Der Vorfrühling kommt zögernd nach Berlin. Wir frieren am Morgen auf dem Weg zur Schule, aber hellblaue Krokusse leuchten auf den Rabatten. Mit dem liebsten Freund laufe ich am Wasser entlang und freue mich sogar am giftgrünen Bärlauch, dieser elenden Nasenplage – so gierig bin ich nach Grün, weil der Winter lang und düster war.
Im Zimmer des Achtjährigen entsteht auf einer Rigipsplatte – zwischen Fensterbrett und Stuhllehne – wieder ein Anzuchtgarten mit vielen Töpfchen. Fünf Sonnenblumen keimen schon, drei Tomatenpflänzchen, Sonnenhut und Majoran. Wenn ich morgens ein paar Minuten Zeit habe, sitze ich daneben im Sessel und schreibe in mein Morgenseitenbuch.
Die Tage sind vollgestopft, das ist ja nichts Neues. Zum Chirurgen mit dem Zwölfjährigen und zum Elternabend des Achtjährigen geht es; dann wieder mit dem Großen zur Probestunde in der Musikschule („Wir freuen uns“, schreibt mir die Musikschulverwaltung hinterher, „Ihnen mitteilen zu können, dass wir Ihre Sie/ Tochter / Sohn ab 1.05.2017 im Fach Schlagzeug fortführen / aufnehmen können“ – eine neue Ära beginnt da vielleicht, den Schlagzeuglehrer haben wir schon kennengelernt, er unterrichtet auch besser, als die Verwaltung schreibt) und zur Hortkostenstelle, mit der Unklarheiten bezüglich der Hortkosten geklärt werden müssen, die durch konsequentes Aneinander-vorbei-Kommunizieren von Schule und Amt nun schon ein halbes Jahr lang immer unklarer werden.
Wenn abends die Kinder im Bett sind, lege ich mir Kleidung für den nächsten Arbeitstag im Büro zurecht und gehe auch schlafen; ich bin müde und spüre nichts davon, dass ich – weil meine Kinder ja nun schon größer sind – wieder mehr Freiräume habe; oder vielleicht sind die Freiräume ja auch da, und nur die Kraft ist es nicht. Der Zwölfjährige verschiebt seinen Wechseltag zwischen seinem Papa und mir von Dienstag auf Mittwoch und verbringt nun jeweils zwei Tage ohne seinen Bruder bei jedem Elternteil. Leicht wären die Nachmittag mit ihm allein mit Arbeit für die Schule zu füllen, immer ist da viel zu tun und er ist langsam – aber ich verstehe inzwischen, dass wir – er auf seine Weise und ich auf meine – schon unter viel zu viel Druck stehen und versuche, uns beiden Freiräume zu schaffen, in denen wir durchatmen können.
Am Wochenende fährt der liebste Freund mit uns nach Leipzig in den Zoo, und der Achtjährige ist hingerissen, als sein Lieblingstierpfleger aus der Fernseh-Doku plötzlich vor ihm steht und er ihm ganz aus der Nähe beim Füttern der Löwen, Erdmännchen und Hyänen zusehen kann. Die Seelöwen aalen sich im Wasser wie ein besonders anschauliches Beispiel dafür, was es bedeutet, „ganz in seinem Element“ zu sein; und als die Durchsage kommt, dass alle Besucher nun allmählich zum Ausgang gehen sollen, haben wir die Totenkopfäffchen noch garnicht gesehen und den Kraken, die Husarenaffen und die weißen Wölfe –
Wir fahren im Abendlicht zurück nach Berlin.
Auch morgens ist es jetzt wieder hell, wenn mein Wecker klingelt und ich in die Küche gehe und die Radionachrichten höre, die fast jeden Morgen verstörend und beängstigend sind und Vesperdosen für meine Kinder vorbereite, die. würde man sie alle, seit Beginn der Kita-Zeit bis heute, übereinanderstapeln – so etwas rechnen wir dann am Frühstückstisch aus – inzwischen einen ungefähr 130 Meter hohen Turm bilden würden.
Wir gehen los – Richtung Schule, am Krokusfeld in der Rabatte vorbei; und manchmal gehen meine Söhne inzwischen ohne mich, mit einem Taschengeldeuro in der Hand und rechtzeitig für einen Abstecher in den Laden, der die Päkchen mit den Sammelkarten führt. Ich setze mich in die S-Bahn und schlage ein Buch auf. Kosmologie und Quantenmechanik faszinieren mich gerade (ein Paralelluniversum populärwissenschaftlicher Bücher tut sich vor mir auf -) und es macht nichts, dass ich beim Lesen nicht viel verstehe, denn zum Staunen reicht es.
Und wenn ich aufschaue, ist der Himmel vor dem S-Bahn-Fenster frühlingshell.