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Schulessen ist uncool

Hässliche Geheimnisse neigen dazu, nicht in geeigneten Momenten ans Licht zu kommen, nicht an friedlichen Vormittagen, an denen alle gute Laune haben und sich spontan ein Familienrat einberufen lässt, in dem in aller Ruhe über alles geredet werden könnte. Nein, ausgerechnet am Sonntagabend, dreieinhalb Minuten vor der Schlafenszeit, als der gebrochene Zeh noch wehtut, der Koffer vom Himmelfahrtswochenende noch garnicht recht ausgepackt ist und der Klassenfahrtskoffer für den Neunjährigen noch eingepackt werden muss, stellt sich heraus, dass der Dreizehnjährige seit einem ganzen Monat heimlich nicht mehr am Schulessen teilnimmt.

Es isst nämlich kein anderes Kind aus seiner Klassenstufe mehr mit.

Und allein zu essen findet er ganz schrecklich.

Irgendwann bin ich nicht mehr wütend, hat der Dreizehnjährige mir seine Beweggründe erklärt, ist die Schlafenszeit lange verstrichen, der Koffer gepackt… und vor mir sehe ich eine lange, traurige Zukunft, in der ich mehr Zeit am Herd verbringen werde, als mein feministisches Herz es sich je hat träumen lassen. Denn wie soll ein pubertierendes Kind bitte ohne eine warme Mahlzeit am Tag groß werden? Noch dazu meins, dessen Hosenweite immer zwei Kleidergrößen weniger beträgt als seine Hosenlänge, und das warmes Essen eigentlich über alles liebt (Während sein Bruder bekanntlich abends unter keinen Umständen etwas anderes als Frischkäsebrote zu sich zu nehmen bereit ist…)?

Meine erschrockene Mail an die Eltern der Klasse – wie handhabt Ihr das eigentlich mit dem Schulessen Eurer Kinder, schmeckt das denen nicht? Finden die das alle uncool? – verhallt ungehört in den Weiten des virtuellen Raums; nur die Mutter der Sitznachbarin und Freundin des Dreizehnjährigen schreibt mir tröstend, dass ihre Tochter sich Reste aufwärmt und manchmal gern Nudeln mit Zucker in die Schule mitnimmt.

Schlaflos liege ich im Bett und raufe mir die Haare. Was tun? Samstags und sonntags ein bisschen mehr kochen, damit montags und dienstags ein Rest zum Aufwärmen da ist? Donnerstags – wenn der Dreizehnjährige allein bei mir ist – gemeinsam kochen? Montags und donnerstags sind aber gerade die langen Schultage, also Geld mitgeben für belegte Brötchen oder für die Igittigitt-Instant-Nudeln – der letzte Schrei unter den Kindern an der Schule des Dreizehnjährigen – aus der Cafeteria? Eine größere Brotbox scheint wenig aussichtsreich, da schon jetzt meistens ein Brot wieder mit nach Hause kommt. Und was bitte machen wir mittwochs und freitags?

Es macht mich traurig, und es macht mich ein bisschen wütend: Statt dass wir froh darum sind, dass an unseren Schulen warmes Essen angeboten wird, erlauben wir unseren Kindern, das uncool zu finden und nachmittags hungrig nach Hause zu kommen; nachmittags, wenn wir selbst auch gearbeitet haben und vielleicht eine halbe Stunde wir selbst sein (auf dem Balkon sitzen, jemanden anrufen, einen Gedanken zu Ende denken, einen Plan schmieden, ein Instrument lernen, eine Revolution anzetteln) könnten – statt Gemüse zu schnippeln und Kartoffeln aufzusetzen.

12 Jahre

Während ich langsam wieder gesund werde, kränkelt der inzwischen Zwölfjährige. Sein Vater geht mit ihm zum Arzt, und dabei wird praktisch klar, was wir bisher nur theoretisch wussten: Wegen eines kranken zwölfjährigen Kindes wird kein Elternteil mehr krank geschrieben. Noch nicht mal für die Dauer eines Arztbesuches. Das erweitert den Möglichkeitenbaum des Kind-krank-Katastrophen Familienszenarios um einen interessanten Ast.

Glücklicherweise bin ich ja zu Hause und der Zwölfjährige und ich unterstützen uns gegenseitig. Mein Sohn gibt sich richtig Mühe, nicht so oft zu fragen, ob ich vielleicht etwas spielen möchte, sondern lässt mich in Ruhe vor mich hinschniefen ruhen. Dafür gucke ich dann eine Folge „Mord mit Aussicht“ mit ihm. Dafür bietet der Zwölfjährige dann wiederum an, dass Mittagessen zu kochen, und lernt gleich mal (beim nächsten Mal muss er dann ja vielleicht ganz alleine klarkommen), Reis und Linsen zu kochen und mit Mandeln, Datteln, Zwiebeln, Knofi, Salz und Essig zu einem leckeren Einkaufen-ging-nicht-wegen-krank-Essen anzubraten.

Nur damit keine Missverständnisse entstehen: Meine Beine sind völlig in Ordnung, die Krankschreibung braucht das Kind, um länger als drei Tage der Schule fernbleiben zu dürfen und wir haben noch nicht alles erlebt, was ich mir heute Nachmittag vorgestellt und aufgeschrieben habe. Bloß das mit dem Urlaub der Kinderärztin bei gleichzeitiger Abwesenheit der Vertretung häuft sich.

Und sowas wollte ich ja schon lange mal bauen:

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Schneeregen, Altersfleckenentferner, Bündeschen und Geriefeseih

Januar.
Meine Kinder sind nach der Schule schon müde und erst abends vor dem Schlafengehen wieder wach. Ich sitze mit der Besuchsfreundin im Wohnzimmer, und durch die geschlossene Tür zum Zimmer des Elfjährigen hören wir ihn singen. Dass er singt, ist schön – obwohl es sich um eins der weniger poetischen Weihnachtslieder von Rolf Zuckowsky handelt.

Am Morgen sind wir immernoch alle müde, bei meinen Söhnen merke ich es daran, dass sie keinen Appetit auf Frühstück haben; bei mir daran, dass ich viel langsamer bin als sonst. Draußen ist es ungemütlich, der Weg am Kanal entlang zur Schule ist eine Schlitterpartie über vereisten Matsch, auf dem große Pfützen stehen. Angegraute Schneereste und unsere Wollmützen geben Stück für Stück ihren Widerstand gegen den Winterregen auf.

Der Elfjährige bekommt seine Gymnasialempfehlung und ist ganz aus dem Häusschen – nicht mehr lange, dann werden wir seine Anmeldung zu einer der in Frage kommenden Schulen tragen und den Auswahlspuk der letzten Monate beenden. Am Freitagnachmittag gehen meine Söhne wieder gemeinsam von der Schule nach Hause, das ist schön, das entlastet meinen Tag. Groß werden sie!

Dass auch ich eine magische Altersgrenze überschritten habe, ist unterdessen nicht unbemerkt geblieben. Irgendwer hat meine Adresse einem dieser Katalogversender verkauft, deren Models mit versteinerten Botoxgesichtern junggebliebende ältere Menschen darstellen sollen; ich blättere mit erstauntem Kopfschütteln die Seiten durch, auf denen mintfarbige Shirts mit Großblumendrucken, Polyester-Kittelschürzen, die Pantoffeln meiner Großmutter, an den BH anknöpfbare Dekolleté-Spitzeneinsätze, Hosenbunderweiterer, allerhand straffende Unterwäsche, Stifte zum Übermalen von grauem Haar, Altersflecken und Emailleschäden sowie zur Verhinderung von Damenbarthaaren, ein sonderbar geformter „Beckenbodentrainer zur äußeren Anwendung“, Konstruktionen zur nächtlichen Korrektur von Hallux-Valgus-Verformungen, Staubwedel an ausziehbaren Teleskopstangen und andere sagenhafte Nippes angepriesen werden. Irgendein Kreativgenie hat die Seite mit den Westen werbend mit „Bei Westen viel Neues“ überschrieben (ich höre förmlich, wie Remarque knirschend in seinem sandigen Grab rotiert), die Produktbeschreibungen kommen dafür eher bescheiden daher: „kann bei regelmäßiger Anwendung das Nachwachsen von Gesichtsflaum verzögern“. „Kann zur Straffung der Muskeln im Po-Bereich beitragen“, die Preise sind niedrig.

Das ist – nachdem es eine Weile grässlich und albern war – am Ende ziemlich anrührend. Die Seiten des kleinen Katalogs riechen nach schmalen Altersrenten, kleineren und größeren Zipperlein, Mühen bei alltäglichen Hausarbeiten; nach viel zu seltenen Besuchen von Kindern und Enkelkindern, nach einem Körper, der sich verformt und dem die Schönheitsmaße von Kleidung, die es bis in Läden und Schaufenster schafft, nicht mehr gerecht werden. Ich denke an meine Großmutter, die bescheiden in ihrem Häuschen auf dem kleinen Dorf lebte, und der liebste Freund (dem es am meisten die Nachthemden mit den großbebrillten Katzen angetan haben) erzählt von seiner Mutter, die gerade ihren 84. Geburtstag gefeiert hat. Nicht lange, und wir spielen Begrifferaten mit den Herkunftsdialekten unserer Eltern und Großeltern. Als der liebste Freund verrät, was ein „Bündeschen“ ist, muss ich sofort in der Umfrage zum „Atlas der Altagssprache“ nachsehen, an der ich kurz zuvor teilgenommen hatte. Aber unter den Begriffen für „kleines scharfes Gemüsemesser“ fehlt ausgerechnet diese regionale Variante. Über dem Vorlesen einer Geschichte im Thüringer Dialekt, der selbst auf den kleinen Dörfern heute kaum noch gesprochen wird, werden wir beide müde. So ist das dann wohl beim Älterwerden.

Am nächsten Morgen… siehe Absatz 2.

Draußen – während ich dies hier schreibe – rieselt es leise, der Regen hat sich wieder in Schnee verwandelt, der zögerlich auf Dachziegeln und unbetretenen Rasenflächen haften bleibt.
Januar.

Winkend

Winkend laufe ich neben dem Zug her, der sich langsam in Bewegung setzt. Ich laufe genau vor dem Fenster, hinter dem in einem der kleinen Sechs-Personen-Abteile der Elfjährige gerade seine Frühstücksdose aus dem Rucksack zieht, um die Schätze darin mit denen zu vergleichen, die das Mädchen ihm schräg gegenüber auf das Klapptischchen am Fenster packt. Zwischen den beiden steht der Patenonkel der Patentante des Elfjährigen und hebt einen Koffer auf die Gepäckablage; der Patenonkel des Mädchens sitzt schon und die Patentante des Elfjährigen steht im Gang am Fenster und winkt zurück zu mir nach draußen.

Der Elfjährige hat sein Handy und den Fotoapparat, seine Zahnbürste und Fiebermedikamente für alle Fälle und ein Rätselbuch für die Reise und seinen Kinderausweis und Ersatzsocken und seine Versicherungskarte und mehrere Spiele und ein ganz neues Donald-Duck-Heft und eine Schachtel Müsliriegel für alle und seinen Schal und lange Unterhosen und eine Vollmacht für seine Patentante für den Fall überlebensnotwendiger medizinischer Eingriffe, denen zugestimmt werden muss, und sein Kuschelkissen und zwei Flaschen mit Schorle zum Trinken.

Wahrscheinlich ist das meiste davon wichtiger für mich als für ihn – aber deswegen ist es ja nicht unwichtig. Denn ich muss ihn ja fahren lassen. Ich kann nur noch ein bisschen schneller werden und neben dem Abteil herlaufen und dann noch ein bisschen schneller, bevor ich mich zurückfallen und den Zug fortfahren lasse; ein klein wenig besorgt, aber vor allem froh und dankbar, dass der Elfjährige nicht nur eine großartige Patentante, sondern seit einiger Zeit eine ganze „Patenfamilie“ hat, in der er sich wohlfühlt und die mit ihm verreist und mit der er Dinge erlebt, die er nicht mit mir oder seinem Vater oder seinem Bruder teilt – die ganz allein ihm gehören.

Der Zug rollt aus dem Bahnhof. Langsam lasse ich die Hände sinken.

Wir lernen, wir lernen

Während Elfjährige lernt, wie man einen Kurzvortrag macht und sehr bald lernen wird, ob es eher cool oder eher uncool bei den Vorpubis in seiner Klasse ankommt, den Musik-Kurzvortrag (ja genau, den, für den ich ihm zu Weihnachten schon – zähneknirschend – eine CD von Crow geschenkt habe und zum Geburtstag – frohlockend – eine von Muse) über Dota Kehr zu halten und ein Hörbeispiel mit eher erwachsenem Witz zu wählen –

Und während ich mich an meinen alten Vorsatz erinnere, irgendwann mal flüssig Italienisch lesen lernen zu wollen und in der S-Bahn stirnrunzelnd, aber entschlossen die Nase in einen dtv-zweisprachig-Band stecke, den 15 Jahre in meinem Bücherregal weder sprachlich leichter noch inhaltlich spannender gemacht haben –

Währenddessen lernt der Siebenjährige lesen und soll das jeden Tag zu Hause zehn Minuten lang laut üben, woraufhin er jeweils eine Unterschrift bekommt und für fünf Unterschriften in der Schule eine Perle auf seine Leseraupe aufgefädelt wird und… eine vollgefädelte Leseraupe zu weiteren Belohnungen führt.
Also, führen könnte, wenn wir jemals sooo weit kommen.

Erstlesebücher sind nämlich oft schrecklich langweilig, vor allem die, denen man es anmerkt, dass da nicht etwa eine kleine, feine Geschichte in größerer Schrift gedruckt worden ist, sondern dass ein Format für Erstleser mit strengen Vorgaben an Satzlänge, Wortschwierigkeit und Zeichenzahl entwickelt und dann mit einer Auftragsschreibe wahlweise über Ritter, Monster, Buchstaben, Schule, Freundschaft, Drachen, die Feuerwehr – oder eine beliebige Kombination von drei bis sieben der genannten Motive – gefüllt wurde.

Die Fibel ist keine Alternative, die bleibt in der Schule, weil der Siebenjährige ja ein „Lernmittelfonds“-Kind ist (nie wieder…). Und das „Froschheft“, das er zum Lesenüben im Ranzen trägt, ist so abstoßend lieblos gemacht, dass ich damit keine zehn Minuten meines Nachmittages verbringen möchte.
Ich durchstöbere also als erstes die Bücherregale nach Lieblingsbüchern aus den letzten Jahren, bei denen die Schrift ausreichend groß ist. Zum Glück gibt es ein paar: Die Hasengeschichte „Schlaf gut, träum schön“ von Ingrid Uebe/Zora Davidovic mag der Siebenjährige, der seine vier Hasis noch immer heiß und innig liebt, besonders gern; mit der fangen wir an. „Augen zu, kleiner Tiger“ von Kate Banks und Georg Hallensleben lege ich noch bereit; Peter Hacks Quatschgedicht „Die Katze wäscht den Omnibus“, illustriert von Getrud Zucker, und natürlich Astrid Lindgrens „Pelle zieht aus“ und „Nils Karlsson Däumling“, die es irgendwie ins Erstleseformat geschafft haben.

Wir kuscheln uns also am Nachmittag gemeinsam in den Sessel, gucken – wegen der zehn Minuten – auf die Uhr, und ich stippe meinen Finger unter das Wort, bei dem wir am Vortag aufgehört haben.

Erstaunlicherweise ist der Buchstabe „e“ die größte Hürde für den Siebenjährigen. Sind es tatsächlich mehr als zwei verschiedene Laute, die sich hinter diesem kleinen unscheinbaren Kringel verbergen können („ie“ und „ei“ hat er verstanden, die zählen also nicht mit), oder kommt das nur meinem kleinen Sohn so vor?

Wort für Wort, Satz für Satz, eine Seite ungefähr in zehn Minuten; ich lobe ein bisschen und sage Halt, das Wort nochmal, das heißt anders! –
Und ich freue mich an den Fortschritten des Siebenjährigen und wundere mich, dass ich mich an diese Leselernphase des Elfjährigen kein bisschen erinnern kann. War ich damals so abgelenkt, so mit dem damals zweijährigen kleinen Bruder beschäftigt, so sehr dabei, mich im Getrenntleben und im Wechselmodell einzurichten? Oder hat der Elfjährige damals wirklich immer nur Schreiben geübt? Ich bin sicher, dass ich mehr als eine Einkaufsliste aufgehoben habe, die er mir damals verfasst hat, lautschriftliche Wiedergaben der Namen von allerlei Lebensmitteln in krummen Druckbuchstaben – ausschließlich für mich zu entziffern.
Hach, die Zeit dieser wunderschönen Schriftstücke kommt jetzt auch bald wieder.

Alltag…

Morgens dampft das Wasser im Kanal wie heiße Gemüsebrühe, wenn ich mit dem Sechsjährigen an der Hand zur Schule unterwegs bin. Unser Atem dampft auch. Auf den Blättern der Pappelschosser am Weg liegen viele kleine Tautropfen; auch die knallroten Blätter des wilden Weins sind nass und leuchten gleich noch mehr.

Vor den Schließfächern im Schulflur herrscht Schulanfängerchaos. Eltern grüßen sich von einer Flurseite zur andern, über das wogende Meer aus offenen Ranzen, Sportbeuteln, Jacken, Hausschuhen und mit Schlüsseln hantierenden Kindern hinweg, das sich vor der Lehrerin wundersamerweise teilt.

Auf dem Weg zur S-Bahn gehe ich zwischen den alten Plattenbaublocks durch, vor denen es in liebevoll gepflegten, mit Hecken umhegten Gärtchen herbstlich blüht. Dem vordersten Block wird gerade ein wärmendes Kleid aus Isolierplatten angezogen. Auf einer der Bänke neben der Rasenfläche, die hinter den Blocks zur Straße hin liegt, liegt eine obdachlose Frau und redet wirr im Schlaf.

Nachmittags sind die Kinder müde. Der Zehnjährige kommt mit dem Fahrrad nach Hause, und ich bin froh, wenn ich die beiden nicht nochmal aus dem Haus treiben muss, denn das ist anstrengend, sogar wenn es nur zum Sportverein geht, wo beide gerade wieder sehr gern turnen. Wenn wir zu Hause bleiben können, gibt es eine halbe Stunde Spielzeit, während der ich versuche, die Positionen von Pneumologin und Krankenkasse zum Allergiker-Matratzenbezug des Sechsjährigen irgendwie zusammenzubringen, Bankgeschäfte zu regeln, Geschenke für diverse Anlässe vorzubereiten und im Haushalt wenigstens einen groben Überblick zu behalten. Dann muss der Zehnjährige wieder ran und Schulsachen erledigen – mindestens im Lerntagebuch, das wöchentlich abgegeben werden muss, ist immer was zu ergänzen. Wenn wir gegessen haben und eine halbe Stunde vor dem Computer Fernsehen geschaut haben und der Sechsjährige im Bett liegt, frage ich den Zehnjährigen Englischvokabeln ab. Pädagogische Ratlosigkeit: Wie lassen sich diese Fragewörter bloß auseinanderhalten? Bald werde ich sie selbst verwechseln.

Am Wochenende haben wir – zum ersten Mal seit der Schuleinführung – nichts vor. Oder doch: Auf mich warten die Kartons mit den Wintersachen, in unserem Waldhäuschen werden wir sie in zwei Wochen schon brauchen. Und: Drei Klassenarbeiten hat der Zehnjährige vorzubereiten, so ganz selbständig geht das noch nicht.

Aber vor allem brauchen die Kinder Zeit. Spielzeit zu Hause, miteinander oder allein, mit mir, an der Tischtennisplatte oder auch mal auf dem Fußballplatz – die unter der Woche gerade viel, viel zu kurz kommt. Zeit, in der wir nicht irgendwohin aufbrechen, irgendetwas erledigen müssen. In der ich den beiden in Ruhe zuhören, mit den beiden das neue Lied aus dem Musikunterricht bei youtube suchen oder abends mal mehr als zehn Minuten vorlesen kann.

Familienalltag. Immer wieder muss er sich neu finden, neu einpendeln, während die Kinder größer werden. Mein Gefühl, allem nur noch hinterherzulaufen, muss vor allem dringend wieder aufhören. Zur Zeit ist es schlimm: Eine Freundin erinnert mich am Telefon zufällig an den Freitagstermin des Zehnjährigen. Eine Kollegin erwähnt, dass ja am 3.10. die Läden geschlossen haben. Sonst hätte ich beides vergessen.

Schulkind

Schuleinführung, endlich! Wahrscheinlich werden in Berlin die Erstklässler vor allem deshalb erst eine Woche nach den anderen Kindern in die Schule geschickt, damit alle Eltern auch wirklich richtig, richtig froh sind, dass es nun mal endlich losgeht, nachdem sie ihre zunehmend zappeligen, aufgeregten, überdrehten, erwartungsvollen Kinder noch eine letzte, siebente Woche irgendwie betreut oder bei Verwandten gerade noch mal so untergeschoben haben.

Mein Sechsjähriger hat sich durch einige letzte Tage gelangweilt, an denen ich meine drei Stunden Homeoffice am Rechner vertastenklappert habe, er ist ganz cool, schläft auch in der Nacht vor der Feier und erst recht in der Nacht vor dem ersten Schultag gut. Auf der Schuleinführungsfeier ruft er ganz laut die Antworten auf die ganz einfachen Rechenaufgaben rein, die der Direktor den versammelten „Ersties“ stellt.

Dann stehen 24 Familien erwartungsvoll auf dem Schulhof herum, Eltern tragen Zuckertüten im Arm, schöne, bunte, mit Stoff überzogene, selbstgefilzte, das größere Planes-Modell ist natürlich auch dabei (fällt dem Sechsjährigen, der der kleinere Modell bekommt, zum Glück nicht auf), eine ganz schwarze Tüte ist dabei und eine, die oben lauter Kreppapierfeuerflammen hat und eine rote mit Pferd, die extra im Internet bestellt werden musste, weil handelsübliche Pferdezuckertüten nun mal rosa sind.

Wir stellen uns mit dem Sechsjährigen zum Fototermin auf. Zum Glück ist die Phase endlich vorbei, in der er es lustig fand, die Zunge herauszustrecken, sobald fotografiert wurde.

Dann verlassen wir das bunte Treiben auf dem Schulhof und gehen essen.

Wechselmodellfamilienfeiern sind blöd. Da sitzen zwei halbe Familien an einem Tisch, die lieber eine ganze wären und es miteinander nicht hingekriegt haben. Eltern, die einander eigentlich gern aus dem Weg gehen möchten und auch nach Jahren noch blind die empfindlichen Stellen des anderen mit einer einzigen Bemerkung treffen können. Gewesene Schwiegereltern, die unsicher mit dem gewesenen Schwiegerkind umgehen. Meine liebe große Schwester, die sich nach allen Seiten freundlich unterhält. Natürlich müssen wir ewig auf das Essen warten – Wart Ihr überhaupt schon mal hier?, fragt der väterlicherseitige Großvater meiner Kinder spitz, wollen wir nicht lieber gleich was zum Abendessen bestellen? – und dann sitze ich zu weit vom Sechsjährigen weg, um darauf zu achten, dass er die Spaghetti, die sein Vater ihm bestellt hat, einigermaßen anständig isst. Der Zehnjährige kämpft mit einem stumpfen Messer wild gegen eine Pizza, die zäh ist wie Drachenhaut.

Auf dem Hinterhof des Vaters meiner Kinder, wo wir eigentlich den Nachmittag mit Kaffee und Kuchen und den Freunden des Sechsjährigen verbringen wollten, treffen die väterlicherseitigen Großeltern zum ersten Mal auf die neue Freundin des Vaters meiner Kinder, die der Vater meiner Kinder eingeladen hat, weil ihr Sohn zu den besten Freunden des Sechsjährigen gehört. Und weil der Wind heult und Regenwolken aufziehen, sitzt die ganze sonderbare Konstellation auf einmal in meinem Wohnzimmer. Die Freundin des Vaters meiner Kinder gibt Geschichten aus ihrem gemeinsamen Urlaub mit meinen Kindern und dem Vater meiner Kinder zum besten. Ich flüchte, weil ich sie am liebsten rauswerfen würde und weil das nicht geht. Beim Sechsjährigen sitzen vier Jungs mit leuchtenden Augen um den neuen Legobausatz herum, mit dem die Freundin des Vaters meiner Kinder den Schuleinführungsgeschenkevogel abgeschossen hat. Beim Zehnjährigen haben meine Nachbarschafts-Freundin und meine große Schwester mit den restlichen Kindern eine ganz, ganz große Murmelbahn aufgebaut, da finde ich Unterschlupf.

Ufff, denke ich am Abend, nie wieder feiern. Nie wieder so. Aber mein kleiner Sohn ist glücklich, und der große scheint sich nicht so genau wie ich daran zu erinnern, dass er vor vier Jahren nicht ganz so tolle Geschenke bekommen hat, sondern vor allem – nun ja, vielleicht täuscht meine Erinnerung auch – Bleistifte und Anspitzer, die für drei Schuljahre gereicht haben.

Und dann ist endlich Montag. Der Sechsjährige kommt schlaftrunken in die Küche getappt. Ich nehme meinen kleinen Sohn auf dem Arm und halte ihn ganz fest. Irgendwann in den letzten sieben Wochen ist es tatsächlich passiert, hat er sich verwandelt, ist jetzt kein Kindergartenkind mehr, sondern ein Schulkind – das eine Stunde später an meiner Hand stolz in einen neuen Lebensabschnitt aufbricht, den Ranzen mit den funkelnagelneuen Federmappen und der neuen Fußballertrinkflasche auf dem Rücken.

Mama, sagt der Sechsjährige aufgeregt, kaum dass er in der Schule seine Jacke aufgehängt und seine Hausschuhe angezogen hat, ich will die Lehrerin was fragen! Ja, was denn?, erkundige ich mich. Na, ob ich meine Drachenkarten zum Tauschen mitbringen darf! Öhhh…, sage ich, warte damit doch mal einen oder zwei Tage!

Aber seine Lehrerin ist lieb und durchschaut ganz schnell, dass der Sechsjährige sich schon auskennt. Willst Du mein Erklärer sein, fragt sie, und mir helfen, den anderen zu zeigen, wie das mit den Schließfächern geht? Der Sechsjährige strahlt, ich schließe seine Leherin in mein Herz. Ich gebe meinem Kind einen Kuss und verabschiede mich. Er wird seinen Weg gehen.

Festtagsstimmung

Dienstag Sommerfest im Kindergarten, zum letzten Mal. Mittwoch Arztbesuch.
Donnerstag bringen wir die Schulsachen des Sechsjährigen in die Schule, dann kommt die Reinemachfrau. Ach: diese Internetportale zur legalen Ab-und-zu-Buchung von Putzkräften wurden für mich erfunden! Obwohl die junge Frau im Bad eine Fliese zerbricht und eine meiner Nähnadeln wegsaugt, macht es mich total high, in meiner sauberen Wohnung zu stehen, ohne vom Putzen erschöpft zu sein.
Erschöpft ist dafür der Sechsjährige, als er mir hilft, den Großeinkauf nach Haus zu tragen. Wir müssen zur Erholung ein bisschen kuscheln, dann gehen wir in die Küche und krempeln die Ärmel hoch. Am Abend beginnt sich Festtagsstimmung zu verbreiten: Meine Söhne schlecken die Backschüssel aus, der Kuchen duftet aus dem Ofen. Dann sitzt der Zehnjährige im Flur inmitten seiner Schulsachen – und darf heute so lange bummeln, wie er will, es stört mich kein bisschen. Ich koche sogar Pellkartoffeln und – zum zweiten Mal an einem Tag! – Gemüse. Heute Abend noch die Zuckertüte füllen… und dann ein Krimi. Durchatmen. Morgen kommen die Gäste.

Größerwerden

Ein langes Wochenende mit den Kindern. Einkauf. Schulsachen durchsehen. Zur letzten offenen Apotheke sprinten, der Fünfjährige hustet wieder. Inhalieren. Monopoly. Besuch von Freunden, die Waffeleisen und Teig mitbringen – wunderbar. Während die beiden Mamas dem Kleinsten der vier Jungs einen Kran zusammenschrauben, liest der Neunjährige den beiden anderen „Planes“ vor.

Sonntagmorgen ausschlafen bis halb acht. Vorlesen im Bett, Frühstück macht der Neunjährige, nur meinen Kaffee brühe ich lieber selbst auf. Heute vor sechs Jahren, ach ja!, komme ich bei Brötchen und Ei ins Erzählen: Vom dicken Bauch, vom indischen Abendessen, bei dem ich kaum noch hinter den Tisch passte (Wahrscheinlich, necke ich meinen kleinen Sohn, der nichts isst, was einen stärkeren Geschmack hat als weißer Frischkäse, haben dich die Gewürze so geärgert, dass du sofort aus meinem Bauch raus wolltest! – ), von meiner ganz großen Schwester, die beim – jetzt – Neunjährigen blieb, während ihre Freundin mich und den Vater meiner Kinder ins Krankenhaus fuhr. Vom ersten Lebenstag des – jetzt – Fünfjährigen, vom Krankenhaus.

Abwaschen. Kochen. Wieder abwaschen. Mehr Monopoly. Mehr inhalieren. Aufräumen. Zwei Packungen Backmischung für Brownies, eine für den Großen, eine für den Kleinen. Der Neunjährige kann die schon alleine backen und erklärt dem Fünfjährigen ganz genau, was er machen muss. Ich stelle Butter und Eier hin und heize den Herd an. Später, als sein Bruder schläft, packt der Neunjährige mit mir die Geschenke für den Fünfjährigen ein. Leise, leise schleichen wir in sein Zimmer und stellen die Päckchen auf die Kommode, unter den Weihnachtsstrauß, halb abgenadelt, von dem der Fünfjährige sich nicht trennen mag.

Auf den Frühstückstisch kommt eine Decke. Das Pünktchengeschirr. Und sechs Kerzen.

Geschichten aus dem Wald: Vom Wiederkommen und Wiederfinden

Dieselbe kleine Bahn wie vor einem Jahr, an diesem dritten Oktober mit Ausflüglern und ihren Fahrrädern überfüllt. Das nächste Mal bleiben wir lieber zu Hause! versichern einander eine alte Dame und ein junger Mann wieder und wieder – obwohl nicht recht zu erkennen ist, was ihnen fehlt. Sitzplätze haben sie jedenfalls. Derselbe Kleinbus, der uns ans Ziel bringt, diesmal fährt eine Frau, im letzten Jahr war es ihr Mann. Bereitwillig macht sie einen Umweg zum Kletterwald, um uns einen Flyer zu besorgen. Dasselbe Häuschen; die kleine Terasse davor haben die drei Birken wieder mit goldenen Blättern bestreut. Die Heizungen springen bereitwillig an, in den Töpfen unter der Spüle steht wie im Vorjahr eine Tropfwasserpfütze – als wären wir die letzten gewesen, die hier gekocht haben. Wir legen unsere Sachen in dieselben Schränke, hängen unsere Jacken an dieselben Haken; die Matratzen im Doppelstockbett der Kinder sträuben sich genau so sehr gegen die Spannlaken wie damals.

Und dann fühlt es sich an, als könnten wir unser Urlaubsleben genau da fortsetzen, wo wir es unterbrochen haben, als wir im letzten Jahr abgereist sind.

Die Kinder sind freilich größer geworden: Kein Mittagsschlaf mehr für den Vierjährigen, stattdessen ziehen sie Hand in Hand los, der Große, der sich noch an alles erinnert, macht den Kleinen mit dem Gelände vertraut. – Und die Frau da im Spiegel über dem Waschbecken hat mehr graue Haare bekommen. Lieber nicht nachzählen.

Wie schön das ist und wie gut das tut, all das wiederzufinden: Ein Häuschen, drei Birken, die kaputte Spüle, den Holzlöffel, den wir im letzten Jahr mit Blaubeeren verfärbt haben. Vielleicht, weil ich in all dem, was ich wiedererkenne, ein Stückchen von mir selbst wiederentdecke, die Zeit, die ich hier verbracht habe.

Eigentlich ist „zu Hause“ mehr als ein Ort, an dem wir dauerhaft wohnen. Sondern auch Menschen, zu denen Nähe und Vertrauen nicht verlorengegangen sind, wenn wir sie erst nach langer Zeit wiedersehen. Und Orte, an die wir wiederkommen dürfen. Die uns wiedererkennen.