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Erstes Mal

Diesen Artikel wollte ich eigentlich vor dem Artikel „Fahr mal wieder Bahn“ posten und dachte, ich hätte das auch gemacht. Keine Ahnung, warum er plötzlich wieder verschwunden war.

Letzte Woche habe ich das erste EKG meines Lebens gehabt. Eiskalte Arztpraxis, die Heizung lief noch nicht lange. Eine Zumutung, da zu liegen, in einem Gewirr aus Kabeln, klappernde Zähne vor Kälte und Angst. Warum muckert und puckert es ausgerechnet da herum, wo ich mein Herz vermute? Alles bestens, sagte der Arzt, als er einen langen Blick auf mein Geburtsdatum und einen kurzen Blick auf den Ausdruck voller hübsch gleichmäßiger Kurven geworfen hatte, dieses Herz können Sie für viel Geld verkaufen. Nein, ich habe mir kein näheres Angebot machen lassen, ich behalte es noch.

Solche geisterhaften Beschwerden – ich mag das Wort „geisterhaft“ – meint der Arzt, haben sonst Männer mit Trennungsängsten. Ob ich solche Ängste hätte? Ich schüttele meinen Kopf, ich sage „Arbeitsstress“ und „Wechselmodell“ und „Belastung“ und gucke wie eine alleinerziehende berufstätige Mutter, das kann ich ganz gut.

Und trotzdem. Beim Hinausgehen sehe ich sie mit anderen Augen, seine älteren Patienten, Männer und Frauen, die geduldig und stumm in seinem Wartezimmer sitzen, wann immer man dort hinkommt. Irgendwann werde ich dazugehören, mit Beschwerden, die nicht mehr weggehen und Krankheiten, die nicht mehr geheilt werden können, Inventar dieser Arztpraxis oder einer anderen, müde und  angegraut, immer noch hier.

Ist es das viele, viele „Immernochhier“, sorgfältig zu all den Jahren zusammengefaltet, die bis dahin vergehen werden, das so schwer auf meinem Herzen liegt? Dort! ruft mein Herz (das feige Ding, das Veränderungen so scheut): Far, far away! Irgendwoanders! Nochmalvonvorn!

Gleichzeitig bekomme ich Angst, bei dem bloßen Hauch einer Möglichkeit, dass dieses viele, viele „Hier“ – all die Jahre, von denen ich manchmal denke, dass nichts wirklich Neues oder Schönes oder Überraschendes mehr kommen kann – kürzer sein könnte, als ich glaube. Was tue ich angesichts dieser Angst? Gehe ich mal wieder in den Sportverein oder trete ich endlich ganz aus? Esse ich kein Fett  mehr oder nur noch Dinge, die mir wirklich schmecken? Wende ich mich religiösen Praktiken zu, oder stürze ich mich ins Nachtleben? Ziehe ich doch mit meinen Kindern aufs Land oder melde ich sie von der Schule und der Kita ab und mache eine Weltreise mit ihnen? Mache ich endlich alles, was ich schon immer mal tun wollte, oder mache ich einfach weiter wie bisher?

Bevor ich irgendetwas davon tun kann, muss allerdings dieses Muckern und Puckern wieder aufhören. Und auch wenn es das tut, bin ich wohl endgültig angekommen: in der Lebensmitte. (Wollte ich da hin? Eigentlich nicht.)

Zeitzone Alltag

Alles grau, wie lange geht das eigentlich schon so? Von der Berlinale bekomme ich nichts mit, die Krawalle in Berlin könnten auch auf einem anderen Stern stattgefunden haben. Ich lebe in dieser ganz speziellen Zeitzone, in der Zeit und Kraft geradeso für meine Arbeit reichen, für die wenige Zeit mit meinen Kindern, für die Planung des jeweils nächsten Tages und dafür, ihn hinzubekommen, möglichst ohne Ibuprofen (ja, immernoch erkältet).

Ich schleppe meine Einkäufe nach Hause und versuche mir vorzustellen, wie es aussehen würde, wenn alle Wochenendeinkäufe, die ich jemals gemacht habe – Brote in Tüten und Milchpackungen und eingeschweißte Käse und Minitomaten und Waschmittelflaschen und Reistüten und Kaffee und Gurken und Aufbackbrötchen – irgendwo stehen würden, wie groß die Fläche wohl wäre. Ich räume die abgespülten Brotdosen meiner Kinder weg und stelle mir einen riesigen Tisch mit all den Vesperbüchsen vor, die ich je vor Morgengrauen gefüllt habe. Ich sehe die Wäsche auf dem Ständer hängen und frage mich, wie groß ein Haufen mit all den Sachen wäre, die ich in den letzten Jahren weggelegt und gebügelt habe. Das ist durch und durch deprimierend, so darf man das Leben eigentlich nicht betrachten, noch nicht mal Mitte Februar.

Aber wenn der nächste Meteorit genau hier einschlagen würde – was würde von mir übrig bleiben? Nur ein paar Erinnerungen. Ein paar Worte, falls der WordPress-Server mehr als einen Meteoritenverwüstungsradius von hier entfernt steht, davon gehe ich mal aus. (Wo stehen sie eigentlich, all die Server mit all den Daten? Unter Tage? In Wüsten? In abgeschotteten Lagerhallen?)

Mir zu sagen, dass ein Meteoritenschlag ausgerechnet hier nicht gerade wahrscheinlich ist, ist heute auch nur ein bisschen tröstlich. Denn über und neben und hinter all den Wochenendeinkäufen und Brotdosen und Wäschekörben der letzten Jahre sehe ich ziemlich deutlich auch die, die noch kommen werden, Myriaden virtueller Kräuterquarkbrote und Apfelschnitze, ganze Hallen voller Lebensmittel, die heute noch garnicht produziert sind, Berge zukünftiger Socken und Pullis und Hosen und Handtücher. Es mag eine Illusion sein, zu glauben, man wüsste, was der nächste Tag bringt… aber warum behalte ich dann so oft recht mit meinen Erwartungen?

Ob es helfen würde, Zen zu praktizieren, diesen ganzen Alltagskram mit Achtsamkeit in etwas zu verwandeln, das Bedeutung hat?

Vielleicht muss man ja auch nur fest genug daran glauben, dass dann und wann auch nochmal etwas Unerwartetes geschehen wird. Obwohl man dabei – vielleicht – das Risiko eingeht, am Ende doch so etwas wie einen Meteoriten anzulocken, Zerstörung und Schmerz.

Platz für Neues

Heute, auf einmal, hängt über Berlin ein blasser Vorfrühlingshimmel. Ich sitze in der S-Bahn, schließe die Augen, halte mein Gesicht in die Sonne und denke darüber nach, meine Erschöpfung von „Winterhänger“ in „Frühlingsmüdigkeit“ umzubenennen.

An den Straßen liegen noch vereinzelte Weihnachtsbäume, ich war nicht die einzige, die ihren zu spät rausgeworfen hat. Vor dem Blumenladen gibt es ganz unten im Regalwagen noch Grabgestecke mit Plastikblumen in quietschbunten Farben, darüber, in den gleichen Farben, Primeln, die sind echt. Und vor dem Café sitzen die ersten mutigen Raucherinnen und trinken, in dicke rote Decken eingewickelt, ihren Cappuccino, obwohl die Sonnenstrahlen schon nicht mehr bis zu ihnen kommen und die Luft schon wieder ganz kalt ist.

In meine Wohnung scheint die Sonne noch, und sofort kommt mir alles eng und verkramt und schmutzig vor. Ich möchte dringend einen Müllsack nehmen und in allen Schränken auf einmal ausmisten; ich zwinge – ähh – bringe meine Kinder dazu, einen Teil ihres Spielzeugs durchzusehen und wenigstens ein paar kaputte Sachen wegzuwerfen; ich sortiere sogar die Socken des Achtjährigen, was ich anscheinend länger nicht gemacht habe, die Hälfte wandert sofort in die Kommode des Vierjährigen, au weia.

Seltsamerweise helfen solche Anfälle von Ordnungschaffen ja manchmal; auch wenn das Allesvielzuviel eigentlich ein inneres ist; auch wenn das Chaos im Kopf oder in der Seele sitzt, wo es sich nicht so leicht ausmisten lässt.

Im Zeitschriftenladen

Wieder in der Stadt unterwegs, wegen der Kälte verbringe ich die Wartezeit auf den Bus im Zeitschriftenladen. Ich streiche an den Regalen entlang, die Sonderhefte mit den besten, neuesten und leckersten Plätzchenrezepten interessieren mich nicht. „Lernen Sie, ihren Zeitdruck mit anderen Augen zu sehen. Berufstätige Mütter über Chaos und Glück“ will ich auch nicht lesen. Das mit Chaos und Glück ist wohl wahr, aber meinen Zeitdruck möchte ich trotzdem nicht anders nennen als „Zeitdruck“, ich möchte darunter leiden dürfen und bei Gelegenheit vielleicht etwas daran ändern, aber schönreden will ich ihn mir nicht.

Überhaupt mag ich ihn gerade nicht, den verkrampft fröhlichen oder jedenfalls mindestens ein wenig krampfhaft optimistischen Ton, den Frauenzeitschriften so oft anschlagen. Anscheinend ist es dieser Ton, von dem die Werbekunden vermuten, dass er die Leserinnen in die richtige kauflustige Stimmung versetzt. Wahrscheinlich würde keine dieser Zeitschriften einen Artikel veröffentlichen, der sich mit dem Zeitdruck so beschäftigt: „Mein Leben an der Grenze zum Burn-Out. Berufstätige Mütter gestehen ihre schlimmsten stressbedingten Erziehungsfehler.“ Schade eigentlich.

Auf der tendenziell esoterischeren Seite des Zeitschriftenregals gibt es „Lektionen in Dankbarkeit“ (Nein, bitte, ich gebe mir ja schon Mühe mit der Dankbarkeit… Lektionen möchte ich aber nicht erteilt bekommen, von niemandem…) und „Leben mit der Unsicherheit“ – aber was ich darüber nicht weiß, will ich auch gar nicht erfahren, glaube ich.

Ich bin heute zu mäkelig, das wird nix mit mir und den Zeitschriften. Oder doch? Auf dem Weg zum Ausgang fällt mir noch die Schlagzeile „Powerdressing“ ins Auge, mit der offensichtlich für neue Büromode geworben wird. Ja, ich würde auch gerne eine Gehaltserhöhung allein auf Grund einer neuen schicken Powerbluse bekommen. Aber wahrscheinlich laufe ich meinem Chef dafür sowieso viel zu selten über den Weg.

Ich lasse die Zeitschriften liegen und gehe zum Bus. Spaß muss es schon machen, sich all diese Überschriften auszudenken; genauso, wie es Spaß machen muss, die Werbetexte auf Tees und Bademitteln zu verfassen, die wir heute so oft nicht deswegen kaufen, weil wir Tee trinken oder baden wollen, sondern weil wir uns nach dem Lebensgefühl sehnen, dass sie uns freigiebig und in allen Nuancen versprechen.

Wörter sind ein großartiges Material.

Und wenn es mit der Gehaltserhöhung wegen der neuen Bluse nicht klappt, kann ich mich ja immer noch selbständig machen und eine Power-Tee-Kollektion fürs Büro entwerfen: „Soft Skills am Morgen“; „Brain Fitness für Powerpoint“,  „Süße Träume im Meeting“, „Excel-Hero“; oder wie wäre es mit einem „Zeitdruck-Killer-Tee“? Berufstätige Mütter würden ihn lieben.