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Mirakel am Totholz, überstehende Zahnfüllungen, vom Wiederfinden und vom Kofferpacken

Letztes Wochenende in Hannover hatte der Hannoverliebste ein Stattauto gemietet, und nach einigem Hinundher wegen des unentschlossenen Wetters entschieden wir uns gegen Solebad und für Waldwanderung. Dieses Mal im Ith, einem dieser Höhenzüge am Übergang vom Norddeutschen Flachland ins Niedersächsische Bergland. Hannover liegt ja sehr fein zwischen beidem, wie ich gelernt habe.

Waldwanderung bedeutet inzwischen immer, sehr viele sterbende Bäume zu sehen. Der Ith war da keine Ausnahme. Obwohl ich mal irgendwo gelesen habe, dass Eschen den Klimawandel besser abkönnen als andere Bäume, ging es denen dort garnicht gut. Nahe am Weg gab es immer wieder Eschenstämme, an denen die Rinde schon stellenweise fehlte und den Blick auf Borkenkäferfraßmuster freigab, die ich – eine vage Erinnerung – zum ersten Mal vor vielen Jahren in einem Kinderbuch gesehen habe. Ich wusste jedenfalls sofort, dass es sich um Borkenkäferfraßspuren handelte. Wenn die Eschen noch nicht ganz tot waren, leuchteten diese entdrindeten Stellen ganz hell, und die Bäume sahen wund und verletzt aus.
Ein Stück weiter – wir mussten einen eher kleinen Runderwanderweg gehen, weil diverse Knie, Hüften und Füße der Meinung waren, dass eine Wanderung mit ihnen nicht abgesprochen sei – gab es dann einen riesigen, schon länger gestürzen Buchenstamm, dessen Pilzbewuchs wir als Zunderschwamm identifizieren konnten. Gelernt: Aus der weichen, sporentragenden Schicht unten am Pilz machte man früher wirklich Zunder, die Schicht wurde getrocknet, gekocht, mit Urin behandelt (ähem, doch ganz schön, dass Streichhölzer erfunden wurden) und diente dann dazu, mit Feuersteinen geschlagene Funken aufzufangen und davon in Brand zu geraten. Der Zunderschwamm verfügt über die Superkraft, die Wuchsrichtung zu ändern, wenn der Baum, den er befallen und dessen Holz er zersetzt hat, stirbt und umstürzt – Geotropismus heißt das, der Pilz wächst einfach in eine andere Richtung weiter, immer so, dass seine sporentragende Schicht nach unten zeigt, damit die Sporen herausfallen können.
Noch ein Stück weiter gab es dann seltsame, kleine, schwarze, keulenförmige Pilze, die aus schon ganz bemoosten toten Stämmen guckten: „Dead man’s fingers“, heißen die sehr sprechend auf Englisch, „Vielgestaltige Holzkeule“ gibt den Gruselfaktor dieser Pilzart nicht so nett wieder.
Außerdem gesehen, bestaunt und bewundert, wie Buchen auf Felsen wachsen und ihre Wurzeln sich in den Spalten der Steinbrocken entlangschlängeln, bis sie irgendwo, Meter und Meter weiter, ein wenig Erde finden.
Hatte ich erwähnt, dass ich Bäume sehr liebe und sehr, sehr gerne neue Dinge über Bäume und Pilze und Pflanzen jeder Art lerne?

Am Sonntag reiste ich zurück nach Berlin und leistete am Nachmittag dem Zwölfjährigen Gesellschaft, der endlich sein Herbarium fertigstellte.

Die Woche dann sehr alltäglich und arbeitsreich; den strahlendblauen Himmel und perfekten Herbstsonnenschein vor allem durchs Bürofenster gesehen. Ein Zahnarzttermin, bei dem ich zum zweiten Mal und bezogen auf eine zweite Füllung hörte, dass sie ein wenig überstehend sei. Beide Male bezog sich das auf Füllungen, die ich knapp 20 Jahre mit mir herumtrage und die niemals vorher irgendwelche Probleme und Beschwerden verursacht haben. Schrumpfen denn meine Zähne beim Älterwerden? Oder was ist das für eine seltsame Zahnarztbegründung für jede Art von Zahnfleisch- und Zahnbeschwerden? Der kaputte Zahn jedenfalls, der weiter fröhlich in meinem Mund herumstört und nicht wirklich belastbar ist, soll im Winter dann statt des Provisoriums nochmal eine Kunststofffüllung bekommen; nicht aber – so viel steht fest – ohne dass ich dazu noch eine zweite Meinung einhole. Wünsche mir dann und wann, ich hätte nicht gegoogelt, wofür dieser Zahn in der esoterischen Lehre steht: natürlich für den Alltag, das passt einfach zu gut, aber ich glaube ja garnicht an sowas…

Was schön war: In der Tasche der alten Regenjacke die verloren geglaubte Hülle des Regenponchos wiedergefunden und in der Tasche einer lange nicht getragenen Hose die noch viel länger verloren geglaubte Armbanduhr.

Am Samstag vorgearbeitet, der Handel mit meiner Chefin ist, dass ich dafür am Montagmorgen nur noch zwei Stunden Übergabe mit diversen Kolleg:innen machen muss und dann Schluss machen und abreisen kann. Sehr guter Deal. Koffer und Rucksäcke sind inzwischen gepackt, morgen am späten Mittag kommen wir beim Waldhäuschen an, zum – Jubiläum! – zehnten Mal. Nach dem Zaunlatten-Zaunfelder-Prinzip bedeutet das, dass wir vor neun Jahren zum ersten Mal dort waren, der Zwölfjährige damals drei, der Sechzehnjährige sieben Jahre alt.
Wir werden uns erinnern, Waldhäuschengeschichten (von Pilzen, Beeren, Freunden, Ausflügen, Wanderungen, Sternbildern, Federballrekorden, Bastelprojekten und von noch mehr Pilzen) erzählen, in das vertraute, über all die Jahre gewachsene Glücksgefühl eintauchen, das uns immer wieder an diesen Ort zurückkehren lässt.

04.06.2021 – Balkongartentagebuch

Die rechte Seite der Türschwelle zum Balkon liegt schon im Schatten. Die Füße ohne Socken in die Sonne stellen. Das Laptop auf die Knie. Einen Kaffee.

Es blüht. Katzenminze, Bienenfutter und Männertreu haben die Bienen angelockt, spät in diesem Jahr, vor wenigen Tagen erst. Jetzt ist meistens eine zwischen den vielen kleinen blauen Blüten unterwegs; schade, dass sie kein Namenschild trägt. Einmal waren drei gleichzeitig da, es sind also verschiedene, die vielleicht dank meines Balkons überleben und irgendwo Eier fürs nächste Jahr verstecken. Nur leiden können sie sich gegenseitig nicht, prallen wütend gegeneinander, wenn sie sich begegnen, und fliegen unwillig davon.

Die angeblich kleine blaue Gladiole hat in diesem Jahr vier große, kräftige Blütenstängel bekommen, jeder mit fünf oder sechs blassbraun-gelblichen Blüten. Die Schwertlilien, die nicht aus Knollen, sondern aus Zwiebeln wachsen, sind nicht wiedergekommen, der Winter war wohl zu kalt. Dafür entwickelt sich das Pflänzchen ganz wunderbar, dass ich letztes Jahr aus irgendwo mitgenommenen Samen gezogen habe, wächst zu einer großen Staude heran und stellt sich als Kokardenblume heraus. Offen, ohne schützende Hüllblätter, wachsen die Korbblüten heran; dann wachsen ihnen rote Blütenblätter mit gelbem Rand, auch das Körbchen färbt sich rot und gelb, das ist sehr prächtig.

Etwas mickerig die Tomaten. Es mag an den selbstgezogenen Studentenblumen liegen, die ich zweien von ihnen mit in den Topf gepflanzt habe. Die Studentenblumen blühen schon, herrlich rotorange. Auch das von den Staren gerupfte Wandelröschen erholt sich, bekommt neue Blätter und viele Knospen. Die Kräuter wuchern und haben den ersten Mehltaubefall, wir müssten viel mehr Kräuter essen, nicht nur zum allfreitagabendlichen Kräuterquark. Der Sechzehnjährige hat Samen für mexikanische Sonnenblumen (ich bin gespannt!) geschenkt bekommen und ein paar zu viele ausgesät, dasselbe ist mir mit den Zinnien passiert, von denen ja meistens welche eingehen. Es stehen also wieder mehr Töpfe auf dem Balkon, als ich vorhatte, da nützen alle guten Vorsätze nichts.

Die erste Blüte an der einzigen wilden Malve, die im Balkonkasten des Sechzehnjährigen nicht erfroren ist und jetzt die ganzen Nährstoffe für sich allein hat und deshalb geradezu riesig geworden ist, zeigt eine winzige violette Spitze; auch die Kornblumen, die ganz von selbst im Kräuterkasten und zwischen den Lilien aufgetaucht sind, werden bald blühen.

Das Vogelhäuschen hat nun wohl endlich seinen Platz gefunden; außen am Balkongitter, wo der Unrat der Vögel in den Hinterhof fällt und sie satt werden können, ohne erst auf meinem Balkon Unfug zu stiften. Mutig wagen sich die älteren Spatzen ins Häuschen, während ich auf dem Balkon sitze; die jungen trauen sich nur bis aufs Balkongeländer und fliegen entsetzt wieder ab; die blanken schwarzen Stare, die zum zweiten Mal in diesem Jahr in mindestens einem der Löcher in der Isolierverkleidung des Nachbarhauses brüten, drehen schon im Flug ab und schimpfen laut. Die Krähenfamilie erweitert ihren Ausflugsradius, aber immer wieder sitzen die Halbwüchsigen im Ahorn, gut zu sehen in den schütter belaubten Zweigen, und putzen sich, ruhen aus, rufen nach Futter.

Blattläuse haben sich über Nacht auf den Blättern der Kapuzinerkresse materialisiert, die sich den Topf mit der Paprika teilt. Die Paprika hütet sorgsam ihre erste kleine Frucht und öffnet ab und zu an sonnigen Tagen eine weitere Blüte. Das Höhenwachstum hat sie dafür aufgegeben. Zaghaft greifen die ersten Winden nach den Kletterstäben an der Balkonwand; im Schatten der Clematis, die so böse um die mitverkaufte Rankhilfe aus drei Bambusstäben gewickelt ist, dass sie auch nach Wochen keine Anzeichen macht, nach oben zu ranken, ist eine Bohne aufgegangen und streckt sich nach Licht.

Paradiesgefühle auf fünf Quadratmetern. Der beste Platz, um stillzusitzen, von den Nachwirkungen der zweiten Corona-Impfung auszuruhen, langsam und vorsichtig mit dem kranken Zahn weiche Nahrungsmittel zu kauen, am Morgen tief durchzuatmen, wenn der Tag wie eine Achterbahn vor mir liegt, von deren Anblick allein mir schon unwohl wird.
Wir nehmen, sage ich zum Zwölfjährigen, der das Wachstum der vor den Spatzen geretteten Erbsen in seinem Kasten kontrolliert, den Balkon einfach mit, wenn es mit dem Urlaubsverreisen klappt.

Klappt es nicht, dann habe ich fünf Quadratmeter Urlaub am Haus.

Botanopoesie

Acker-Kratzdistel und Hirschwurz

Flatter-Binse

Sumpf-Storchschnabel, Samt-Skabiose, Mausohr-Habichtskraut

Berg-Sandglöckchen

Hasen-Klee

Nelken-Haferschmiele und Silber-Fingerkraut

Sand-Segge

Kleine Wiesenraute

Pyrenäen-Storchschnabel, Kartoffel-Rose, Scharfer Mauerpfeffer, Purpur-Waldfetthenne

Dach-Pippau, Weidenröschen

Gewöhnliches Ferkelkraut, Krause Distel und

Echtes Tausendgüldenkraut


Botanische und linguistische Freuden in einem macht – unbezahlte Werbung, Vorsicht – die App Flora Incognita der TU Ilmenau. Pflanze fotografieren – Blüte, Blatt, Ähre – und schon werden Arten mit den wunderbarsten Namen vorgeschlagen. Das reinste Gedicht, so schön wie die blühenden Dünenlandschaften.

Das Balkongartentagebuch: Milder Winter, kühles Frühjahr

In diesem Jahr habe ich auf dem Balkon in den dort über den Winter verbliebenen Töpfen allerhand Pflanzen entdeckt, die überlebt oder die sich selbst ausgesät hatten. Die kahlen Stängel der kleinen Malven, die der Vierzehnjährige im letzten Jahr in seinem Kistenbeet hatte, begannen neu auszutreiben. Gleich daneben gab es jede Menge Kornblumenkeimlinge. Im Tomatenkübel standen ein paar winzige Pflänzchen Bienenweide, in den alten Töpfen mit Sonnenhut gab es viele neue kleine Pflanzen, und zwei der Ringelblumen vom letzten Jahr hatten noch Blätter und – tatsächlich – auch jeweils eine Knospe. Auch Pfefferminze, Salbei und Oregano wirkten äußerst lebendig. All das habe ich Anfang März in neu mit Humus gemischte Erde umgepflanzt. Besonders die Bienenweidepflanzen und die Ringelblumen vom letzten Jahr sind seitdem riesig geworden und beginnen zu blühen – jeden Tag warte ich darauf, dass die eine oder andere Biene vorbeikommt. Auch die Kornblumen sind ihren erst im Frühjahr ausgesäten Geschwistern weit voraus und haben schon  Knospen.

Dank eines Serientermins im Handykalender habe ich es im letzten Winter zum ersten Mal hingekriegt, einigermaßen regelmäßig auch die im Keller eingelagerten Pflanzen zu gießen. Die Walderdbeere hat deswegen überlebt, das Wandelröschen (das allerdings eine Sonderbehandlung verlangt und in Nächsten mit unter fünf Grad auch im Mai noch gern in der guten Stube schlafen möchte), auch die Zitronenmelisse und die Fuchsie, von der auch einer der im letzten Herbst beim Zurückschneiden angefallenen Stecklinge Wurzeln geschlagen und auf dem hellen Fensterbrett im Zimmer des Zehnjährigen im April die ersten Blüten bekommen hat.

Wie üblich habe ich viel zu früh mit dem Säen und Vorziehen begonnen und musste manches dann auch zu früh rauspflanzen – die Zinnien, die ich seit dem letzten Jahr zu meinen Lieblingsblumen zähle, sind immernoch mickrig und klein; der Basilikum nimmt irgendetwas übel und kümmert – ungefähr einen halben Zentimeter hoch – seit Wochen vor sich hin. Aber die Tomaten stehen schön gerade, die Petersilie wächst, eine – wenigstens eine! – der kleinblütigen Studentenblumen hat das Keimlingsstadium überlebt und die erste Sonnenblume hat eine kleine Knospe angesetzt. Was sich selbst in der Jahr um Jahr weiterverwendeten Erde aussät, ist immer eine schöne Überraschung: Die Brunnenkresse kommt nun schon seit vielen Jahren unverdrossen ohne mein Zutun wieder; Asia-Salat habe ich entdeckt, Rukola und Kornblumen sprießen in allerlei Töpfen – und die Blätter des Löwenzahns im Lilentopf ernte ich einfach zusammen mit den anderen Kräutern.

Und wir haben gekaufte Pflanzen: Hornveilchen wie jedes Jahr, die herrlich nach Honig riechen; Verbene, Mini-Petunie und Schneeflöckchen im Kastenbeet des Zehnjährigen; Nelke und Portulak-Röschen beim Vierzehnjährigen; zwei Extra-Töpfe Männertreu, weil das leuchtende Blau beiden Kindern so gut gefallen hat und eine herrliche Hängepetunie mit weiß-rosa Blüten, die ich unbedingt über den nächsten Winter bringen und vermehren möchte. Hach!

Die Spatzen übrigens haben seit dem letzten Jahr nicht vergessen, wie gut ihnen rote Melde schmeckt. Die zuerst ausgesäten Pflanzen sind ihnen komplett zum Opfer gefallen. Wir haben nachgesät und auf den Topf ein Gerüst aus diesen Plastikdingern gebaut, mit denen hängende Pflanzen im Blumenladen in ihrem Topf stabilisiert werden. Bisher haben die Spatzen es nicht umgeworfen – aber sie geben auch nicht auf. Immer flattert es, wenn ich die Balkontür aufmache; und bücke ich mich auf dem Balkon und richte mich danach auf, muss ziemlich oft ein Spatz zeternd abdrehen, der meinen Rücken nicht erst genommen hat und im nächsten Moment auf dem Balkongeländer gelandet wäre, um finstere Pläne zur Eroberung der roten Melden zu schmieden.

Weniger Müll machen

400 Millionen Tonnen Plastik wurden im Jahr 2015 produziert. Tendenz stark steigend, die Hälfte davon ist spätestens nach einem Jahr schon Müll. Hier kann man das nachlesen, die Zahlen sind aus dem letzten Jahr. Im Radio wird ein weiterer, extremer Anstieg der Müllmengen in den nächsten Jahren prognostiziert, und ja, einige Konzerne haben sich gerade verpflichtet, daran mitzuwirken, dass zukünftig mehr Verpackungen recycled werden. So ab 2030, ungefähr. Und die Ohrenstäbchen mit Plastik haben wir ja auch schon verboten.

Ich bin ein klitzekleines bisschen konzernskeptisch und ein Blick in meinen Mülleimer zeigt, dass Ohrenstäbchen eins meiner allerallerkleinsten Probleme sind. Seit einiger Zeit pappt deshalb ein gelber Zettel über dem Müllschrank, auf dem ich notiere, wie oft die große Papiertüte mit dem Plastikmüll voll wird. Da geht doch bestimmt was… Augen auf beim Einkaufen also.

Was auf Anhieb ziemlich gut funktioniert, sind Obst und Gemüse. Jeder Supermarkt in meinem Kiez bietet einen Teil davon lose an, und lose lege ich es in meinen Wagen und aufs Kassenband. Keine Beschwerden von den Kassieren, es brauchte nur mein eigenes Umdenken: Ich kaufe nur noch, was es ohne Verpackung gibt. Meistens mache ich eine oder zwei Ausnahmen, z.B. weil der Dreizehnjährige sooo gerne Blaubeeren isst oder keine Möhren ohne Verpackung da sind, ich aber dringend welche brauche.

Brot kaufen wir schon lange beim Bäcker – wir haben alle drei gern wirklich leckeres Brot – aber Toastbrot ist ein Problem, für das ich noch keine Lösung habe. Baguettescheiben zum Frühstück vor der Schule? Vielleicht probieren wir es aus.

Getränke sind schwierig, weil meine Kinder beide gern verdünnte Säfte trinken. Die Lieblingssorte des Neunjährigen steht zum ersten Mal als Kasten mit sechs Glasflaschen in der Küche, das aber auch nur, weil ich mir einen Einkauf habe liefern lassen. Tendenziell werde ich in der kalten Jahreszeit wohl öfter Tee kochen oder Ovomaltine zum Frühstück; mal sehen. Für Milch gilt allerdings das gleiche. Ständig haufenweise  Flaschen mit mir herumzutragen – volle aus dem Laden, leere zurück – ist vermutlich nicht machbar. Zur Reduzierung des Plastikmülls schaffe ich mir jetzt aber auch kein Auto an.

Was auch noch nicht klappt: Käse und Wurst. Ich bin probeweise auf abgepackte Waren von der Theke umgestiegen, weil die Plastikfolie und die Papiertüte, die man dann bekommt, schon weniger Müll sind als die Verpackungen aus dem Regal, aber ganz ohne Plastik kann die normale Supermarkttheke einfach nicht. Einige Berliner Filialen von Bio Company testen anscheinend jetzt den verpackungsfreien Verkauf über die Theke – mal sehen, ob ich dort in den nächsten Wochen mal mit meinen Vorratsdosen vorbeikomme. Beides ist natürlich teuer, ein ökologisch vertretbares Leben muss man sich erstmal leisten können, das ist traurig.

Und dann gibt es hier in Berlin natürlich noch Original Unverpackt. Auch dieser Laden liegt nicht gerade auf meinem Weg, aber ich nehme mir wenigstens vor, ab und zu dort vorbeizufahren. Einmal habe ich bereits Wasch- und Spülmittelflasche dabeigehabt und weiß jetzt, wie das mit dem Auffüllen funktioniert (1. Leere Flasche wiegen und Gewicht notieren; 2. Unbequem auf den Boden kauern und Waschmittel aus dem großen Kanister in die Flasche pumpen; 3. Bezahlen 4. Karmapunkt an die Weste heften). Auch Tee, Linsen, Haar- und Körperseife von dort gibt es bei mir schon; Experimente mit Müsli, Couscous, Polenta, Trockenfrüchten und Gewürzen stehen aus.

Mein Fazit nach vier Wochen: Der Plastikmüll in unserem Haushalt wird weniger, das ist gut zu sehen.

Vermutlich gilt dabei die alte 80/20-Regel: mit 20% Aufwand kann ich 80% des Plastikmülls vermeiden. Die restlichen 20%, für die ich dann 80% Aufwand bräuchte – und ein Weckglas, um den restlichen Müll des ganzen Jahres zu sammeln – schaffe ich nicht.
Dafür habe ich einen scharfen Blick auf den Papiermüll geworfen und rufe konsequent jeden an, der mir einen Katalog schickt. „Nehmen Sie mich doch bitte aus Ihrem Verteiler…“ –

Sommer im Mai

Die Sommertemperaturen lassen den Balkonfrühling im Zeitraffer ablaufen.

Die Sonnenblumen öffnen zerknitterte Blüten; Dahlie, Lilien und Cosmea setzen Knospen an; die Bienenweide entrollt ihre Knospenkugeln zu Blütenrispen und ich verliebe mich in ihre ersten, zartblauen Blüten mit den dekorativ herausragenden Staubblättern, an deren Ende winzige lilafarbene Pollenkügelchen sitzen.

Die Solitärbiene, die in diesem Jahr alleine für den Hinterhof mit Birke, Ahorn, Linde und sämtlichen Balkons zuständig zu sein scheint, ist schrecklich gestresst und mag nur kurz auf dem Schnittlauch und auf der mickrigen Sonnenblume Halt machen, bevor sie nervös weiterschwirrt. Dass sie überhaupt gekommen ist, ist so etwas wie ein Hoffnungsschimmer für mich (wenn allerdings die EU endlich Plastik-Ohrenstäbchen verbieten lässt, ist die Rettung der Welt schon beinahe gesichert… [Ironie aus]) – aber dann verirrt sich die unglückselige Biene durch die offene Balkontür in die Wohnung und muss vorsichtig aus dem Fenster im Zimmer des Dreizehnjährigen gejagt werden. Hah, ich habe eine gute Tat vollbracht, brüste ich mich vor den Kindern, aber die spielen und hören nicht zu.

Die Bienentränke auf dem Balkon – ein Untersetzer mit ein paar Steinen und frischem Wasser – haben unterdessen Hornissen und Spatzen für sich entdeckt. Ruhig und konzentriert kommen die Hornissen, selbst wenn ich auf der Holzbank sitze, landen auf dem Rand des Untersetzers und trinken durstig, bevor sie wieder aufbrechen, ohne mich eines Blickes zu würdigen. Die Spatzen dagegen wagen sich nur herbei, wenn ich im Haus bin, und sie tun gut daran, denn sie haben meine Sympathie verspielt: wie eine Horde hyperaktiver Kinder müssen sie pausenlos Unsinn machen, zupfen die Blätter der Melde ab, knipsen gedankenlos die Knospen vom Wandelröschen und die jungen Früchte von der Erdbeere, kacken auf die Sitzbank und schwirren ärgerlich zwitschernd davon, wenn sie eine Bewegung an der offenen Balkontür wahrnehmen.

Das Krähenkind unterdessen hüpft im lichten Ahorn von Ast zu Ast, schwankt noch etwas auf seinen langen Beinen, mit denen es ein wenig an den halbflüggen Dreizehnjährigen erinnert, streckt probehalber die Flügel aus und erhebt ein großes hungriges Geschrei, wenn seine Mutter mit Würmern im Schnabel geflogen kommt.

Wie die Krähenmutter bin auch ich am Wochenende mit dem Heranschaffen von Nahrung für mein großes Küken beschäftigt. Von der Nudelsauce, vom Bohnensalat, vom Geschnetzelten, vom Gemüse und vom Reis koche ich ein wenig mehr und stelle gut gefüllte Vorratsdosen in den Kühlschrank, damit das große Kind auch ohne Schulessen satt wird.

Zwischendurch muss der Verband an der gebrochenen Zehe des Dreizehnjährigen erneuert werden, die nun vielleicht für immer ein bisschen krummer und – wegen der Bruchstelle an der Wachstumsfuge – ein wenig kleiner als die anderen bleiben wird, aber wenigstens nicht mehr wehtut. Der Neunjährige unterdessen ist in der Schule auf ein spitzes Stück Baumwurzel gefallen und hat eine Naht und mehrere Klammerpflaster am Schienbein, von dem der Verband immer mal wieder abrutscht, so dass ich die Tüte mit Wundauflagen, Mullbinden, selbstklebenden Fixierbinden und Pflastern immer in Griffweite stehenlasse.

Als Ausgleich dafür, dass wir nicht Schwimmen gehen können, stehen Termine beim Durchgangsarzt und Kinderchirurgen auf dem Wochenplan, gefällig eingestreut zwischen den Klassenarbeiten, für die der Dreizehnjährige auf die Schnelle versucht, alle nicht gelernten englischen und französischen Vokabeln doch noch in seinem Kopf unterzubringen. Mama, hörst du mich mal ab?

Mit der Kaffeetasse in der Hand trete ich zwischendurch immer wieder für ein paar Minuten auf meinen Balkon. Die Solitärbiene hat sich zehn Minuten Zeit für meine Tomaten im Kalender notiert und ich danke ihr höflich. Ich zähle die Knospen des Wandelröschens nach, das inzwischen in einem Spatzenschutzkäfig aus Bambusstäben und Wollfäden steht; ich nicke den Schwebfliegen zu und erkläre der Winde mit einem dicken Wollfaden und einem Haarklämmerchen den Weg zum Eckpfosten.

Die Sonne macht urlaubssehnsüchtig. Wie viele Wochen noch? Sechs, acht?

Dazwischen

Mittwochabend vor dem langen Wochenende. Die Koffer sind gepackt; Lebensmittel für drei Tage eingekauft. Ein Schokoladenkuchen kühlt in der Küche aus; die Kinder schlafen; ich weiß, in welchem Zug der liebste Freund zu uns stoßen wird – ein Haus ist gebucht und erwartet uns. Morgen.

Der Abend schenkt mir noch ein paar stille Balkonminuten. Obwohl der Regen aufgehört hat,  klatscht gelegentlich ein schwerer Tropfen von der Ablaufrinne des Balkons über mir – vielleicht kaputt, vielleicht verstopft – in meine Balkon-Wasserablaufrinne. Die erste Fledermaus macht sich auf die Jagd; ein Stern blinzelt mir durch eine Wolkenlücke zu und an der Hauswand zeichnet sich allmählich der Schatten des Balkongeländers ab, weil die vollmondrunde Lampe im Nachbarhof mit zunehmender Dämmerung zur hellsten Lichtquelle wird. Im Haus gegenüber schneidet ein Mann im roten T-Shirt in seiner Küche Brot.

Die zurückliegenden Tage dürfen langsam in den Hintergrund treten. Es waren gute Tage:

Ich weiß nun, wann Cosmo auf Italienisch sendet und wo ich die Sendungen nachhören kann. Ich habe – als mein Online-Französischkurs eine technische Störung hatte – den herrlichen Podcast „One Thing in a French Day“ entdeckt und freue mich bei beiden wie die reinste Schneekönigin, wenn ich hier und da ein Wort verstehe.

Ich habe meinen (hübsch frisch gewaschenen) Fuß und meinen ganzen klapprigen Knochenapparat einer Osteopathin hingehalten, die es geschafft hat, dass ich mich während ihrer Behandlung wunderbar entspannen konnte, obwohl sie ihre Hände beim Aufspüren von Blockaden und Verspannungen eigentlich überall hatte. In Bewegung kommen müsse ich (ach… weiß ich ja schon – wenn die gute Absicht bloß zählen würde…) und solle einmal am Tag die Beine senkrecht an der Wand nach oben strecken. (Wahrscheinlich hört es sich dabei sehr gut Podcasts.)

Die Frau, der ich übers Nachbarschaftsnetzwerk im Winter Blumensamen im Austausch gegen ein paar ungenutzte Bretter (die mal ein neues Bad-Regal für mich werden könnten) gegeben habe, hat mir Fotos von all dem geschickt, was jetzt in ihren Balkonkästen wächst. Eine kleine freundliche Geste, die meinen Tag schön gemacht hat. Ich bin auch nur ein ganz klein wenig in Sorge, weil sie geschrieben hat, dass sie die Blätter der Bienenweide gegessen hat („…weil die Pflanze so groß wurde“).

Der kleine Abendblues, der sich auf dem Balkon neben mir auf der Bank niedergelassen hat, hört sich all diese Dinge an und rutscht zur Seite, damit sich eine ziemlich füllige Dankbarkeit zwischen uns niederlassen kann. Es geht uns gut, hey!

Euch allen ein schönes, entspanntes Himmelfahrtswochenende!
Es werden noch Wetten angenommen, wie viele geschmückte Handwagen mit Bierkästen morgen mit uns im Bähnchen hinaus ins grüne Land reisen werden.

Sommerwarmer Freitag

Im Handumdrehen sind wieder fast zwei Wochen verstrichen. Mein scheußliches Voltarensalben-Unverträglichkeitsexzem am Knöchel ist beinahe verheilt, und ich kann endlich die schicke Aktiv-Bandage tragen, die ich dann doch irgendwann in einem Sanitätshaus erstehen konnte.

Am Morgen ist alles prima; am sommerlich warmen Nachmittag, wenn die S-Bahn voller unmutiger Feierabendberliner ist, ist mein Fuß auf einmal zwei Nummern zu groß für die sportlich-blaue Knöchelstütze; sie drückt vorn und hinten, deshalb bleibe ich unglücklich auf meinem schwer erkämpften Platz sitzen, als sich ein Mann mit freiem Oberkörper neben mir niederlässt; ich würde ihn seeeehr gern mit Blicken anziehen – oder aus der S-Bahn werfen zum Aussteigen bewegen – weil ich bittedanke selbst entscheiden möchte, wer halbnackt und verschwitzt neben mir sitzen darf.

Unter solchen Umständen ist das Nachhausekommen besonders schön. Ich ziehe die fußgerechten Wanderschuhe aus, die Socken und die nicht mehr ganz taufrische Bandage; dann stelle ich vorsichtig die Paprikapflanze auf den Balkon, die mir noch gefehlt hat, und die Walderdbeere, das Wandelröschen und die Studentenblume, die ich aus Versehen im Oh-lauter-wunderschöne-Pflanzen-Glücksrausch auch noch gekauft habe. Hach, wie schön!

Als alle Neuankömmlinge ein Plätzchen mit ausreichend Erde gefunden und Wasser bekommen haben, sitze ich mit einem Buch auf der Balkonbank und blinzele in die Sonne, die zwischen dem Schornstein des Nachbarhauses und dem Stamm der grünbeschleierten Birke ein paar letzte Strahlen in den Hinterhof schickt. Im rechten Nachbarhof schwatzen zwei Mütter am Sandkastenrand, während ihre Kinder auf dem Rasen Fange spielen; im linken Nachbarhof isst eine Familie zu Abend; oben im Baum wippt die Taube auf einem Ast und lässt es darauf ankommen, von der brütenden Rabenmutter erspät und verjagt zu werden. Gegenüber auf dem Flachdach, wo die Sonne noch richtig hinscheint, laufen ein paar Männer mit hippylike buschigen Haaren und buschigen Bärten hin und her, Becher und Handys in den Händen – unser Kiez verjüngt sich, denke ich, sowas gab es hier noch nie – und schaue ihnen interessiert beim Sonnenuntergangfotografieren zu.

Später, drinnen, ist es ein bisschen einsam. Auf meinem Laptop liegen die Präsentationen, die der Dreizehnjährige zu den Schulvorträgen gemacht hat, die er gestern und heute halten musste und die ich mir in den letzen Tagen immer wieder geduldig angehört habe; im Zimmer des Neunjährigen guckt mich der Kuschelhase traurig an, auf dem Boden liegt der Schlafanzug und aufgeschlagen im Bett das Michel-Buch von Astrid Lindgren, aus dem wir vorgelesen haben; in der Küche erinnert mich das Ligretto-Spiel daran, dass der liebste Freund, der Dreizehnjährige und ich gestern um diese Zeit kartenspielend am Tisch saßen.
Jetzt sind alle fort, und ich habe keine Lust, irgendetwas von all dem anzufangen, was ich machen wollte, wenn ich allein bin.

Es ist okay, sage ich mir, erschöpft zu sein und garnichts zu wollen.
Und vielleicht, tröste ich mich, gibt es nachher ein paar Sterne.

(Meine neue App kennt sie alle – auch den „kleinen Hund“, der abends über meinem Balkon wacht, und den „großen Löwen“, den wir über dem Waldhäuschen, zwischen den hohen Bergen, strahlen sahen – zwei Sternbilder, die ich noch nie gesehen hatte, und die zu meinen großen Frühlingsfreuden gehören…)

Frühlingsvermischtes

In den Osterferien hüpfen wir aus unserem Alltag und landen – zusammen mit der ganz großen Schwester und ihrer schönen Tochter und dem Freund der schönen Tochter – in der kleinen Waldhütte, die ganz versteckt an einem Berghang im Thüringer Schiefergebirge liegt, kaum zu sehen hinter einer dichten Fichtenhecke, über die aber trotzdem von morgens bis zum frühen Nachmittag die Sonne blinzelt. Wir füttern den Holzofen mit dicken Scheiten, bis die vom Winter auf 2 Grad ausgekühlte Hütte mollig warm wird; wir liegen in dicken Jacken in den Liegestühlen; wir schleppen Wasser in großen Eimern in die kleine Küche und kochen es zum Trinken ab; wir frühstücken morgens gemütlich, gehen im Nachmittagssonnenschein spazieren; der Dreizehnjährige steigt in Gummistiefeln in den Bach, der durchs Tal murmelt, und baut Dämme aus Schieferbrocken – der Neunjährige gibt ihm vom Ufer aus Anweisungen – und abends spielen wir lange gemeinsam Karten am großen Tisch.

Als wir zurückkommen, riechen wir von Kopf bis Fuß nach Holzfeuer und Waldhütte; alle Kleidungsstücke türmen sich im Flur und wollen gewaschen werden, und weil ich einmal dabei bin, bekommt auch die Allergiebettwäsche des Neunjährigen aus dem heimischen Bett ihren jährlichen Waschgang, werden die Matratzen mit Neemöl besprüht; und weil ich einmal dabei bin, bekommt der Wollteppich im Zimmer des Dreizehnjährigen seine vorbeugende Mottenkur und werden die Korkstückchen in den Kleiderschränken mit Arven-Öl betupft; die Fliesen im Bad rufen: „putz uns, putz uns, wir sind ganz verschmiert und bespritzt“; vom Bücherregal segeln Staubflusen auf meinen Kopf – es ist, kurz gesagt, noch so viel Frühjahrsputz fällig, dass er meine ganze Urlaubskraft verschlingt und ich am Montagmorgen bei schönstem Sonnenschein ohne jede Motivation zur Bahn in Richtung Büro schlurfe und dabei vor mich hinmurmele, was für eine gute Sache doch der „Haushaltstag“ gewesen ist, den es in der DDR für Arbeitnehmerinnen gelegentlich gab.

Mein schmerzender Fuß hat kleine Waldspaziergänge, in guten festen Schuhen und auf weich federndem Boden, ohne größere Beschwerden mitgemacht; aber Frühjahrsputz und Großstadtpflaster behagen ihm nicht, jetzt muss also doch ein Arzt einen Blick darauf werfen. Ich bekomme eine Salbe aufgestrichen und einen unangenehm scheuernden Verband; Tabletten, die die Entzündung aus dem Gelenk ziehen sollen und die Anweisung, mir im Sanitätshaus eine über dem Verband zu tragende Bandage aushändigen zu lassen. Nicht weit vom Orthopäden entfernt gibt es ein entsprechendes Geschäft; aber streng weist die Sanitätshausfrau mir die Tür, man trüge Bandagen grundsätzlich nie über Verbänden und nein, ich dürfe den Verband jetzt auch nicht in ihrem sauberen Reformhaus entfernen oder gar um Wasser zum Abwaschen der Salbe bitten, wie unhygienisch, auf gar keinen Fall, da hilft kein Flehen (…aber ich komme nie wieder in diese Gegend, ich wohne hier doch garnicht!). Am nächsten Morgen gehe ich, ohne Verband und voller Hoffnung, zum Orthopädieschuhmacher in meinem Kiez, der allerhand Bandagen in seinem Fenster ausgestellt hat – die fragliche verschriebene aber frühestens in zwei Wochen geliefert bekommen wird, wenn er sie jetzt bestellt. Geknickt humpele ich nach Hause, schalte meinen Homeoffice-Rechner ein, mache mir einen Schwedenkräuterumschlag auf den Fuß. Ich telefoniere mit der Service-Hotline einer größeren Sanitätshauskette und lasse mir bestätigen, dass es die im Internet verzeichnete Filiale – nur eine S-Bahn-Station entfernt – noch gibt; leider geht dort niemand ans Telefon, wahrscheinlich sind die Mitarbeiter alle beschäftigt. Also humpele ich am Nachmittag zur Bahn, fahre hin – und finde an der Tür einen handgeschriebenen Zettel vor, der erklärt, dass man aus betrieblichen Gründen am 11. und 12. April geschlossen habe. Jetzt weiß ich auch nicht mehr weiter.

Aber die Sonne wärmt, auf dem Balkon keimen die ersten Bienenblumen und schütteln Treibhauskräuter sich in der ungewohnt frischen Luft; die Tomatenpflänzchen strecken sich und wollen des Nachts noch ins Warme; eine prächtige Petunie voller lilafarbener Blüten mit dekorativen weißen Rändern, die der Dreizehnjährige in sein Kastenbeet gepflanzt hat, lässt sich von allen Seiten bewundern, nur die Sonnenblumenpflänzchen stimmen nicht in den Chor ein, sondern sammeln Kräfte, um bis zum Himmel zu wachsen.

Allen traurigen Radionachrichten zum Trotz: es ist Frühling!

 

 

Das Balkongartentagebuch: Ein paar Minuten

Weil ich krank bin und trotzdem ins Büro muss, erlaube ich es mir zu Hause, nicht in jeder Minute an Aufgaben und Pflichten zu denken. Ich lasse den Achtjährigen und den Zwölfjährigen allein zur Schule gehen und alleine nach Hause kommen – eigentlich geht das schon gut, auch wenn es noch keine Routine ist – und habe am Morgen ein paar Minuten zum Trödeln, wenn die Tür hinter ihnen zuklappt.
Und als gegen Abend meine Hustenanfälle vorbei sind und ich mich ausgeruht habe und der Achtjährige noch bei einem Freund spielt und der Zwölfjährige seine Schulaufgaben macht, räume ich nicht auf und fülle ich keine Waschmaschine, sondern setze mich auf die schon schattige Türschwelle zum Balkon.

Heute ist die erste Kornblumenblüte aufgeblüht. Blau, blau, wunderschönblau! Überall in der wiederverwendeten Erde hatten sich die Samen der Kornblumen vom letzten Jahr verteilt, in allen Kisten und Töpfen sind sie aufgegangen, haben sich zwischen den Pelargonien ans Licht geschoben, leisten der einsamen Goldwicke Gesellschaft, die im Kistenbeet des Zwölfjährigen als einzige von einer ganzen ausgesäten Reihe gewachsen ist, stehen im anderen Kistenbeet plötzlich zwischen den Baby-Lilien, deren winzige Zwiebelchen der Achtjährige gerettet und sorgfältig eingepflanzt hat. Sogar die kapriziöse Paprika hat in ihrem Topf an besonders sonniger Stelle eine bald blaublütige Gefährtin!

Die Rechtsaußen-Erbse im Kistenbeet des Achtjährigen hält sich mit einer grazilen Hand an der für sie vorgesehenen Stange, mit der anderen am Stil eines Kapuzinerkresseblattes aus dem Nachbartopf fest, der eigentlich einer Sonnenblume gehört. Den dicken Sonnenblumenstängel wiederum haben die Winden aus dem halbrunden Topf an der Balkontrennwand für sich entdeckt, die es am Wandspalier immer etwas zu dunkel und etwas zu langweilig finden.

Der Schnittlauchtopf vor mir sieht nicht mehr wirklich hübsch aus – schlecht frisiert und zerrauft ist er, die ersten Stängel werden ihm schon gelb. Aber auf einer Schnittlauchblüte schaukelt die für unseren Balkon zuständige Biene. Ganz ruhig sitzt sie, ganz ruhig sitze ich und schaue ihr zu. Sie ist klein und braun, mit etwas goldenem Pelz auf dem Kopf und etwas orangefarbigem Pelz am Hinterteil, und sie beschäftigt sich geduldig mit einer lila Blütenkugel nach der anderen. Nach einer Weile kommt sogar noch eine zweite Biene, und als beide fortgeflogen sind, sehe ich auf der Kornblume eine dritte. Das macht mich froh. Könnte ich bienisch, dann würde ich „Tränke“ auf ein Pappschild schreiben und es über den Topfuntersetzer mit dem Wasser und den Steinen drin hängen, den ich auf unseren Balkontisch gestellt habe. Und ich würde dazuschreiben: „Willkommen, ihr Bienen! Kommt wieder!“

An der Tür klingelt der Achtjährige, müde vom langen Nachmittag; der Zwölfjährige hat seine Aufgaben erledigt; gleich ist es an der Zeit, den Tisch zu decken, nach dem Tag zu fragen, ans Keyboardüben zu erinnern und Hilfe beim Tischabräumen einzufordern, Geschirr zu spülen, Abendlieder zu singen und die dünnen Sommerdecken zureckzuzuppeln. Abendroutinen.

Aber ein paar Minuten bleibe ich jetzt noch hier sitzen.