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Junileben

Die Linden duften. Touristen schwärmen aus. Eltern sitzen mit bekleckerten Kleinkindern vor den Eisdielen. Auf dem Gehsteig vor „Moneygram“ am Kottbusser Tor liegen händeweise rote Papierherzchen. Junge schöne Menschen chillen bei Lounge-Musik in coolen Cafés.

Das ist der erste Tag seit mehr als drei Wochen, an dem ich ohne Kinder in Berlin unterwegs bin, ganz allein. Ich bringe ein Päckchen zur Post; ich gebe zwei Karten für ein Konzert, das ich nicht besuchen werde, in Kommission. Ich erzähle mir selbst das Ende einer Geschichte.

Oranienstraße. Linke Kleiderlabels haben schöne Sachen rausgehängt. Aus der Auslage vom  Obsthändler duften die Erdbeeren meterweit. Beim Blumenladen am Schlesischen Tor kann man Kornblumen und ganz kleine Weinstöcke kaufen; Landleben für den Balkon, Sehnsucht im Topf. Aber ich bin heute im Kaufnichtsrausch, ich laufe durch SO36 und bin glücklich, weil die Linden blühen.

Die Orte, denen wir uns schenken, schreibt Rebecca Solnit in ihrem Buch „Wanderlust“, schenken sich uns zurück; mit der Fülle der Assoziationen und Erinnerungen, mit denen wir an ihnen verweilt haben. So ein Geschenk ist dieser Nachmittag.

Ans gefrorene Meer

Der Tag beginnt großartig – ich kann mir die Haare wieder kämmen. Der Arm wird besser. Über Berlin zieht der heißeste Tag von allen herauf, und bevor er die Stadt in einen unerträglichen Glutofen verwandelt, mache ich mich auf den Weg zur Oberbaumbrücke, auf der die 12. Open Air Gallery stattfindet.

Die Straße ist gesperrt, auf beiden Seiten hämmern Künstler – etablierte Künstler und Hobbymaler, solche mit viel Straßenkunstmarkterfahrung und solche, die das hier gerade zum ersten Mal machen – die letzten Nägel in die Balken der kleinen Marktstände, in denen sie heute ihre Kunst präsentieren können. Bilder werden aus Autos und von Trolleys geladen, aufgehängt, geradegerückt, vorne angelehnt, gefällig angekippt auf Tischen drapiert.

Hier herumzuschlendern und Bilder anzuschauen macht Spaß.

Aber besonders spannend ist, dass ich den liebsten Freund, der heute hier ausstellt, für ein paar Minuten in seinem Marktstand vertreten darf. Auf einmal kann ich – nach dem Affen-im-Zoo-Prinzip – den Kunstguckern beim Kunstgucken zusehen. Wie sie von mir auf die Bilder schauen – und zurück. Die Münder verziehen. Erst garnicht näher rankommen, weil sie meinen neugierigen Blick bemerken. Nur die alte Dame mit dem weißen Spitzenschirm grüßt mich freundlich. Die anderen drücken sich stumm am Stand vorbei.

Was sehen sie alle? Sehen sie mich anders, wenn ich neben den Bildern vom liebsten Freund stehe? Sehen sie die Bilder anders, wenn ich neben ihnen stehe und nicht er? Wieviel hat Kunstrezeption mit der Person des Künslers zu tun? Was würden die Bilder da gegenüber mir sagen, der rötlich gerakelte Wald z.B., wenn nicht ein älterer Herr (der im Ruhestand, sofort habe ich diese Geschichte im Kopf, sein Hobby nun endlich auslebt) davorstehen würde, sondern ein junges Mädchen im kurzen Kleid? Würden die Afrikacollagen mit Gesichtern und Elefanten mir besser gefallen, wenn das Pärchen davor in mir nicht die Vorstellung von zwei begeisterten Safari-Touristen wecken würde? Würde ich erraten, dass das Monster mit den vielen, vielen geleerten Trinkbechern und die Zeichnung vom Himmel, der voller Pizzen hängt, von einer jungen Frau gemalt wurden – oder nicht?

Denke weiter, denke über mein Kunstverständnis nach. Viele Bilder hier sind schön. Und schön mag ich. Aber wenn das Schöne sich im Dekorativen erschöpft – acht Bilder in beige mit roten Gnuppeln und einem oder zwei elegant gewundenen Blumenstängeln sehe ich an einem Stand, und da wird sogar was verkauft – dann reicht das nicht. Arztpraxis-Vorzimmerkunst. Was ist es, das Kunst „groß“ macht und (aber das muss nicht dasselbe sein) mich berührt? Wenn in den Bildern beim Malen oder Zeichnen ein Stückchen Seele hängengeblieben ist?

Mein Kunstverständnis stammt aus der Literatur, merke ich beim Nachdenken. Große Fragen, sagt Scarlett Thomas, sollen Romane und Erzählungen stellen (und nicht etwa beantworten). Und mein alter, bärtiger Literaturprofessor – der unseren mit Sachwissen vollgestopften Studentenköpfen die Liebe zur Literatur nahebringen wollte, in seinem letzten Hochschul-Semester – zitierte immer wieder Kafka: Die Axt an das gefrorene Meer in uns – das sei Literatur.

Bilder können das auch, finde ich. Beides. Und trotzdem sind sie anders als Bücher:

Sie können mir erzählen, wie der Künstler die Welt sieht. Den rötlichen Wald. Das innere seiner Seele. Einen Blumenstängel. Die Farben Schwarz und Rot. Ich-zeig-dir-was-was-du-nicht-siehst – es ist der ganz eigene, andere, besondere Blick des Künstlers – auf die Welt, in sich hinein, irgendwohin – der Bilder zu Kunst macht. Oder?

Der große Sommer

Sechsunddreißig Grad im Schatten. Saharaklima in Berlin.

Morgens als erstes Blumengießen. Die Paprikas gedeihen prächtig. Sollte ich es nächstes Jahr mit Pfirsichen probieren? Oliven? Kiwis? Die Busse im morgendlichen Schienenersatzverkehr sind auf „eisige Januarnacht“ klimatisiert. Ich kann es in meinen halbgefrorenen Knochen förmlich spüren, wie sich die Klimaerwärmung noch ein bisschen beschleunigt. Im Büro Hitze und Lethargie. Der altersschwache Ventilator schwankt mit bedenklichem Ächzen von rechts nach links und wieder zurück und versetzt die Blätter auf unseren Schreibtischen in matte Bewegung.

Auf dem Heimweg denke ich an meine Söhne, die mit ihrem Vater verreist sind. Ich hoffe, dass sie es schön haben. Ich hoffe, dass sie einen Bogen um Brücken, Bäche, Flüsse, steile Berge, Abhänge, gefährliche Straßen, Zecken, wilde Tiere, Wespen, verderbliche Lebensmittel, Sonneneinstrahlung und tiefes Wasser machen und… äh… natürlich jede Menge Spaß haben.

Für die Tage, in denen sie nicht da sind, habe ich die allerallerbesten Vorsätze: Was will ich nicht alles aufräumen, putzen, ausmisten, sortieren und in Ordnung bringen! Ganz oben auf der Liste stehen die Schulsachen für den Achtjährigen. Mit der Materialliste für die dritte Klasse in der Hand und einem entschlossenen Seufzen nähere ich mich der riesigen blauen IKEA-Tüte voller loser Blätter, zerfetzter Ordner, alter Schulbücher, neuer Schulbücher, zu klein gewordener Sportsachen, eingematzter Malkästen und halbzerdrückter Bastelarbeiten, die der Vater meiner Kinder mir noch hingestellt hat. (Das willst Du doch sowieso gerne unter Kontrolle haben!? Sprachs und verreiste.)

Just in diesem Moment klingelt das Telefon. Zwei Nachbarinnen. Wir fahren jetzt zum Badeschiff! Kommst Du mit?

Gute Vorsätze werden eindeutig überbewertet.

Eine halbe Stunde später mache ich vorsichtige – um niemandem meinen Fuß ins Gesicht zu schlagen und niemandem mit meinen Fingern ein Auge auszustechen und um nicht vom Kopf eines aus der Tiefe auftauchenden Schwimmers in den Bauch gerammt zu werden – Schwimmzüge durch blitzblaues, chlorduftendes Wasser. Was für eine geniale Idee, ein Schwimmbecken in die Spree zu hängen, genau hier! Links die Skyline mit dem Fernsehturm, der Warschauer Brücke und den unvermeidlichen Baukränen. Rechts die Molecule Men, auch im Abendlicht unverändert in ihrer unlösbaren Dreierkonstellation verrannt. Gegenüber die blitzenden Bauten des Mediaspree-Geländes. Um uns herum hockt Generation Easyjet cool am Beckenrand und ergänzt die abendliche Berlin-Stimmung um polyglottes Stimmengemurmel. Die Liegestühle auf den hölzernen Platformen über dem Wasser und im Sand am Ufer sind voll besetzt, die Bar macht Umsätze, Konzertbesucher versammeln sich. Die letzten Sonnenstrahlen lassen das Wasser glitzen.

Und mittendrin wir: Drei ausgelassene Mütter auf Freigang.

Sommer in Berlin ist wunderbar.

Pfingstwochenende

Unsere Pfingsttage sind in diesem Jahr ein bisschen in die Hose gegangen.

Irgendwie klar, dass Pfingsten immer der Karneval der Kulturen durch Berlin tobt – aber vom „Karneval der Subkulturen“ hatte ich wirklich noch nichts gehört. Bis am Samstag unser Bus kurzfristig nicht mehr nach Kreuzberg kam, wo ich aber doch gerade mit meinen Kindern und Feiertagsbesuch hinwollte, um endlich mal im türkischen Supermarkt einzukaufen. Ein schönes Regen-und-Kälte-Programm (dachte ich) – besonders weil ich den Kindern jetzt schon eine ganze Weile von den Köstlichkeiten vorschwärme, die man da kriegen kann: Von Fladenbrot und Sucuk und Köfte und leckeren Pasten… War dann leider nix, stattdessen landeten wir im Rieseneinkaufsmarkt; so einem, in dem man stundenlang mittelschwer desorientiert herumirrt, um Brötchen und Milch und die Rolltreppe zurück ans Tageslicht zu finden. Stattdessen findet man alles mögliche, was nicht auf der Einkaufsliste stand. Popcorn zum Beispiel, das hatten wir noch nie zu Hause gemacht. Klang ganz einfach und ist mir dann am Abend auch wirklich gut gelungen… jedenfalls bis ich statt Vanillezucker aus Versehen ein Tütchen Backpulver zum Würzen darüberstreute.

Sonntag wollten wir dann nochmal in den Park am Gleisdreieck, den wir vor einiger Zeit entdeckt haben, mit seinen hoch aufgehängten Schaukeln und schönen glattgemähten Liegewiesen und den zwei Kletterspielplätzen. Weiß auch nicht, was die ganzen anderen Leute ausgerechnet am Pfingstsonntag da wollten. Sollten die nicht alle beim großen Karnevalsumzug sein, den man irgendwo in der Nähe vorbeiziehen hörte? Schattenplätze auf der Wiese gab es jedenfalls nur noch in der Elf-Meter-Schusslinie der Kids, die auf dem Rasen kickten. Eine freie Tischtennisplatte, eine Schaukel? Aussichtslos.

Schön wurde es erst, als wir dann alle Pläne aufgegeben hatten. Als die Kinder eine Stunde lang in der Wanne plantschten, um den barfuß-im-Park-Dreck abzuspülen. Als wir hinterher – gemütlich zusammengekuschelt im Sessel – im Internet Filme vom Karneval 2012 angesehen haben. Als wir am Pfingstmontagmorgen dann einen ganzen Spielplatz für uns alleine hatten, mit Tischtennisplatte und Sandkastenkran. Und mit zwei jungen Eichhörnchen auf Nahrungssuche im Feiertagsmüll.

Winternachschlag

Der Winter ist zurück in Berlin, leider reicht der Schnee nicht zum Schlittenfahren. Dafür erwischt uns eine ordentliche Erkältung – und ich kann mich noch nicht mal beklagen, es ist erst die zweite in diesem Winter. Aber sie raubt mir die ganze Woche über die Kraft – die ich bräuchte, um geduldig mit den Kindern zu bleiben, die selber schon ein bisschen angeschlagen und entsprechend unleidlich sind; die ich auf Arbeit bräuchte und im Tanzverein und beim Kinderarzttermin und beim Schulausflug des Siebenjährigen in den Friedrichstadtpalast, zu dem ich mitgehe. Zu Hause bleibt alles liegen, ich schaffe es geradeso, den Tannenbaum aus dem Fenster zu werfen, wahrscheinlich genau einen Tag nach dem zweiten und letzten Abholtermin der Stadtreinigung.

Am Ende der Woche sind dann auch die Kinder krank, und ich liefere sie bei ihrem – ebenfalls kranken – Vater zusammen mit einem Päckchen Medikamente ab, Fiebermittel für den Papa und Inhalierlösung für die Kinder.

Ich selber erlaube mir – ausnahmsweise – eins dieser Multiwirkstoff-Grippemittel, mit denen man die Erkältung ein paar Stunden verschieben kann, ziehe so viele Pullover wie möglich unter meine Jacke und gehe raus. Heute nur minus vier Grad, aber weil in Berlin der Ostwind weht, fühlt sich das viel kälter an. Tief am Himmel ist die Sonne hinter der wattigen Wolkenschicht zu ahnen. Unter der Oberbaumbrücke treiben große Eisschollen. Ein tapferes Grüppchen Blesshühner und ein paar schwarz-weiße Enten paddeln im offenen Wasser. Die Mediaspree-Uferbebauung ist inzwischen soweit fertig, dass man den Weg von der Oberbaumbrücke bis zum Treptower Park fast komplett am Wasser zurücklegen kann. Die glänzenden neuen Gebäude sind noch fremd in der Stadt, hier lebt niemand, nur ein paar Touristen schlendern herum, machen Fotos. Die Sauna am Badeschiff gegenüber, die mich immer an einen meiner Lieblingsfilme – Tom Tykwers wunderbares Märchen „Drei“ – erinnert, weil einige Szenen des Films dort spielen, hat ihre Zelte in diesem Winter nicht aufgebaut. Hinter den Molecule Men steht die matte Wintersonne, das ist auch bei minus vier Grad schön. Zwischen den Stern-und-Kreis-Ausflugsbooten im Hafen am Treptower Park ist die Eisdecke schon fast geschlossen. Ob die Hausboote dahinter auch im Winter bewohnt sind? Möwen kreisen. In der Ferne die Silhouette des alten Riesenrads im Plänterwald. Die Rauchsäulen aus dem Heizkraftwerk gegenüber steigen weit in den Himmel, ohne sich zu zerstreuen.

Zurück nach Hause. Heißes Dampfbad. Tee. Auf dem AB die ersten Zusagen für die Kindergeburtstagsparty am nächsten Wochenende. Ärmel hochkrempeln. Aufräumen. An den Frühling denken.

Bei der Mondprinzessin

Ohne meine Kinder ist es ganz schön einsam zu Hause. Ich arbeite und komme heim und wundere mich, wieso Müll und Wäsche und Staub sich hier fröhlich weiter vermehren, als ob ich nicht fast eine ganze Woche alleine wäre (habe den Verdacht, dass es bei der Wäsche mit unserer Reise über den Jahreswechsel zu tun haben könnte, aber warum der Müll?); ich gucke in den Briefkasten, Post von meiner Bank und Möbelwerbung und ein Spendenaufruf und Post vom Vermieter (womit habe ich diese Kombination jetzt wieder verdient?); ich schreibe eine lange Liste mit Dingen, die ich tun will, und ich tue sogar einiges von dem, was darauf steht…

Und ich gehe mit dem Inselmann aus.

Einer meiner liebsten Lieblingsorte in Kreuzberg ist das Chandra Kumari. Mondprinzessin heißt das. Und es ist das allernetteste indische Restaurant, das ich kenne, weit weg von der Standarddekoration mit leuchtendroten betroddelten Stoffschirmen und von der Standard-Rahmkäse-in-Spinat-Speisekarte. Stattdessen so abenteuerliche Sachen wie Jackfrucht-Curry und so biologische Sachen wie Rote-Beete-Curry und alles so lecker, dass ich mich jedesmal nicht entscheiden kann, ob ich etwas Bekanntes wieder essen oder etwas Neues ausprobieren möchte.

Und es ist ein Ort voller Geschichten. Ich habe hier schon mit meinen Schwestern gesessen, vor langer Zeit, wir haben einen ganzen Abend geredet, in meiner Erinnerung über Dinge, die wir einander noch nie anvertraut hatten. Mit meinen Kolleginnen, eine große Frauenrunde, Lachen und Scherze. Geschichten über die Kinder zu Hause und die Chefs im Büro. Mit einem Tanzpartner, dem ersten, mit dem ich mich in eine Tanzschule wagte, er war frisch getrennt damals wie ich, die Kinder bei der Mutter, ein trauriger Wochenendpapa. Die von ihm verursachte Discofox-Allergie habe ich bis heute nicht überwunden. Mit einem Bekannten, der mir über einem Karäffchen Wein eine mathematische Formel zu erläutern versuchte, mit der man den Verlotterungsgrad eines Menschen bestimmen könne. Meinte jedenfalls er. Mit guten Freundinnen. Geburtstags- oder Weihnachtsgeschenke werden getauscht, Seufzer, fröhliche Geschichten. Traurige Geschichten, die sich beim Erzählen in etwas verwandeln, zu dem wir lachend Distanz gewinnen.

Der Yogi-Tee in den Metallbechern ist heiß, große schalenförmige Reispfannkuchen werden serviert. Am Nebentisch berichtet eine Kreuzbergerin ihren Freunden von ihrer Heilpraktikerinnenausbildung. Pärchen schauen einander in die Augen, die Kerzen auf den Tischen leuchten, im milden Berliner Januar wird es auch auf den Holzbänken im Fenster nicht kalt im Rücken. Ich bin gerne hier. Und das Essen macht glücklich. Ob die Frau, die sich, als wir zahlen, lächelnd dafür entschuldigt, dass sie unseren Salat vergessen hat, selber die Mondprinzessin ist, nach der das Restaurant heißt? Vielleicht frage ich sie mal.