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Ferien, Ferien

Als ich an meinem letzten Arbeitstag vor dem Urlaub das Büro verlasse, ist der blaue Himmel der letzten Tage hinter einer Wolkendecke verschwunden und es beginnt zu regnen. In die Uckermark, aha, aha, haben die Kollegen freundlich gesagt und mir auffällig oft „gutes Wetter“ gewünscht.

Die Besuchsfreundin ist schon gestern angekommen, und als ich von meinem letzten Arbeitstag nach Hause komme, hat sie eingekauft, einen Schokoladenkuchen gebacken, den Zwölfjährigen und den Achtjährigen in Empfang genommen, abgewaschen und sich auch den Wäscheständer mit den vielen, vielen Socken vorgenommen. Ich fühle mich wie im Paradies; ich habe das nicht oft, dass mir jemand so unter die Arme greift.

Ein anderes Gefühl trage ich seit Tagen mit mir herum: Betroffenheit (was für ein hässliches Wort!), Mitgefühl, Traurigkeit. Es ist eine Geste der Hilflosigkeit, dass ich einen halben noch warmen Schokoladenkuchen bei der Bekannten vorbeibringe, deren Kind in diesem Sommer an Lymphdrüsenkrebs erkrankt ist und zwischen Chemotherapie-Durchgängen und Infekten gerade ein paar Tage zu Hause verbringt.

Beim Abendessen frage ich den Zwölfjährigen nach der Englisch-Klassenarbeit; für die und andere hat er die ganze Woche lang jeden Tag lernen müssen; wir sind alle froh, dass das fürs erste überstanden ist – auch der Achtjährige, der endlich wieder mit seinem Bruder spielen kann; auch ich, die wieder einmal einen Abend ohne Simple Past und Present Perfect Progressive verbringen darf (ja, der Bildungserfolg hängt vom Elternhaus ab, und so lange der Zwölfjährige es schätzt, mir Lernstoff von Hakenpflug über Experimentierprotokoll bis „être“ und „has been learning“ aufzusagen, höre ich ihn geduldig ab). Aber heute fülle ich stattdessen Öl und Zucker ab, sammle Vokabelhefte, den Fön, die Wärmflasche, ein Kilo Gelierzucker, die Gummistiefel und den anderen halben Kuchen ein und fülle Koffer und Rucksäcke bis zum Rand. Waldhäuschenurlaub steht bevor, zum 6. Mal, wir freuen uns auf „unser“ Haus, den angeblich reichen Pilzsegen, die Zeit mit der Besuchsfreundin.

Nach dem ersten Urlaub dieser Art habe ich damals meinen Blog angefangen – WordPress benachrichtigt mich freundlich und ich erinnere mich: ja, damals hatte Berlin noch zeitiger Ferien und wir konnten Anfang Oktober im uckermärkischen Sonnenschein unter „unseren“ Birken sitzen. Fünf Jahre ist das jetzt her.

Der Regen rauscht. Der Achtjährige und der Zwölfjährige (letzterer etwas mühsam vom Smartfon mit seinen verlockenden bunten Spielen abgeschält) schlafen; das Flugzeug, in dem der liebste Freund sitzt (dessen Herbstreisepläne ungünstig neben meine fielen), wird irgendwann in der Nacht in Berlin landen; unser Gepäck steht aufbruchsbereit; draußen fallen gelbe Lindenblätter im Licht der Straßenlampen; der Druck der letzten Wochen lässt nach. Die Welt seufzt leise auf.

Im September werde ich…

…dem Zwölfjährigen eine kleine Zuckertüte zum Start auf dem Gymnasium und dem Achtjährigen eine zum Beginn der 3. Klasse – mit Englisch und endlich Zensuren! – überreichen

…zur Schuleinführung meiner kleinen Berliner-Umland-Patentochter fahren

…mit den meinen Söhnen die Besuchsfreundin in Brandenburg besuchen

…mit dem liebsten Freund verreisen – vielleicht zu einem See mit türkisfarbenem Wasser, in dem ich in die Abenddämmerung hineinschwimmen werde, soweit ich nur kann

…auf noch einen und noch einen und noch einen (und dann noch einen) letzten warmen Sommertag hoffen

…bunte Fotos von Sommertagen in Alben kleben, falls es doch nicht mehr so warm wird

…mit meinem Vater und der ganz großen Schwester den Grabstein meiner Mutter wieder schön machen, auf dem nach 25 Jahren die Ausmalung der Buchstaben verblasst ist

…die große allherbstliche was-ist-zu-klein-geworden-Aktion in den Kinderkleiderschränken durchführen (och nöö, schön wieder?)

…die Orthopädin statt auf meinen Fuß zur Abwechslung auf mein schmerzendes Mausarbeits-Handgelenk schauen lassen

…wählen gehen – natürlich! Und nicht nur ich kann meine Stimme abgeben, sondern – was ich klasse finde! – neun Tage vorher auch meine Kinder.

 


Die Idee für diese Monats-Pläne-Blog-Reihe stammt von Frische Brise, der ich herzlich zum Augustbaby gratuliere!

 

Das Balkongartentagebuch: Überwintern

Nach unserem Waldhäuschenurlaub habe ich meinen Balkon eine ganze, lange, kalte Woche lang kein einziges Mal betreten – aber der sonnige und noch dazu kinderfreie letzte Oktobersonntag ist perfekt, um nach dem Rechten zu schauen und die herbstliche Wüstenei ein bisschen ansehnlicher und winterfest zu machen.

Majoran und Schnittlauch kommen auf die Fensterbank, wo es mit etwas Glück frostfrei bleiben wird. Die Zitronenmelisse – an der mein Herz hängt, weil ich sie im Frühjahr selbst aus Samen gezogen habe – habe ich schon vor einiger Zeit ins Kistenbeet des Elfjährigen umgepflanzt, wo sie jetzt traurig die Blätter hängenlässt. Dringend müssen die Lilien auf mehrere Töpfe verteilt werden. Vorsichtig grabe ich rund um die Reste der Stängel und hole die Nester größerer und kleinerer leuchtend weißer Zwiebeln ans Licht. Zwei Töpfe reichen garnicht aus, um sie alle mit ausreichend Platz wieder einzupflanzen. Aber habe ich die Zwiebeln damals nicht einfach ohne Erde gekauft? Ein bisschen Recherche hilft, und die übrigen Lilienknollen dürfen nun erstmal im kühlen Zimmer antrocknen und dann ohne Topf überwintern, zusammen mit den Gladiolen und der Knolle der Dahlie, mit deren Überwinterung – beide vertragen keinen Frost – ich auch erst Erfahrungen sammeln muss, weil ich sie erst seit diesem Jahr habe. Die Gladiolenzwiebeln sehen alle fünf gut aus; die Dahlienknolle auch, sie ist übers Jahr im Kistenbeet des Siebenjährigen ganz erstaunlich gewachsen und hat jede Menge neue, dicke, pralle Anhängselknollen bekommen.

Stehenbleiben darf die Kapuzinerkresse, die noch blüht; die einzelne Ringelblume, die noch eine dicke Knospe hat; die Tomatenpflanzen mit den Mini-Früchten, von denen sogar in den letzten beiden, kalten, regnerischen Wochen noch einige orange und wohlschmeckend geworden sind.

Andere Pflanzen haben ihre Lebenszeit hinter sich. Der große Ringelblumentopf und die mehltaubestäubte Petersilie kommen weg; andere Rückschnitte – die trockenen Blütenstängel des Majorans und Basilikums, Bohnenblätter und Lilienstiele – schneide ich klein und verwende sie als Schutzabdeckung gegen Frost auf denjenigen Töpfen, die auf dem Balkon bleiben sollen.
Erde von gesunden Pflanzen sammle ich in einer dieser großen IKEA-Taschen, um sie wie schon in den letzten Jahren aufzuheben und im Frühjahr mit Humus angereichert weiterzuverwenden. Staunend bemerke ich, dass in einigen Töpfen und Kästen Regenwürmer überlebt haben, die im Frühjahr offenbar mit dem Wurmhumus in die Erde gelangt sind. Die Erde in diesen Töpfen ist ganz locker geblieben, das hat sicher auch den Pflanzen gutgetan. Ob die Würmer auch irgendwie über den Winter kommen werden? Sollte ich die Erde nochmal mit Kaffeesatz, Radieschenabschnitten und Pflanzenresten anreichern – oder werden sie sich von den Wurzeln ernähren, die in der alten Erde sowieso noch drin sind? Noch mehr Neuland.

Am Nachmittag habe ich es geschafft, trage eine – nur eine! – Tüte Abfälle zum Müll und einen Pelargonienkasten in den Keller, schiebe die Tasche mit der Erde und den hoffentlich glücklichen Regenwürmern unter die Bank, mache mir einen Kaffee und genieße die Wärme, bis die Sonne hinter dem Schornstein vom Haus gegenüber verschwindet. An meinem Balkonspalier trägt eine unerschrockene Winde noch eine letzte Knospe – noch EIN Sonnentag und sie blüht! – und zwei von meiner Balkonaktion sichtlich verwirrte Wespen summen um mich herum und prägen sich die neuen Standorte der verbliebenen Pflanzen ein. Das Krähennest in der Linde im Nachbarhof ist wieder gut zu erkennen, dann und wann schaut einer der großen grauen Vögel – die ich trotz ihres schlechten Rufes mag – im Hinterhofrevier mit den Schlafbäumen und den interessanten Mülltonnen und dem Sitzplatz auf dem Geländer am großen Schornstein nach dem Rechten. Der Wind zupft derweil geduldig an den goldenen Blättern des großen Ahorns, und ich sehe zu, wie sie – jedes zu seiner Zeit – zu Boden trudeln.

So’n Tag eben

„Was machst Du eigentlich den ganzen Tag?“ – so fragt Frau Brüllen. Ja, was eigentlich?

Um 5.45 klingelt der Wecker. Ich schalte das Licht an und brauche ein paar Minuten, bis ich mich aufraffe und ins Bad gehe. Die Kinder schlafen noch, also habe ich Ruhe. Anziehen, Frühstücksdosen füllen, Frühstück machen. Meine Kinder haben sich beschwert, dass sie nie Süßigkeiten in ihren Brotdosen haben. Stimmt. Ich schnippele dafür leidenschaftlich Obst und Gemüse, weil ich finde, das trockene Stullen einfach nicht schmecken. Der Zehnjährige behauptet, dass er deswegen inzwischen in seiner Klasse den Spitznamen „Kaninchen“ trägt.

6.30 Uhr. Frühstück ist fast fertig, der Zehnjährige kommt aus seinem Zimmer geschlappt, umarmt mich kurz mit seinen langen, sperrigen Armen und schlappt wieder zurück, um sich zwischen seine Fußballkarten zu hocken und irgendein imaginäres Turnier auszutragen. Deutschlandfunk bringt die neuesten Nachrichten über die allgegenwärtige politische Ratlosigkeit angesichts der vielen, vielen Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen. Ich gehe zum Hochbett des Sechsjährigen, schaue einen kurzen Glücksmoment lang mein schlafendes kleines großes Kind an – so friedlich, so wunderbar – und kuschele es wach.

7.05 Uhr. Wir stehen vom Frühstücksstisch auf, die Kinder ziehen sich an, putzen Zähne und packen ihre Brotdosen und Trinkflaschen ein, damit wir gemeinsam und rechtzeitig losgehen können. So jedenfalls der Plan. In Wirklichkeit läuft der Zehnjährige um 7.25 Uhr mit einem Küchenmesser in der Hand die Treppe runter, um das Eis von seinem Fahrradsattel zu kratzen, während der Sechsjährige noch nicht mal richtig angezogen ist.

7.35 Uhr. Heute nacht war gar kein Frost, wie dumm, gerade heute hat der Sechsjährige endlich daran gedacht, sich eine lange Unterhose anzuziehen. Ich stecke das unbenutzte Küchenmesser in meine Handtasche, damit der Zehnjährige in der Schule keine Probleme bekommt, verabschiede mein großes Kind und gehe mit dem Sechsjährigen zur Schule.

8.08 Uhr. Ich bin pünktlich am S-Bahnhof, um die durchgehende Bahn zu kriegen. Prima. Ich hole mein Buch aus der Tasche, Jojo Moyes „Ein ganz neues Leben“; ein Auge liest, das andere hält nach einem freiwerdenden Sitzplatz Ausschau. Nach drei Stationen gibt es einen. Wunderbar.

8.40 Uhr. Büro. Gefühlte 75% meiner jährlichen Arbeit fallen zwischen Oktober und April an, gefühlte 15%  ausgerechnet in dieser Woche. Ich gehe panisch die 30 neuen Mails durch, die meinen Posteingang fluten, nicke viel zu zerstreut zu dem, was meine Büro-Kollegin von ihrem neuen Freund erzählt, die andere Kollegin hat ein krankes Kind, aber zum Glück auch eine Nanny, die einspringen kann, so dass sie zu Hause am Rechner sitzt und im Laufe des Tages eine Milliarde Powerpoint-Seiten erstellt, während ich mir die Finger blutig excele.

13.00 Uhr. Mittagspause. Mir klappern die Zähne vor Anstrengung. Spreche mit der Kollegin mit dem kranken Kind ab, wer von uns beiden am kommenden Freitagabend, Samstag und Sonntag wann arbeitet.

15.07 Uhr. Stehe am S-Bahnhof und hole mein Buch aus der Tasche. Es passt genau für so eine Stresswoche, nicht anspruchsvoll, mit einer Protagonistin, der es richtig, richtig schlecht geht und einem Mann, von dem man ziemlich schnell ahnt, dass er derjenige sein wird, der beim Happyend ihre Hand hält. 20 Minuten Eskapismus in der S-Bahn.

15.40 Uhr. Schnell in den Supermarkt. Brot; Walnüsse, die haben die Kinder sich gewünscht; Lieblings-Schokokekse und Lieblings-Mini-Schokoriegel. Habe mit meinen Kindern vereinbart, dass sie einmal in der Woche auch was Süßes in ihren Dosen haben dürfen.

15.55 Uhr. Der Sechsjährige kommt aus dem Klassenzimmer und umarmt mich. Schnell geht das bei ihm auch nachmittags nicht mit dem Anziehen. Auf dem Schulhof gebe ich meinen Schlüsselbund dem Zehnjährigen, damit der mit dem Rad schon vorfahren kann; dann ziehe ich den erschöpften Sechsjährigen an meiner Hand hinter mir her nach Hause, ein paar Straßen weit plauschend neben einer Mit-Mama und die ganze Zeit unter diesem leuchtend blaugrauen Novemberhimmel, der so garnicht zu der müden herbstbraunen Stadt passt, sondern aus einer ganz anderen Welt ausgeschnitten und mit dieser hier zu einer Collage zusammengeklebt worden zu sein scheint.

16.40 Uhr. Ich fülle die Trinkflaschen neu, packe das Sportzeug ein, versuche Zahnarzttermine für uns alle zu vereinbaren, verabrede den Sechsjährigen für Freitagnachmittag mit dem Sohn der Freundin des Vaters meiner Kinder zum Spielen, verabrede mit dem Vater meiner Kinder, dass er am Samstagnachmittag die Kinder nimmt, damit ich arbeiten kann, trage den Plätzchenbacktermin mit unserer ehemaligen Nachbarin in den Kalender ein, bringe den Zehnjährigen dazu, seine Schularbeiten zu erledigen, wickle einen Strang Wolle zu einem Knäuel und trinke einen Kaffee.

17.25 Uhr. Wir sitzen im Bus zum Sportverein. Sehnsüchtig gucke ich aus dem Busfenster zur Schwimmhalle. In die Sauna möchte ich mal wieder, oh, wär das schön. Gehe im Kopf die nächste Woche durch. Dienstag vielleicht?

18.00 Uhr. Die Jungs turnen. Ich setze mich ins „Casino“ der Turnhalle und hole mein Strickzeug raus.

18.25 Uhr. Ich scheitere komplett an der Strickschrift für ein Lochmuster. Allein die Frage, ob es von links oben nach rechts unten oder von rechts unten nach links oben zu stricken ist, eröffnet zu viele Möglichkeiten, etwas falsch zu machen. Um die wartenden Kinderturneltern herum wird der triste Turnhallenaufenthaltsraum für eine Hochzeit geschmückt, es ist ein komisches Gefühl, in anderer Leute Hochzeitsvorbereitungen zu geraten. Ich versende ein paar Hilfe-ich-bin-so-allein-sms; Antworten summen ins Handy. Der liebste Freund ist auf dem Weg zur Lesebühne; die Besuchsfreundin konnte heute ihr Haus nicht verlassen, weil jemand das Schloss so sehr kaputtgemacht hatte, dass es von innen nicht mehr zu öffnen war. Abenteuer überall.

19.30 Uhr. Meine Söhne ziehen sich um, wir gehen zum Bus. Auf der Heimfahrt gucken sie hinten aus dem Busfenster und addieren blitzschnell die Ziffern aller Autokennzeichen, die sie sehen. Der Sechsjährige kommt auf eine Zahl weit über Tausend, bevor wir zu Hause sind.

20.15 Uhr. Wir essen zu Abend. Der Zehnjährige und der Sechsjährige leeren die ganze Tüte Walnüsse und versuchen – inspiriert von der Sendung mit der Maus – Walnussöl aus den Stückchen zu pressen. Der Sechsjährige macht ein großes Gezeter, weil er beim Tischabräumen mit seinem Bruder den Brotteller der Tischhälfte findet, für die er zuständig ist. Brot wegzuräumen findet er einfach zu mühsam, wegen der Tüte. Ich wasche ab und hätte furchtbar gern ein zweites Paar Arme und Hände, um mir die Ohren zuzuhalten.

20.35 Uhr. Der Sechsjährige liegt im Bett, wir versöhnen uns. Ich war aber auch eine ganz schöne Nörgel- und Schimpfmama eben, sage ich, um mich zu entschuldigen; und ich, sagt der Sechsjährige, war ein ganz schönes Nörgel- und Schimpfkind. Wir sind halt verwandt, sage ich – und wir kichern und umarmen uns und vergessen den Streit.

20.55 Uhr. Der Zehnjährige liegt im Bett und wir reimen Unsinn, eine wilde Ballade mit Made, schade, Gnade, Marmelade – der Zehnjährige steuert noch Brigade und Barrikade bei, gerade fällt uns noch ein und, ach ja: malade. Endlich erzählt er ein bisschen von der Schule, also bleibe ich einen Moment bei ihm stehen, obwohl es so spät ist. Bleib hier, Mama, sagt mein großer Sohn, schlaf doch hier! – Morgen, nehmen wir uns ganz fest vor, legen wir die Matratze des Sechsjährigen mit dem Hausstaubmilbenbezug vor die große Kuschelmatratze im Zimmer des Zehnjährigen und schlafen alle drei nebeneinander, das haben wir schon viel zu lange nicht mehr gemacht. Na hoffentlich muss ich morgen abend nicht mehr zu lange arbeiten, denke ich… aber irgendwie wird das schon gehen.

21.15 Uhr. Schmutzige Wäsche, volle Mülleimer, ungeöffnete Post ignorieren. Schnell Haare waschen. Ins Bett kuscheln, Rechner an. Gebloggt habe ich auch schon viel zu lange nicht mehr.

So lala

Draußen verfärben sich die Bäume spektakulär. Diese Oktoberwochen gehören für mich zu den allerschönsten im Jahr, immer wieder. Mein Balkon ist so windgeschützt, dass ich es in der Sonne noch immer warm habe, die vorletzte Paprika wird noch gelb und die Tomaten wenigstens rosig.

Draußen im Wind ist es dafür eiskalt.

Ich versuche, mich von einer unangenehm stressigen Woche zu erholen: Überstunden, Abteilungsausflug, ein Urlaubstag, der für einen ganztägigen und heftig anstrengenden Workshop zu meinem reinsten Privatvergnügen draufgeht, ein Mittenamtag-Arztbesuch, bei dem ich es immerhin hinbekomme, der Ärztin, die meinem Allergikerkind nicht den Bettbezug verordnen will, den die Kasse zahlen würde, die Nummer der Krankenkassenmitarbeiterin in die Hand zu drücken, die nicht den Matratzenbezug bezahlen möchte, den die Ärztin verschrieben hat. Sollen die beiden das unter sich ausmachen, der Sechsjährige zumindest hustet nicht mehr, seit er zweimal täglich Kortison inhaltiert. Na bitte. Vielleicht dürfen wir es ja sogar bald absetzen.

Ich habe fest vor, zur Demo gegen TTIP zu gehen, habe aber niemanden, der mitgeht. Ich versuche, mich online zu verabreden, es gibt ja jetzt allerlei Portale für sowas. Tausche ein paar Mails mit einem Troll aus, der mir unbedingt beweisen will, dass es total sinnlos ist, zu demonstrieren, Ideale zu haben oder an das Gute zu glauben. Gehe mit einem blinden Mann auf Partnerinsuche einen Kaffee trinken, weil ich neugierig bin, und bin hinterher froh, wieder zu Hause zu sein.

Statt auf der Demo ende ich in Linum beim Kranichegucken, der Vater meiner Kinder lädt mich – total überraschend – ein, wir vertragen uns seit einiger Zeit verhältnismäßig gut. Es wird ein erstaunlich entspannter Tag, auch wenn wir das Feld nicht finden, auf dem die Kraniche (bis zu 200.000 sollen es sein) sich Winterspeck anfressen; und auch wenn wir nicht dahin gehen dürfen, wo sie sich abends zum Schlafen ins Wasser stellen. Immerhin sehen wir sie fliegen, in mehr oder weniger unordentlichen Pfeilformationen, und ihr Geschrei erfüllt den ganzen Himmel.

Eine furchtbar lange S-Bahn-Fahrt mit viel zu vielen Baustellen-Pendelverkehr-Wartezeiten verbringe ich damit, die Texte über das Entlieben zu lesen, die die Katastrophenchronistin verlinkt hat – und als erstes ihren, berührend und schön. In meinem eigenen Kopf lässt das Nachdenken über die Liebe gerade nur einen Haufen ebenso melancholischer wie banaler Pflanzenmethaphern ins Kraut schießen (man kann die Liebe ausreißen; wenn sie keinen Raum zum Wachsen bekommt, verkümmert sie – oder hat man schon mal von Bonsailiebe gehört?; und vielleicht verholzt sie mit der Zeit, wenn die Verliebtheit nachlässt und der Beziehungsalltag grau wird…); ich schüttele mich ein bisschen, ich habe wohl doch zu lange zwischen meinen Blumen auf dem Balkon gesessen.

Ich schalte die Heizung ein, die inzwischen so sonderbare Geräusche von sich gibt, dass ich unbedingt dringend die Hausverwaltung anrufen muss, die eigentlich schon vor ein paar Wochen jemanden vorbeischicken wollte. Ich wärme meine eiskalten Füße auf und gucke raus in die Linde, die schon so viel Laub verloren hat, dass ich die Taube sehen kann, die taubenseelenallein im Geäst sitzt und den Kopf unter den Flügel gesteckt hat. Ich fange an, mir zu überlegen, was wir in diesem Jahr in unserem Waldhäuschen brauchen werden: Strickzeug; Gries und Reis und Nudeln zum Mittagessen; eine Malerplane, um die Matratze des Sechsjährigen einzuschlagen, der im letzten Jahr vor lauter Husten dort kaum schlafen konnte; das dicke Bündel Briefe, das meine Mutter vor etwas 50 Jahren als Verliebte und später Verlobte an meinen Vater geschrieben hat. Und viele, viele dicke Sachen.

Noch eine Woche bis zur Auszeit. Tagezählen.

Alltag…

Morgens dampft das Wasser im Kanal wie heiße Gemüsebrühe, wenn ich mit dem Sechsjährigen an der Hand zur Schule unterwegs bin. Unser Atem dampft auch. Auf den Blättern der Pappelschosser am Weg liegen viele kleine Tautropfen; auch die knallroten Blätter des wilden Weins sind nass und leuchten gleich noch mehr.

Vor den Schließfächern im Schulflur herrscht Schulanfängerchaos. Eltern grüßen sich von einer Flurseite zur andern, über das wogende Meer aus offenen Ranzen, Sportbeuteln, Jacken, Hausschuhen und mit Schlüsseln hantierenden Kindern hinweg, das sich vor der Lehrerin wundersamerweise teilt.

Auf dem Weg zur S-Bahn gehe ich zwischen den alten Plattenbaublocks durch, vor denen es in liebevoll gepflegten, mit Hecken umhegten Gärtchen herbstlich blüht. Dem vordersten Block wird gerade ein wärmendes Kleid aus Isolierplatten angezogen. Auf einer der Bänke neben der Rasenfläche, die hinter den Blocks zur Straße hin liegt, liegt eine obdachlose Frau und redet wirr im Schlaf.

Nachmittags sind die Kinder müde. Der Zehnjährige kommt mit dem Fahrrad nach Hause, und ich bin froh, wenn ich die beiden nicht nochmal aus dem Haus treiben muss, denn das ist anstrengend, sogar wenn es nur zum Sportverein geht, wo beide gerade wieder sehr gern turnen. Wenn wir zu Hause bleiben können, gibt es eine halbe Stunde Spielzeit, während der ich versuche, die Positionen von Pneumologin und Krankenkasse zum Allergiker-Matratzenbezug des Sechsjährigen irgendwie zusammenzubringen, Bankgeschäfte zu regeln, Geschenke für diverse Anlässe vorzubereiten und im Haushalt wenigstens einen groben Überblick zu behalten. Dann muss der Zehnjährige wieder ran und Schulsachen erledigen – mindestens im Lerntagebuch, das wöchentlich abgegeben werden muss, ist immer was zu ergänzen. Wenn wir gegessen haben und eine halbe Stunde vor dem Computer Fernsehen geschaut haben und der Sechsjährige im Bett liegt, frage ich den Zehnjährigen Englischvokabeln ab. Pädagogische Ratlosigkeit: Wie lassen sich diese Fragewörter bloß auseinanderhalten? Bald werde ich sie selbst verwechseln.

Am Wochenende haben wir – zum ersten Mal seit der Schuleinführung – nichts vor. Oder doch: Auf mich warten die Kartons mit den Wintersachen, in unserem Waldhäuschen werden wir sie in zwei Wochen schon brauchen. Und: Drei Klassenarbeiten hat der Zehnjährige vorzubereiten, so ganz selbständig geht das noch nicht.

Aber vor allem brauchen die Kinder Zeit. Spielzeit zu Hause, miteinander oder allein, mit mir, an der Tischtennisplatte oder auch mal auf dem Fußballplatz – die unter der Woche gerade viel, viel zu kurz kommt. Zeit, in der wir nicht irgendwohin aufbrechen, irgendetwas erledigen müssen. In der ich den beiden in Ruhe zuhören, mit den beiden das neue Lied aus dem Musikunterricht bei youtube suchen oder abends mal mehr als zehn Minuten vorlesen kann.

Familienalltag. Immer wieder muss er sich neu finden, neu einpendeln, während die Kinder größer werden. Mein Gefühl, allem nur noch hinterherzulaufen, muss vor allem dringend wieder aufhören. Zur Zeit ist es schlimm: Eine Freundin erinnert mich am Telefon zufällig an den Freitagstermin des Zehnjährigen. Eine Kollegin erwähnt, dass ja am 3.10. die Läden geschlossen haben. Sonst hätte ich beides vergessen.

September

Was in einen Monat so alles hineinpasst!
Septembereindrücke:

Der Sechsjährige mit seiner Schulklasse auf den Treppen zum Eingang der Schule. All die Eltern, die um uns herum Handys und Kameras recken und die stolzen Gesichter ihrer Schulanfänger einfangen wollen. Der altbekannte Schulflur, in dem ich nun in jeder zweiten Woche wieder täglich stehe, um meinen kleinen Sohn abzuholen. Mein Ärger darüber, dass die Elternabende für Klasse 1c und 5c natürlich – natürlich! – parallel stattfinden. Der Zehnjährige, der abends bis neun Hausaufgaben erledigt, die auf einmal schlagartig so viel mehr geworden sind, dass mein unkonzentriertes Kind sie nicht mehr in den dafür vorgesehenen Arbeitszeiten im Ganztagsschultag schafft.

Ein Familienwochenende mit der örtlichen Kirchgemeinde. Viele fremde Gesichter – aber alle sind aufgeschlossen und freundlich. Mit den ersten teilnehmenden Familien kommen wir schon in der Bahn ins Gespräch; was für ein wohltuender Kontrast zum Berliner Alltag, in dem Fremde sonst meistens ausdruckslos aneinander vorbeistarren… Meine Söhne laufen zum ersten Mal einfach mit den anderen Kindern mit. Der Zehnjährige hat einen alten Kita-Freund wiedergetroffen, den wir aus den Augen verloren hatten, weil er eine andere Schule besucht. Ganz selbstverständlich setzen beide sich zusammen an einen eigenen Tisch und verschwinden nach dem Frühstück in Richtung Tischtennisplatte, sobald sie genug Schokomüsli in sich hineingestopft haben. Am Nachmittag steigt plötzlich schon Rauch von der Feuerstelle auf, an der es eigentlich erst am Abend ein Lagerfeuer geben soll. Vom Feuer des Vorabends war genug Glut übrig, ein paar pfadfindererfahrene Mädchen haben das Feuer in Gang gebracht, meine Söhne sind mitten unter den Kindern, die da ohne jede Erwachsenenaufsicht Holz zusammentragen und das Feuer schüren. Abends gibt es dann Stockbrot, das auch nach langer Zeit über der Glut immernoch wie süßer Kuchenteig schmeckt, Gitarrenlieder, eine Gutenachtgeschichte und einen großen brandenburger Himmel voller leuchtender Sterne.

Ein Wochenende mit dem liebsten Freund. Zum ersten Mal in diesem Herbst in die Sauna, mit Blick auf einen See, in dem man von der Sauna aus direkt schwimmen kann, hinaus in die pechschwarzen, kalten, nächtlichen Wasser. Vom See aus sieht man die beleuchtete Stadt, das ist wunderschön. Am nächsten Tag eine Paddeltour, spätsommerliche Sonne, glitschige Haltestangen in der Schleuse, ein Café am Wasser, das Liegestühle rausgestellt hat. Auf dem Rückweg psychosomatischer Gegenwind (eigentlich will ich garnicht zurück…), der für zwei Tage Muskelkater sorgt.

Eine Ausstellung moderner samischer Kunst in den Nordischen Botschaften in Berlin, in einem lichten, mehrstöckigen Gebäude. Ich verliebe mich in einen Baumstamm, ein großes Stück Treibholz, das eine Künstlerin mit Farbe und Glitzersteinen gestaltet hat, „Tochter der Aurora Borealis“. Manchmal möchte ich auch gern eine Künstlerin sein.
Stattdessen nimmt immerhin nebenher meine selbstgestricke Mütze Gestalt an, obwohl ich Fehler mache und häufiger „rückwärts stricken“ muss. Etwas unförmig wird das Ganze am Ende dann doch, leider.

Was noch?

Ich lese „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ von Eugen Ruge und bin beeindruckt; ich verpasse ein Kiezfest, ein Drachenfest, die ArtWeek, den Herbstspaziergang des Schulfördervereins, den Geburtstag einer Freundin und jede Menge Kinofilme. Ich freue mich über und auf Einladungen zu Freunden. Meine ganz große Schwester besucht mich, spontan, für einen Abend und einen Morgen, und begleitet mich und den Sechsjährigen zur zweiten „nasalen Provokation“ bei der Lungenärztin, bei der ihm Hausstaubmilben in die Nase gepustet werden, damit die Krankenkasse nach erfolgter Allergiediagnose einen milbendichten Matratzenbezug stellt.
Ich führe ein Punktesystem für den Sechsjährigen ein – 40 Mal Kortisoninhalation (ohne Meckern und ohne zwischendrin den Mund vom Spacer zu nehmen) wird mit einem Kinobesuch belohnt. Ich führe ein Punktesystem für den Zehnjährigen ein – 30 Mal Hausaufgaben und Ranzenpacken (ohne Meckern, selbständig und vollständig) wird mit einem Mama-und-Sohn-Tag in einem Erlebnisbad belohnt. Der Vater meiner Kinder und ich beginnen, die Kinder um einen Tag verschoben wechseln zu lassen; die ersten Montage mit jeweils nur einem Kind allein sind wunderbar entspannt, auch wenn Arzttermine wahrgenommen und Hausaufgabenberge abgearbeitet werden müssen.

Und nachts, wenn ich nicht schlafen kann, stelle ich im Kopf mein kompliziertes Familien-und-auch-sonst-System auf, nachdem ich mit meiner ganz großen Schwester über Familienaufstellungen gesprochen habe. Es ist offensichtlich, dass es in meinem System viel zu viel Hinundher gibt; dass jede friedliche Interaktion mit dem Vater meiner Kinder gut ist, weil sie den beiden hilft, damit es sie nicht zerreißt; und dass da jemand fehlt, der neben mir steht, der nicht fortgeht.
Therapeutische Septemberbinsenweisheiten um fünf Uhr in der Frühe.

Das Balkongartentagebuch: Herbstprojekte

Wenn der Schulzeitwecker morgens um dreiviertel sechs klingelt, ist es jetzt schon noch dunkel, und durch die Balkontür kommt so kalte Luft, dass ich kaum noch Lust habe, als erstes rauszugehen und nachzusehen, wie der Tag wird und wie viele Windenblüten sich gerade öffnen. Auch Abends bleibt weniger Zeit, noch bei Licht auf den Balkon zu kommen.

Aber ich sehe zu, dass ich das hinkriege, denn ich bin dabei, Samen zu ernten. Frau Pingaga hat ein Samen-Kreiselei-Projekt initiiert, bei dem ich begeistert mitmache. Die Aussicht, dass die Samen meiner Winden und Ringelblumen, die ich selber aus den Thüringer Gärten meiner Familie nach Berlin gebracht habe, nicht jahrelang ein trauriges Dasein in einer Vorratstüte führen, sondern vielleicht schon im nächsten Jahr irgendwo anders wachsen und blühen werden, beflügelt mich. Und in meinem Kopf wächst und blüht die Wunschliste, welche Samen ich im Austausch besonders gerne bekommen würde. Tomaten mal selbst ziehen – auf dem sonnigen Fensterbrett im Zimmer des Sechsjährigen könnte das gelingen. Oder Paprika! Dill hätte ich gerne. Und Studentenblumen und diese herrliche gelbe Staude, die mein Vater immer Mädchenauge nannte und deren gekaufte Version auf meinem Balkon einfach keine Samen tragen will…

In meinem Schlafzimmer stehen inzwischen alle meine Kompottschälchen – unterschiedlich hoch gefüllt mit verschiedenen Körnern und Körnchen. Zur Zeit ist es besonders der Samen meiner doch noch in Blüte gegangenen Rucola-Pflanzen, um den ich mich kümmern muss. Regelmäßig schaue ich nach, ob an den wild durcheinanderliegenden Blütenstängeln wieder Schoten gelb geworden sind – denn warte ich zu lange, dann öffnen sich zu viele von alleine. Die paar, die ich übersehe, reichen schon und werden mir im nächsten Jahr wieder Rucolapflanzen in allen Beeten bescheren, in denen ich die Erde nicht ausgetauscht habe.

Nicht nur der Rucola, sondern auch anderen Kräuter sind in diesem Jahr so schön geworden, dass ich zum Abendessen meistens eine Hand voll Grün vom Balkon hole. Ansonsten gibt es nur noch wenig zu ernten. Dass die letzten Tomaten an der riesigen Staude im Beet des Zehnjährigen noch reif werden, kann ich nur hoffen. Die beiden Paprika, die noch draußen hängen, werden sicherlich nicht mehr orange – aber die lassen sich ja auch grün essen. Der große Topf mit den Kartoffeln steht noch in seiner Ecke, bisher ist das Kraut nicht ganz vertrocknet, also warten wir mit dem Ernten noch ein wenig.

Und dann ist da noch die lästige Metallwand, die meinen Balkon von dem der Nachbarn trennt und die Sonneneinstrahlung so stark reflektiert, dass die Rankepflanzen, mit denen ich sie Jahr um Jahr zu begrünen versuche, im Hochsommer immer verbrennen. Eine ganz dünne Sperrholzplatte möchte ich vor die Metellwand setzen – vielleicht gelingt das in diesem Herbst, endlich.

samenkreiselei2015

Novembergeschichten

Am Morgen ist es noch ganz dunkel, wenn der Neunjährige auf den Balkon geht und prüft, wie warm er sich anziehen muss. Am Spätnachmittag, wenn wir zum Sportverein fahren, ist es schon wieder dunkel. Wenn wir von da heimfahren, schauen wir vom Bus aus in die beleuchteten Fenster, kleine Sekundenblicke in andere Leben mit ihren Bücherwänden und Papierlampenschirmen und Hochbetten und Adventsdekorationen und Einbauküchen, in denen Abendessen vorbereitet werden.

Abends, wenn ich das Licht im Zimmer des Fünfjährigen ausschalte, so dass nur noch der Lichtschein von der Lampe im Hinterhof ins Zimmer fällt, die genauso aussieht wie einer der achttausend Ballons, die am 9. November in den Himmel aufgestiegen sind, so dass wir jeden Abend sagen: guck mal, da ist ein vergessener Ballon, bei uns steht noch einer – abends, wenn es im Zimmer des Fünfjährigen dunkel wird, fragt er mich Tag um Tag: Mama, es gibt hier doch keine Wölfe und Füchse in der Nähe? Und wenn die ums Haus schleichen, können sie die Tür ja nicht aufmachen, weil die abgeschlossen ist, stimmts? Und sie können auch nicht an der Wand hochklettern und sich mit Macht durchs Fenster werfen, oder? Und wenn sie sich dann im Zimmer anschleichen, würden wir sie doch hören?

Wenn meine Kinder schlafen, kuschele ich mich, Laptop auf den Knien, im frischgestrichenen halben Zimmerchen ins Bett, neben der Wand, die leuchtend Mangogelb geworden ist, genau wie ich es wollte. Die weiße Wand gegenüber ist noch ganz leer.

Weil der Fünfjährige nun doch zu viel hustet, bin ich ein paar Tage mit ihm zu Hause. Wir inhalieren mit Adrenalin und Mucosolvan und lesen dabei Kapital vom Paddington Bär vor, für die ich mir den richtigen Vorleseton bei einer Berliner Slammerin (leider ihren Namen vergessen und den Link nicht wiedergefunden) abgelauscht habe. Plötzlich funktionieren die Geschichten, die uns langweilig vorkamen, als wir das Buch schonmal in der Hand hatten.

Wir backen Hustenplätzchen (glasieren mag ich sie dann lieber alleine) und hängen Sterne auf und ich arbeite auch von zu Hause aus, aber nur ein bisschen, bis mich mein Chef am Handy erwischt und den großen Notfall ausruft, so dass ich einen ganzen Tag vor dem Rechner verbringen muss, den Fünfjährigen neben mir mit einem Spiel, dass eigentlich dem Neunjährigen gehört und mit dem der Fünfjährige sonst nie, nie spielen darf. Zwischendurch Kochen, Inhalieren, mehr von Paddington, den Neunjährigen begrüßen und dann in seinen Nachmittagstermin mit seinem Papa verabschieden, den Kindern Abendessen machen, Gutenacht sagen, wieder an den Rechner. Schöne neue flexible Arbeitswelt: Irgendwo schnippst einer, der vielleicht nie sein krankes Kind betreuen musste, mit den Fingern, und äußert einen Wunsch. Ich hätte da gerne noch bis Montag früh… Irgendwo anders sitze ich am Rechner und besteche meine Kinder mit zu viel Fernsehen. Dazwischen mein Chef, der auch nichts dafür kann. Und nichts dagegen.

Am Samstag Plätzchenbackgroßaktion mit Freunden. Hinterher Teig abduschen, in die vorbereiteten Kleider schlüpfen, die Freundin begrüßen, die netterweise bei meinen Kindern bleibt, damit ich eine Geburtstagsfesteinladung nicht (wie die letzten gefühlt 137 Parties) absagen muss. Noch einen Schluck starken Kaffee, dann hinaus in die eiskalte Finsternis. Wie gut das tut, mal wieder mit einem Haufen fremder Menschen zu reden, die interessante Leben und Berufe und Hobbies und Ansichten haben. Am nächsten Morgen um halb sieben kann ich nur matt brummen, als der Fünfjährige zu mir unter die Decke schlüpft. Aber um neun beim Frühstück erzähle ich ihnen die besten Geschichten: Von den dunkelgrün gestrichenen Küchenwänden, dem Mann, der für sein Leben gern auf Rennstrecken Motorrad fährt, dem Baby, das stundenlang vergnügt von einem Arm auf den anderen wanderte, und dem Taxifahrer, der mich heimgebracht hat und dann noch die ganze Nacht durcharbeiten musste. Der Neunjährige kann es kaum glauben: wie jetzt, eine Party – und da wurde die ganze Zeit nur geredet?

Am Montagmorgen in der S-Bahn werde ich zum ersten Mal in meinem Leben mit „Junge Frau“ angesprochen, noch dazu nicht von einem älteren Herrn, der das vielleicht ehrlich gemeint hätte haben können, sondern von so einem jungen Typen. Trotz der Bierfahne, die der schon um acht hinter sich herzieht, schmerzt das. Liegt es an der Mütze, ohne die bei dem schneidenden Berliner Ostwind heute garnichts geht – oder sehe ich so alt aus?

Heim komme ich in die leere Wohnung. Die Adventskalender, die ich am Abend noch vorbereitet und den Kindern hingestellt und hingehängt habe, werden eine Woche lang darauf warten, dass jemand die nächsten Türchen öffnet. Die stillen Zimmer wünschen sich Licht und Lachen und Gespräche und Träume – aber nur der Mann von der Telefongesellschaft ruft an, um mich von einem neuen Tarif zu überzeugen. Und der Ostwind heult im Schornstein.

Entschleunigen

Zum dritten Mal fahren wir in den Herbstferien in ein Feriendorf in der Uckermark. „Unser“ Häuschen nehmen wir in Besitz, als ob wir hier zu Hause sind und nur mal eben verreist waren – stellen den Kühlschrank an, legen unsere Sachen in die selben Schubladen wie im letzten Jahr, packen die Kekse wieder nach oben auf den Schrank, kümmern uns darum, dass die kaputte Abdeckung vom Herd gerichtet wird, holen den Techniker, weil die Tür nicht mehr von innen abschließbar ist – dabei ist noch ein letzter Rest von der Wärme in den Räumen, die die Leute vor uns hinterlassen haben, die nur Stunden vor unserer Ankunft abgereist sind.

Ach, Sie sind auch mal wieder da!, begrüßt uns am Abend die Frau, die das Buffet betreut. Ja, wir fallen hier auf und werden deshalb wiedererkannt: Zwei Frauen mit zwei Kindern – und dann auch noch ohne Auto, dafür aber mit einem Trolley voller Lebensmittel, weil wir mittags nicht im Speisesaal mit den Gruppen und den anderen Familien essen, sondern selbst kochen.

Was ist es, was ich an diesem Waldurlaub so mag, dass ich lieber wieder hierherkommen möchte (aber keinesfalls in ein anderes als „unser“ Häuschen), als irgendetwas neues auszuprobieren, irgendetwas aufregendes, irgendwas, was weniger umständlich ist? Warum tut es mir und meinen Kindern und der Besuchsfreundin gut, im Urlaub diesen vertrauten Ort aufzusuchen, über den wir schon so viel wissen – wo die besten Marönchenstellen sind, dass Billiardspielen sich nicht lohnt, weil die Queues immer an die Wände des zu kleinen Raumes stoßen, in dem der Billiardtisch steht, dass man nach dem  Abendessen im Speisesaal den Tisch abwischt, auf welcher der vier Elektroplatten im Häuschen die Pfanne am schnellsten heiß wird, dass es unter den Birken auf dem Gelände manchmal Birkenpilze gibt – und viel Zeit damit verbringen, Dinge zu wiederholen, die wir im letzten Jahr gern getan haben?

Vor allem – und vor allem: für mich – ist das alles Entlastung. Das, was ich schon kenne, und nicht neu entdecken muss. Die kurzen Wege, alle zu Fuß. Der schlechte Handy-Empfang, hinter dem ich mich verstecken kann, wenn ich keine Lust auf Kontakt zur Außenwelt habe. Die winzige Küche, in der das Kochen Spaß macht und nicht Stress. Die wenigen Dinge, die aufzuräumen nur eine Viertelstunde am Morgen in Anspruch nimmt. Ein klitzekleiner Alltag – überschaubar, zu bewältigen, frei von komplexen Entscheidungen. Beim Frühstück esse ich Marmelade-Schokolade-Brötchen und trinke Kaffee dazu. Die Kinder meckern, wir gehen trotzdem in den Wald. Wir sammeln Pilze und Beeren. Wir spielen Federball und Tischtennis; wir leihen Minigolfschläger aus, wir spielen am Tisch („Ligretto“ und „Phase 10“ in diesem Jahr), wir kickern, es gibt Griesbrei mit Waldbeeren oder Nudeln mit Pesto und frischen Pilzen, mittags lese ich eine Stunde, dann gibt es Kaffee, und abends muss abwechselnd immer eins der Kinder unter die Dusche.

Und es wird uns nicht langweilig. Jedesmal, wenn wir abreisen, wollen wir wiederkommen. Beim nächsten Mal aber ganz bestimmt Zeit zum Briefeschreiben haben. Dann endlich auch mal eine richtige lange Wanderung machen. Und unbedingt in der Stadt in die Therme gehen.

Oder wir machen einfach dieselben Sachen wie in diesem Jahr.