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So lala

Draußen verfärben sich die Bäume spektakulär. Diese Oktoberwochen gehören für mich zu den allerschönsten im Jahr, immer wieder. Mein Balkon ist so windgeschützt, dass ich es in der Sonne noch immer warm habe, die vorletzte Paprika wird noch gelb und die Tomaten wenigstens rosig.

Draußen im Wind ist es dafür eiskalt.

Ich versuche, mich von einer unangenehm stressigen Woche zu erholen: Überstunden, Abteilungsausflug, ein Urlaubstag, der für einen ganztägigen und heftig anstrengenden Workshop zu meinem reinsten Privatvergnügen draufgeht, ein Mittenamtag-Arztbesuch, bei dem ich es immerhin hinbekomme, der Ärztin, die meinem Allergikerkind nicht den Bettbezug verordnen will, den die Kasse zahlen würde, die Nummer der Krankenkassenmitarbeiterin in die Hand zu drücken, die nicht den Matratzenbezug bezahlen möchte, den die Ärztin verschrieben hat. Sollen die beiden das unter sich ausmachen, der Sechsjährige zumindest hustet nicht mehr, seit er zweimal täglich Kortison inhaltiert. Na bitte. Vielleicht dürfen wir es ja sogar bald absetzen.

Ich habe fest vor, zur Demo gegen TTIP zu gehen, habe aber niemanden, der mitgeht. Ich versuche, mich online zu verabreden, es gibt ja jetzt allerlei Portale für sowas. Tausche ein paar Mails mit einem Troll aus, der mir unbedingt beweisen will, dass es total sinnlos ist, zu demonstrieren, Ideale zu haben oder an das Gute zu glauben. Gehe mit einem blinden Mann auf Partnerinsuche einen Kaffee trinken, weil ich neugierig bin, und bin hinterher froh, wieder zu Hause zu sein.

Statt auf der Demo ende ich in Linum beim Kranichegucken, der Vater meiner Kinder lädt mich – total überraschend – ein, wir vertragen uns seit einiger Zeit verhältnismäßig gut. Es wird ein erstaunlich entspannter Tag, auch wenn wir das Feld nicht finden, auf dem die Kraniche (bis zu 200.000 sollen es sein) sich Winterspeck anfressen; und auch wenn wir nicht dahin gehen dürfen, wo sie sich abends zum Schlafen ins Wasser stellen. Immerhin sehen wir sie fliegen, in mehr oder weniger unordentlichen Pfeilformationen, und ihr Geschrei erfüllt den ganzen Himmel.

Eine furchtbar lange S-Bahn-Fahrt mit viel zu vielen Baustellen-Pendelverkehr-Wartezeiten verbringe ich damit, die Texte über das Entlieben zu lesen, die die Katastrophenchronistin verlinkt hat – und als erstes ihren, berührend und schön. In meinem eigenen Kopf lässt das Nachdenken über die Liebe gerade nur einen Haufen ebenso melancholischer wie banaler Pflanzenmethaphern ins Kraut schießen (man kann die Liebe ausreißen; wenn sie keinen Raum zum Wachsen bekommt, verkümmert sie – oder hat man schon mal von Bonsailiebe gehört?; und vielleicht verholzt sie mit der Zeit, wenn die Verliebtheit nachlässt und der Beziehungsalltag grau wird…); ich schüttele mich ein bisschen, ich habe wohl doch zu lange zwischen meinen Blumen auf dem Balkon gesessen.

Ich schalte die Heizung ein, die inzwischen so sonderbare Geräusche von sich gibt, dass ich unbedingt dringend die Hausverwaltung anrufen muss, die eigentlich schon vor ein paar Wochen jemanden vorbeischicken wollte. Ich wärme meine eiskalten Füße auf und gucke raus in die Linde, die schon so viel Laub verloren hat, dass ich die Taube sehen kann, die taubenseelenallein im Geäst sitzt und den Kopf unter den Flügel gesteckt hat. Ich fange an, mir zu überlegen, was wir in diesem Jahr in unserem Waldhäuschen brauchen werden: Strickzeug; Gries und Reis und Nudeln zum Mittagessen; eine Malerplane, um die Matratze des Sechsjährigen einzuschlagen, der im letzten Jahr vor lauter Husten dort kaum schlafen konnte; das dicke Bündel Briefe, das meine Mutter vor etwas 50 Jahren als Verliebte und später Verlobte an meinen Vater geschrieben hat. Und viele, viele dicke Sachen.

Noch eine Woche bis zur Auszeit. Tagezählen.

Am Strand

Am Strand von Warnemünde gibt es auch an den ganz heißen Tagen noch verriegelte Strandkörbe. Etliche sogar. Ziemlich viele! Trotzdem zucken die Verleiher in den kleinen Häuschen mit den Schultern: nöö, frei ist nix. Nur ganz rechts beim Leuchtturm, wo es am teuersten ist. Direkt vor mir in der Schlange eine Frau, die den Schlüssel für ihren heutigen Strandkorb in der dritten Reihe abgibt und einen Korb in der ersten Reihe gleich für morgen bezahlt – dessen Schlüssel sie gleich mitnimmt, obwohl wir darin noch gut hätten vier Stunden lang unsere Badesachen unterbringen und Schattenpausen hätten machen können, bis zum Abend. Nix zu machen, die Körbe vorne am Meer sind schon alle weg, als ich endlich dran bin.

Aber irgendwo finden wir dann doch immer noch ein Strandkörbchen, wenn wir am späten Nachmittag ans Meer kommen – jeden Tag woanders.

Einmal direkt unter dem Lebensretterhäuschen, von dem herab der Lebensretter von Dienst mit dem Fünfjährigen schäkert. Eine ganze Zeit lang strecken sich beide gegenseitig immer abwechselnd die Zunge raus.

Einmal rechts vorne, wo seltsamerweise alle Leute tätowiert sind. „Schnuppi“ steht auf der Wade der Frau, die vor uns ins Meer geht. Und „Live your dreams“ auf dem Rücken der Frau, an deren Handtuch vorbei wir wieder herauskommen. Ein dicker glatzköpfiger Mann hat einen dicken glatzköpfigen Wikinger auf den Rücken tätowiert. Und so ziemlich allen anderen quellen Rosen, Totenköpfe und sonstige Schnörkel den Rücken oder die Arme herab oder ranken an ihren Beinen hoch.

Einmal müssen wir in die sechste Reihe, fast ganz nach hinten, dahin, wo ältere Paare Stunde um Stunde friedlich in ihren Körben liegen. Alle der Sonne zugewandt. Heißt, dass sie uns alle beim Umziehen beobachten können, weil wir unseren Korb als erstes mit viel Hauruck umdrehen, damit wir Schatten haben. Dann kommen wir vom Baden wieder. Die ersten Senioren drehen ihren Korb aus der Sonne (und von uns weg), als der Fünfjährige und der Neunjährige Fußball spielen. („Neuer zu Götze! Götze! Jetzt Özil! Khedira! Khedira zu Messi! Robben schießt!!! Neuer hält!!!!) Die nächsten brechen plötzlich auf, als meine ganz große Schwester der großen Patennichte das Sonnenbaden reglementiert. („Du warst jetzt aber schon fünf Minuten in der Sonne!“ „Ja, aber das war mein Rücken. Jetzt noch fünf Minuten für den Bauch!“ – „Jetzt reichts aber, du ziehst jetzt sofort eine Bluse an, die Sonne ist gefährlich!“ „Mama! Nein! Ich will jetzt Ballspielen und ich ziehe keine Bluse an!“) Und den restlichen fällt ein, dass sie jetzt dringend schon mal zum Abendessen gehen wollen, als die große Patennichte und die Jungs Ballspielen und laut mitzählen, wie oft sie ihn hin- und herwerfen können, ohne dass er runterfällt. („Vierundsechzig – fünfundsechzig – sechsundsechzig – Neeeeeeeeiiiin!!!!!“)

Aber überall, jeden Tag, gibt es den Schneewittcheneffekt. Schon mal mit einer Sechzehnjährigen am Strand gewesen? Die Jungs im Alter der großen Patennichte gucken die große Patennichte an (wenn sie nicht gerade von dem Bier in ihrer einen Hand zu dem Smartfon in ihrer anderen Hand schauen). Die Männer in meinem Alter gucken die große Patennichte an (wenn sie nicht gerade ihren greinenden Nachwuchs oder außer Kontrolle geratene Wurfstrandmuscheln bändigen). Die Männer im Alter meiner ganz großen Schwester gucken – na? – die große Patennichte an. Wenn sie nicht gerade ihren kompetenten Ehefrauen mit den praktischen Kurzhaarschnitten den Rücken eincremen. Und manchmal sogar dann.

Nur der nette Strandkorbverleiher lächelt mich an und lobt mich, wie sportlich ich aussah, als wir da eben alle Frisbee gespielt haben. Er weiß, was er tut: Immerhin bin ich diejenige, die das Portemonnaie aus der Tasche zieht und den Strandkorb bezahlt. Und morgen wiederkommen soll – denn die Körbe sind hier immernoch am teuersten.

Frühlingsgefühle

Ich setze den Neunjährigen mit seinen Schulaufgaben an den Küchentisch und mache mich daran, ihn zu beaufsichtigen und dabei die Küche aufzuräumen. Die Frühlingssonne strahlt vom tiefblauen Himmel – und durch mein Küchenfenster, von dem ich mir bisher eingebildet habe, es sei aus reiner Menschenfreundlichkeit nach Weihnachten einfach nicht wieder schmutzig geworden. Das war ein Irrtum. Schnell wegschauen. Mein Blick fällt auf den Herd, auf allerhand Kleckse und Spritzer im Sonnenlicht prima zur Geltung kommen. Ich putze den Herd. Dabei muss ich den Wasserkessel wegstellen, der sich schon wieder so klebrig anfühlt, wie sich nur Wasserkessel auf Gasherden anfühlen, auf denen häufig gekocht wird. Ich mache den Wasserkessel sauber. Aus Versehen spritze ich dabei Seifenwasser auf die Kühlschranktür, die seltsamerweise im Sonnenschein so aussieht, als hätten wir den Winter damit verbracht, Tag um Tag Tee und Kakao zu verschütten. Ich mache die Kühlschranktür sauber. Dummerweise mache sich sie dabei auf. Der Kühlschrank sieht  – obwohl die Sonne garnicht reinscheint – so aus, als hätten wir den Winter über lauter Lebensmittel in undichten Packungen gekauft. Mein Sohn ist inzwischen mit seinen Schulsachen fertig. Ich scheuche ihn aus der Küche und mache seufzend den Kühlschrank sauber. Dabei fällt mein Blick auf den Überlauf des Spülbeckens. Ich denke kurz darüber nach, meinen Lebensunterhalt von nun an mit dem  Verkauf innovativer neuartiger Penicillinprodukte zu verdienen. Dann mache ich den Überlauf aber lieber doch sauber. Sooo. Jetzt reichts aber mit dem Putzen.

Unterdessen haben meine Kinder im großen Zimmer – in der Küche durften sie ja nicht – geknetet. Ich bekomme einen wunderbaren Obstteller mit gelben Bananen und roten Erdbeeren mit grünen Blättchen serviert. Räumt mal auf, sage ich zu meinen Kindern, die bei Sonnenschein auch nicht so richtig sauber aussehen, und geht mal in die Wanne! Dann entdecke ich die Knetkrümel in vielen leuchtenden Farben, die sie auf dem Esstisch, unter dem Esstisch, auf den Stühlen und auf meinem dienstlichen Laptop hinterlassen haben. Ich denke kurz darüber nach, Firma Playdooh zu verklagen, hole dann aber lieber den Staubsauger. Solange die Kinder baden, wische ich noch schnell die Küche.

Dann sind meine Kinder fertig. Guckt mal, wie schön sauber hier jetzt alles ist! Oh, sagt der Fünfjährige, der es mit seinem Charme und seinen diplomatischen Fähigkeiten einmal weit bringen wird, die Küche leuchtet ja wie der Himmel! Später essen wir Reis mit Resten. Als der Fünfjährige die Kerze auspusten will, steht leider noch der Teller mit dem ganz fein geriebenen Käse davor. Der mächtige Puster des Fünfjährigen lässt den Käse wie einen Sandsturm durch die wie der Himmel leuchtende Küche fliegen.

Neeeeeein! Ich denke kurz – ganz kurz – darüber nach, meine Kinder am Bahnhof Zoo auszusetzen und in ein Kloster einzutreten, in eins, in dem man sein Seelenheil erlangt, indem man Tag um Tag einen langen, langen Klosterkreuzgang putzt, einen, in dem es nie schmutzig wird, weil man den lieben langen Tag ja nichts anderes tut, als dort zu wischen.

Oder ich suche mir einen Vorwand, um bei Sonnenschein nie, nie wieder zu Hause zu sein. Ein Haufen Dates? Ist ja schließlich Frühling, oder?

Wahrscheinlich sind die ganzen Pärchen jetzt auch bloß deshalb in den Parks unterwegs, um nicht sehen zu müssen, was bei ihnen zu Hause alles saubergemacht werden müsste. Frühlingsgefühle eben.

Schreibflaute

In meinem Blog-Ordner liegen mehrere halbgeschriebene Artikel. Keiner will so recht „rund“ werden – dabei drehen meine Gedanken sich in geometrisch untadeligen Kreisen.

Morgens vor fünf schrecke ich aus dem Schlaf, schlage die Augen auf und frage mich, wie ich hierhergeraten bin, ausgerechnet in dieses Leben.

Ob ich mich – endlich, nun doch – damit abfinden muss, dass mein Leben in den nächsten Jahren aus nichts als Schulterminen, Arbeit und Haushaltskram bestehen wird; damit, auf absehbare Zeit immer nur Kleinigkeiten verändern zu können; damit, trotz meiner „Auszeiten“ im Wechselmodell immer viel mehr Sehnsucht danach zu haben, noch etwas anderes zu sein als eine alleinerziehende Mutter – als Kraft dafür.

Ich beginne, mich davor zu fürchten, dass die Müdigkeit, mit der ich durch diesen Alltag laufe, nicht wieder verschwinden wird.

Nachmittags in der S-Bahn treffe ich einen Vater von zwei Kindern, die die gleiche Schule besuchen wie der Achtjährige. Wie sehr mich das tröstet: von diesem glückliche-Familie-Vater zu hören, dass auch er sein Leben als Hamsterrad empfindet, das sich zwischen Arbeit, Schule und Sportverein dreht… und dreht… und dreht…

Das neugeborene Baby, das die frische Patchworkfamilie einer Freundin (Ihr erstes Kind, aber das dritte des Mannes) zusammenbindet, bringt mir ins Bewusstsein, wie viele mutige Frauen ich kenne, die sich ohne Zögern und mit ganzer Seele auf Beziehungen einlassen, die wegen der Kinder des Mannes – oder anderer Umstände – kompliziert sind. Frauen, die einen Menschen lieben und nicht ein Bündel passender Umstände. Ich muss eine ganze Weile nachdenken, bis mir (kurz vor Einsetzen der Bitterkeit) auch ein, zwei Männer einfallen, von denen ich weiß, dass sie sich auf Frauen eingelassen haben, die in komplizierteren Verhältnissen lebten als sie selbst.

Trotzdem beginne ich, mich davor zu fürchten, dass ich in zehn Jahren eine dieser noch garnicht alten, theoretisch interessanten, praktisch aber einsamen Frauen sein könnte, die aus ihrem Alleinsein das Beste machen – weil sie eben müssen.

Lebensmittegedankenkreise.

Im Grunde hätte ich wirklich lieber schöne und aufregende Dinge zu erzählen.

 

Eine Zahnbürste wegwerfen

Ist nicht so dass ich es nicht hätte kommen sehen, lang schon.

Ist nicht so, dass ich mit dem Wissen nicht hätte leben können.

Und doch: Nach dem schönen Wochenende im Oderbruch hätte es noch etwas länger dauern können – dachte ich – bis der Inselmann sich auf sein knallrotes Motorrad schwingt und in den Sonnenuntergang davonbraust. Dorthin, wo Himmel und Erde zusammenstoßen oder noch ein Stück weiter; irgendwohin, wo nicht die Gefahr besteht, dass die Grenze zwischen Nicht-Einlassen und Einlassen sich durch puren Zeitablauf an einem vorbeischiebt.

Eine Zahnbürste wegzuwerfen ist leicht; eine schöne, trotzige Geste. Alles andere behalte ich lieber. Musik und Fotos. Buchentdeckungen. Ein kleines Spielzeug aus lauter bunten Holzklötzchen.

Dann gehe ich zur professionellen Zahnreinigung. Ich liege im Stuhl, die professionelle Zahnreinigerin poliert meine Zähne mit etwas Scheußlichem (schmeckt nach Apfel, sagt sie, aber ich finde, dass es schmeckt wie etwas, das besser im Sandkasten geblieben wäre) und im Radio dudelt Juli. „Ja ich weiß, es war ne geile Zeit…“ Na toll.

Und was mache ich jetzt?

Eine Weile schlechte Laune haben und dann eine neue Affaire anfangen? (Schon wieder?)

Aufgeben, das Wort „Mann“ bis zur Volljährigkeit meiner Kinder aus meinem Wortschatz streichen und alle mit Lobeshymnen auf das Alleinsein nerven? Mich von schönen Erinnerungen und zwangsplatonischen Gefühlen ernähren?

Meine ganz große Schwester schwärmt mir am Telefon von einer christlichen Partnervermittlung im Internet vor – beim letzten Mal wollte sie mich noch gegen meinen Willen bei Parship anmelden – die gerade zu einer Heirat in ihrem Bekanntenkreis geführt hat.

Und wer weiß, vielleicht gibt es dort ja wirklich Männer, die bei dem Wort „Kinder“ keinen Schreck kriegen und vielleicht sogar schon mal eins aus der Nähe gesehen haben. Aber können diese Männer mit meiner anderen Seite etwas anfangen, der Seite, die den Alltag vergessen und – ab und zu – etwas anderes als eine alleinerziehende Mutter sein möchte? Der Seite, der der Inselmann gutgetan hat?

Erst mal muss ich jedenfalls meine Zahnbürste trösten gehen; die heult, so alleine in ihrem Becher.

 

Himmel, Raps und Frösche

Es ist Mittwoch, der Alltag hat uns fest im Griff. Dabei war ich ihm doch gerade für zwei Tage von der Schippe gesprungen, davongefahren, weit genug, um ihn mit seinen diversen Widrigkeiten aus meinem Kopf zu verbannen.

Zwei Tage Oderbruch – der Inselmann sagte, da ist es schön. Also ans Telefon klemmen – übers Himmelfahrtswochenende sind die Gasthöfe und Pensionen eigentlich alle ausgebucht, aber in Neuküstrinchen Nr. 53 gibt es dann doch eine Holzhütte für uns. Am Ende haben wir sogar den ganzen Puppenstubencampingplatz für uns alleine, mit unserem Holzhäuschen und mit einem alten Bauarbeiter-Toilettenwagen, in dem es inzwischen auch Duschen gibt; mit der Küchenhütte, der Nachtigall, mit den Weidenblüten, die uns in den Morgenkaffee fallen und mit den Pusteblumen am Feldrand, die ich nicht gleichzeitig abpusten und fotografieren kann, das krieg ich einfach nicht hin. Und mit der Mutter der Vermieterin, die ihren mühseligen Morgenspaziergang am Stock gerne zu uns hinaus macht und erzählt, dass sie ihr ganzes Leben hier verbracht hat. Im Oderbruch.

Ortsnamen mit  „Neu“ gibt es hier eine ganze Menge. Und mit „Alt“. Und mit „Loose“. Das hat damit zu tun, dass die Oder eigentlich in einem großen gemütlichen Bogen durch das breite Tal geflossen ist, das sie sich in der Eiszeit – ja, ich erinnere mich düster, das hatten wir mal in der Schule, ein „Urstromtal“ – ins Land gegraben hat. Bis im 18. Jahrhundert Friedrich der II. nicht nur die Idee, sondern auch die technischen Mittel hatte, den Oderlauf zu begradigen und das Wasser hinter einem Deich einzusperren, das trockengelegte Land unter Siedler von beinahe überallher zu verlosen und sie neue Orte anlegen zu lassen. Neuküstrinchen ist ein kleines Straßendorf, dem man ansieht, dass es nicht gewachsen ist, sondern planmäßig gebaut wurde. Entlang einer einzigen Straße stehen die Häuser, teils verfallen und von blühendem Flieder überwuchert, teils liebevoll saniert, sicherlich manche in der Hand stadtflüchtiger Berliner, wer weiß. Denn schön ist es hier wirklich. Der Raps leuchtet, das Sonnenlicht funkelt auf den Folien, mit denen die Spargelreihen abgedeckt sind; lange Reihen von Pappeln stehen zwischen den Feldern, Störche haben sich fotogen in ihren Nestern platziert.

Natürlich wollen wir an die Oder! „Zollbrücke“ heißt die Stelle, an der die einzige Lücke im Oderdeich ist, sogar im nach der Flut von 1997 – Gedenktafeln überall, hier wurde eine ganze Gegend knapp vor dem Untergang im wahrsten Sinne des Wortes bewahrt, das war mir garnicht so klar – neu gesicherten Deich und natürlich verschließbar. Eine Brücke gibt es hier nicht mehr, aber oben auf dem Deich einen feinen glatten Radweg und zwei kleine Restaurants, beide mit Fahrradverleih, und da gehen wir auch hin, denn jetzt möchte ich an der Oder entlangfahren. Von der polnischen Seite leuchten rot-weiße Grenzpfosten herüber; auf den deutschen Grenzpfeilern ist das Rot zu unansehnlichem Rosa verblichen. Bei „Güstebieser Loose“ gibt es eine Autofähre, aber die konnte den Betrieb in diesem Jahr noch nicht aufnehmen, weil die Oder noch Hochwasser hat. Ein paar schaulustige Touristen am Wasser. „Hier ist jetzt also die Grenze der EU“, sagt einer. Zum Glück kennt sich ein anderer aus. „Nee, nur die vom Euro.“  

Weil der Inselmann ein sportlicher Mensch ist und ihn die Aussicht auf mein erschöpfungsbedingtes Gejammer nicht schreckt, fahren wir noch elf Kilometer weiter bis Groß Neuendorf. Dort gibt es Kaffee und Bockwurst, zum Glück. Im alten Hafengelände stehen Eisenbahnwaggons, die als Übernachtungsmöglichkeiten ausgebaut sind; der alte Verladeturm beherbergt ein Café. Wir lümmeln in Liegestühlen am Wasser in der Sonne und sehen den Schwalben zu, die ihre Nester am Verladeturm haben. Den kleinen jüdischen Friedhof wollen wir auch noch ansehen, ein winziges Geviert in den Feldern, verwitterte Gedenksteine im Schatten alter Bäume.

Auf dem Rückweg haben wir tatsächlich Rückenwind (Ist das in der Geschichte des Fahrradfahrens schon jemals vorgekommen?). Die Kilometer schnurren nur so davon, ich freue mich an den vielen Pusteblumen auf dem Deich; an den Milchkaffeekühen, die auf ihren Weiden im Schlamm stehen und an den  Vögeln, die auf der Oderseite in den überfluteten Wiesen herumdümpeln. Trotz der Störche gibt es noch genug Frösche, sie quaken laut; trotz der Frösche schwirren noch genug Fliegen über dem Radweg, um das Fahren mit offenem Mund unerfreulich zu machen.  

Wir steigen wieder ins Auto, der Inselmann dreht die Musik auf; die Fenster sind heruntergekurbelt, wir fliegen über die Bodenwellen in der Straße. Die ersten Kilometer nach der polnischen Grenze schrecken mich ab – mit ihrer Mischung aus Night Clubs und Frisören und Zahnärzten und Optikern und ein paar riesigen Gebäuden, die wie Bauruinen aussehen und mit mächtigen Leuchtbuchstaben als „Größter Polenmarkt Berlins“ angepriesen werden. Lieber schnell zurück. Später am Abend pustet der Inselmann ein Feuerchen in der Grillschale in Gang, wir schauen in die Flammen, nur das Quaken des Alphafrosches im Dorfteich und die Unterhaltungen der Nachtvögel sind zu hören.

Am nächsten Tag schauen wir uns das Schiffshebewerk an – der Höhenunterschied zwischen der Ebene, auf der unter anderem Berlin liegt, und dem Urstromtal der Oder ist so groß, dass die Schiffe hier 36 Meter hoch gehoben – oder heruntergelassen – werden. Aus irgendeinem Grund ist das alte Hebewerk mit seiner beeindruckenden Stahlkonstruktion nicht mehr gut genug. Direkt daneben wird ein neues gebaut, riesige Betonpfeiler stehen da schon; genug Kräne, um für meine Söhne ein paar Fotos zu machen.

Als wir am Abend Hunger bekommen, haben die Restaurants an der Zollbrücke schon zu, da nützt auch Möhren-Ingwer-Suppe auf der Karte nichts mehr. Aber wir in einem der Alt-Orte (Altreetz?), deren Namen einem so schnell durcheinandergeraten, hat noch eins offen. Das Essen schmeckt so fein, dass der Inselmann seinen Charme spielen lässt und die Zutaten des Vorsüppchens (ein Familienrezept!) doch noch aus dem stolzen jungen Koch herausbekommt. Am Deich in der Dämmerung, später, schwimmt ein Schwan neben uns her Patrouille. Man sieht ganz deutlich, dass die Felder auf der einen Seite tiefer liegen als der breite Fluss auf der anderen. Der Weg zurück durch die kleinen Orte ist mir nach zwei Tagen schon ganz vertraut. Der Himmel ist riesig und hängt voller Regenwolken.

Am nächsten Morgen sind wir wieder auf der Straße nach Berlin. In Bad Freienwalde geht es steil bergauf, wir verlassen das Odertal. Kriegsgräbergedenkstätten und ein Bunker sind ausgeschildert, die Seelower Höhen sind hier irgendwo, auch der Krieg hat hier Spuren hinterlassen. Noch ein Kaffee vor der Bäckerei an der Straße. Im Auto läuft Musik; schöne Musik, in der einsame Cowboys nach Liebe, Rache, Gerechtigkeit (aber nicht nach einer Patchworkfamilie, so viel steht fest) suchen – am Horizont taucht Berlin auf, mit meinem Alltag, in dem ich mich gerade so verheddert fühle. Bis ins Oderbruch reicht er nicht, das ist gut. Ich komme heim, Kopf und Kamera voller großartiger Bilder; ich bin ganz weit weggewesen: wie schön das war. Ob der Vierjährige nächstes Jahr schon gut genug Fahrrad fährt, um ein paar Tage im Oderbruch unterwegs zu sein? Mal sehen.

Radio bildet doch

Eigentlich habe ich es ja nicht so mit den Medien.

Mich haben schon Leute als sonderbar bezeichnet, weil ich so ganz ohne Spiegel Online und Facebook und sogar ohne Fernseher mein Dasein friste. Aber würde es meinen Tag schöner machen, wenn ich weiß, ob dieser oder jener B-Politiker sich für oder gegen sexuelle Belästigung ausspricht? Wenn ich alles über die neueste Reality-Show erfahre? (Im Dschungel? In der Arktis? Im Uranbergwerk? Oder wo schicken sie die Leute heute hin?)

Aber so ganz lässt sich dieser Luxus des Nichtwissens natürlich nicht durchhalten, schon allein wegen dem Wetterbericht schalte ich dann doch mal morgens das Radio ein, damit meine Kinder einigermaßen witterungsgerecht bekleidet sind und die Erzieherin in der Kita mich nicht so streng anguckt.

Und manchmal ist es dann direkt interessant, was das Radio einem an einem ganz normalen Dienstagmorgen zwischen sieben und acht so bietet. Radio Eins widmet gerade eine ganze Woche der Frauenquote. Und sie reichern das Thema mit allerlei Informationen an, die mir im Kopf hängenbleiben. Wie lange kramt eine Frau in ihrem Leben durchschnittlich in ihrer Handtasche? 76 Tage. Wie viel Zeit verbringt dieselbe durchschnittliche Frau in ihrem Leben in der Küche? 3,2 Jahre. Während ich noch nachrechne, ob das stimmen kann, fängt die Werbung an, und mir bleibt fast die Zahnbürste im Hals stecken. Mit unverhohlenem Enthusiasmus in der Stimme verkündet da einer: „Plötzlich geht doch beides! Fremdgehen und Treubleiben!“ Kann diese Werbung ernsthaft an Frauen gerichtet sein? Dann wohl doch eher nicht, es geht um Bier. Aber für Frauen haben sie auch einen Spot, gleich hinterher. Eine der Berliner Tageszeitungen versucht ihre weibliche Leserschaft mit einer Serie zur Fitness im Frühling zu vergrößern. Irgendwie weniger toll.

In den Nachrichten geht es darum, dass jeder EU-Bürger ein gesetzliches Recht auf ein Girokonto erhalten soll. Aber sie sagen nicht dazu, ob die Menschen ohne Girokonto hauptsächlich Frauen sind. Wahrscheinlich wurde das Gesetz sowieso von der Lobby der Internethändler eingebracht. Unser lieber Berliner Oberbürgermeister präsentiert sich als Retter der East-Side-Gallery, aber welcher aus Schilda zugezogene Bezirkspolitiker hat eigentlich die Abrissgenehmigung erteilt? Hallo?

Eigentlich bin ich schon fast aus der Tür, aber dann muss ich doch noch den einen Beitrag anhören, der tatsächlich inhaltlich zur Frauenquotenwoche gehört. Sie stellen diese 24-Stunden-Kita in Schwedt vor (die finanziert sich wahrscheinlich über bezahlte Interviewtermine), die gerne als Musterbeispiel für eine Infrastruktur genannt wird, die es Frauen ermöglichen soll, Beruf und Familie zu vereinbaren. Ich schalte das Radio aus und springe los, Richtung Büro. Mir macht dieser Kita-Beitrag Bauchschmerzen. Ich schüttele den Kopf, wenn ich von Kitas in den alten Bundesländern höre, aus denen die Kinder zum Mittagessen abgeholt werden müssen, wie soll das denn gehen? Aber ich möchte auch keine 24-Stunden-Kita für meine Kinder haben. Würde das den Druck nicht einfach nur verlagern – den Arbeitgebern jeden Anlass nehmen, sich Gedanken über familienfreundliche Bedingungen zu machen, den Frauen aber aufbürden, ihre Kinder zu jeder Tages- und Nachtzeit betreuen zu lassen, einfach weil die Möglichkeit besteht und die Präsentation (der Jahresabschluss, der Bericht, das Projekt, der Artikel, der Entwurf, das Irgendwas-ist-immer) deshalb unbedingt heute noch fertig werden muss?  

Wenn sie jemals Bier an Frauen verkaufen wollen, sollten sie es jedenfalls mal so versuchen: „Plötzlich geht doch beides! Als entspannte Mutter viel Zeit mit Ihren Kindern verbringen. Und erfolgreich in Ihrem Beruf sein.“ Ich nehme einen Kasten. Prost!

Sammeln Sie Treueherzen?

Das Thema Rabatte hatten wir ja schon, keine Angst, wird nicht wieder aufgewärmt. Aber mir spukt schon lange die Frage im Kopf herum, die einem unvermeidlich gestellt wird, wenn man bei Kaisers einkauft: „Sammeln Sie Treueherzen?“ – Denn wenn man mit offenen Augen und Ohren durch Berlin geht, kommt man irgendwann zu dem Schluss, dass „Treueherzen“ anscheinend nur noch im Supermarkt eine Rolle spielen.

Mein Informant im Prenzlauer Berg ist jedenfalls der Meinung, dass sich die Grenzen der Zweierbeziehung in Hinsicht auf Treue – mindestens in Hinsicht auf sexuelle Treue – gerade auflösen. Das Ganze nennt sich dann „polyamourös“, hat mit diesem klangvollen Namen auch gleich mal den Status eines Trends erhalten und dient als Oberbegriff für allerlei sonderbare Dinge – die zumeist mit dieser unendlichen Sehnsucht so vieler Männer zwischen 40 und 50 nach fremder Haut zu tun haben. Da begleiten Frauen ihre Partner in Swingerclubs, damit diese Sehnsucht nicht hinter ihrem Rücken gelebt werden muss. Da bauen Paare Briefwechsel zu Frauen auf, mit denen sie fröhliche Stunden zu dritt zu erleben hoffen. Da sucht die männliche Bevölkerung dieser speziellen Altersgruppe in großer Zahl über seltsame Internetportale nach dem ultimativen Seitensprung.

Früher durfte man das einfach Midlifecrisis nennen und für ein Problem der Männer halten. Heute ist es anscheinend ein Problem der Frau – meist weniger polyamourös drauf, wie wir Frauen nun mal sind, mit all dem Oxytocin im Blut – wenn sie sich davon verletzt fühlt, dass jeder eigene Mangel zu einem Bedürfnis beim Partner führt, das dieser unbedingt und am liebsten sofort außerhalb der Beziehung befriedigen muss. Sexualität ist eine starke Kraft. Keine Frage. Aber ist nicht auch berechtigt, eine Beziehung leben zu wollen, in der der andere zu mir steht, auch wenn meine Haut hier und da ein bisschen ausleiert? Auch wenn ich älter werde? Nicht perfekt bin? Zu mir steht in meiner Endlichkeit?

Meine ganz große Schwester sagt, es liegt alles daran, dass die Menschen heute nicht mehr religiös sind. Das führt dazu, dass alle der Meinung sind, alles-aber-auch-alles leben zu müssen, hier und jetzt und sofort. Kein Grund mehr, auf irgendwas zu verzichten.

Aber mal weitergedacht: nehmen wir einmal an, dass die Grenzen von Zweierbeziehungen in manchen Großstadtmilieus tatsächlich nicht mehr so eng gesehen werden; dass sexuelle Treue nicht mehr für alle eine wichtige Bedingung für eine gute Beziehung ist. Was ist dann, wenn es plötzlich nicht mehr nur um ein bisschen Haut geht, wenn zwei Menschen sich über die Grenzen einer festen Beziehung oder Ehe hinaus ernsthaft zu lieben beginnen? Dass es hier einen Trend geben soll, die eigene Beziehung von Eifersucht und Verlustangst so sehr zu befreien, dass der Partner auch eine zweite Liebe leben darf, scheint mir dann doch ein bisschen unwahrscheinlich. So etwas mag vorkommen und dann wäre es vielleicht sogar – um nochmal Pi zu zitieren – die bessere Geschichte. Aber in Wirklichkeit wird es auch weiterhin enden, wie es schon immer geendet hat: Mit Ehen, die nach einer Affäre einfach weitergehen, auch wenn die Ränder des Teppichs, unter den alles gekehrt wird, kaum noch den Boden berühren. Oder solchen Ehen, die mit Hilfe der Energie, die der oder die Dritte ins System gebracht hat, wieder flottgemacht werden, bis zur nächsten Havarie. Mit verlassenen Geliebten, die Träume zerbrochen und alle anderen haben gewusst, dass es so kommen würde. Mit verlassenen Ehepartnern, das Leben zerbrochen und unter jedem Schuh 10 Zentimeter nutzlose moralische Überlegenheit. Mit Beziehungen, die auf den Trümmern einer Vorherbeziehung errichtet werden, deren Relikte immer und immer wieder unter den Grundmauern der neuen Beziehung ächzen. Mit Leid.

Lässt das Thema „Treue“ sich für mich auf den oder wenigstens irgendeinen Punkt bringen? Ich weiß nicht.

Irgendwas zu verurteilen fand ich nur einfach, solange es niemanden betraf, der mir nahesteht. Trotzdem möchte ich „Beziehung“ auch weiter mit „Treue“ zusammendenken. Weil ich glauben will, dass eine Beziehung immer ein bisschen mehr bleiben kann als eine liebgewordene Gewohnheit. Und dieses „bisschen mehr“ – nennen wir es mal „Liebe“ – möchte ich für den wirklichen Grund halten, den jemand haben könnte, um nicht alle seine Sehnsüchte ausleben zu müssen; der es möglich machen könnte, darauf zu verzichten, den geliebten Menschen zu verletzten. (Und wenn dieses bisschen mehr nicht mehr da ist – sollte man dann nicht ehrlich sein und gehen?)

Da haben wir sie wieder, die großen romantischen Ideale. Die gehen einfach nicht weg. Warum auch. Sollen sie bleiben, es reicht ja wohl, wenn die Wirklichkeit dann schwierig und kompliziert ist.

Und wer weiß? Vielleicht sind die gesammelten Treuejahre im Himmel – oder so – dann plötzlich doch etwas wert. Vielleicht kann man sie gegen selbstfliegende Koffer einlösen. Oder gegen Tupperdosensets mit Erzengelautogrammen.

Stein auf Stein

Um mich herum treten gerade viele Leute in eine neue Lebensphase ein. Sie bauen. Oder kaufen. Manche haben erst ein Kind bekommen oder zwei und dann geheiratet und schlagen jetzt Wurzeln. Die Vorsichtigeren, die Planer, machen es umgekehrt und fangen mit dem Hausbau an, das Kinderzimmer ist vorgesehen.

Plötzlich gerate ich in Runden, in denen über Drempelhöhen gefachsimpelt wird; Fliesenkataloge liegen zur Lektüre aus; Erfahrungen mit Kreditvermittlern werden verschwörerisch ausgetauscht, Kinder in nahegelegenen Reiterhöfen schon mal angemeldet; Berichte von in Küchenstudios verbrachten Wochenenden kursieren.

Ich höre zu, beglückwünsche, wo es angemessen scheint, und wundere mich, wie fern mir das alles ist. Bin ich ein klitzekleines bisschen amüsiert oder in Wahrheit ein klitzekleines bisschen neidisch? Wie es sich wohl anfühlen würde, derart Wurzeln zu schlagen, voller Vertrauen darauf, dass das weitere Leben in genau den Bahnen und auf genau den Bodenfliesen verlaufen wird, die man jetzt gerade auswählt? Ist meine Beschäftigung mit den Großen Fragen in Wirklichkeit nur ein Ausweichmanöver, weil ich mit der Planung einer Küche für den Rest meines Lebens schlicht überfordert wäre? Das Gefühl nicht ertragen könnte, mit meiner Unterschrift auf einem Kreditvertrag mindestens eines meiner Beine auf Jahre im Rachen eines Hais festzubinden?

Vielleicht sollte ich es ausprobieren, mir einen Lottoschein kaufen, das fehlende Geld gewinnen und mich auch sesshaft machen. Ein krummes Häuschen erwerben mit einem Quittenbaum und einem Sandkasten und einer duftenden Rose im Garten und mit einem Schreibzimmer oben im Giebel. Oder wenn ich das in Berlin nicht finde: eine altmodisch geschnittene Altbauwohnung mit Stuck an den Decken und Kinder-trampelt-nicht-so-laut-Dielen und einem Balkon zur Sonne.

Aber im Grunde wäre es doch ein Mensch, bei dem ich Wurzeln schlagen wollte. Ein Ort findet sich. Also ist es wohl am ehesten Traurigkeit – ein bisschen – die ich empfinde, angesichts der vielen Häuslebauerpaare um mich herum. Nicht wegen der eingebauten Dampfgarer und Zinsgarantien und Richtfeste. Sondern wegen der Verbindlichkeit, in der sie all das miteinander teilen.

Von den Inseln

Der Mann, den ich kennengelernt habe, schreibt mir: Wir hüten es gerade so schön zwischen uns… dass es da eine Welt außenrum gibt, ist uns klar. Die Insel scheint uns aber gerade gutzutun.

Dass er das schreibt, hat mit seiner und meiner Unsicherheit zu tun, was meine Kinder angeht. Kennenlernen? Die Zeit ausweiten, in der wir uns sehen können? Oder lieber nicht?

Ich mag das Inselbild, das Spinnen über die Geografie von Beziehungen und Beziehungsmöglichkeiten…

Tatsächlich ist das Leben auf meinem Festland schwierig und turbulent. Da ist keine Stelle frei, da wäre gar kein Platz, kein Raum für jemanden, denke ich manchmal. Nicht für jemanden, der geküsst werden will, wenn ich gerade den total verkrümelten Kühlschrank putze; nicht für jemanden, der die aktuellen politischen Entwicklungen diskutieren möchte, während ich den Alltag einer ganz gewöhnlichen Woche zu organisieren versuche; nicht für jemanden, der Ausflüge plant, wenn ich am Wochenende nichts anderes als umfallen und schlafen möchte. Oder doch? Wäre das alles einfach, einfacher, als ich denke?

Nicht für jemanden jedenfalls, der meinen Söhnen ans Herz wächst, bevor ich mir seines Herzens sehr, sehr, sehr sicher sein kann.

Also lasse ich das Festland lieber hinter mir, ab und zu, setze mich in ein Boot und setze über zu einer Insel.

Natürlich ist die Tektonik von Inseln eine schwierige Frage. Eine Insel kann der sicherste und wirklichste Ort auf der Welt sein, aufgehängt an einem einzigen blauen Faden, über den Ozean zwischen zwei Herzen gespannt. Eine Insel kann der zerbrechlichste Ort auf der Welt sein, fortgespült von der Flutwelle einer einzigen falschen Hoffnung; untergehen wegen des Flügelschlages eines Schmetterlings weit fort, auf einem anderen Kontinent.

Was ich mir wünsche, ist deshalb vielleicht: eine Insel, die allmählich Richtung Ufer treibt. Brücken. Gegenseitige Festlandsbesuche. Zwischen Alltag und Insel nur mehr ein Flüsschen, kein wildes Meer. Eine Beziehung, die sich meinem Alltag annähert, nicht weil in meinem Alltag etwas fehlt, sondern weil das Zusammensein mit jemanden, der zu einem echten Gegenüber wird, sich garnicht beschränken lässt. Das wäre schön.

Ich glaube, es ist zu einfach, wenn den vielen Singles in den Großstädten Beziehungsunfähigkeit bescheinigt wird. Es ist zu einfach, zu unterstellen, wir wollten sowieso nur Affären oder hingen einem völlig unrealistischen Ideal von romantischer Liebe an.

Denn wer alleine lebt, irgendwo in der Mitte des Lebens, der kann und möchte nicht zurück:

Nicht in einen schlechten Kompromiss von Beziehung, denn wir können gut alleine sein. Nicht in eine Beziehung, in der es nur um das Nicht-Alleinsein geht, denn wir haben Freunde. Nicht hinter unsere vorsichtigen Träume von einer großen Liebe, denn was sonst fehlt uns? Das Gespenst des Alterns in Einsamkeit ist noch weit fort, wir haben noch Zeit, es ist zu früh für Verzweiflung.

Wir wünschen uns ein Gegenüber, einen Menschen, den wir – so wie er ist – respektieren und lieben können; einen, der uns sieht, all das sieht, was so gern gesehen werden möchte; der uns dadurch zu dem  Menschen macht, der wir gern wären. Und der bleibt.

Aber danach, nach einem solchen Traum, darf man nicht suchen. Lieber jemanden finden, mit dem eine Insel sich teilen lässt, die winternächtliche Stadt, ein gelber Mond, ein Glas Wein, Zärtlichkeit. Alles andere ist ein Wunder. Es geschieht, oder es geschieht nicht.