution anzetteln) könnten – statt Gemüse zu schnippeln und Kartoffeln aufzusetzen.