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Der Duft der Freiheit

Der weiße Sonnenschirm führt übers Jahr ein zurückgezogenes Leben auf dem Balkon des Hannoverliebsten.

In diesem Sommer aber durfte er im Kofferraum des grünen Autos nach Dänemark reisen und das dänische Ferienhausleben kennenlernen.

Das Meer hat es dem weißen Sonnenschirm angetan.

So fest man ihn auch im Sand zu verankern sucht, er nutzt jede Windböe, um sich kopfüber Richtung Wasser aufzumachen.

Stellt man ihn abends zum Trocknen an den Holzzaun, der einen Sichtschutz zwischen unserer Terasse und der Straße bildet, macht er sich mit einem gewagten Kopfsprung über den Zaum meerwärts selbständig.

Am Ende bleibt uns nichts übrig, als ihn – damit er trocken genug wird, um zusammengeklappt auf sonniges Wetter zu warten – ins Trampolin zu sperren, wo er sich die Nase sehnsüchtig an der meerwärtigen Seite des Netzes plattdrückt.

Lässt der Wind nach, hüpft er heimlich ein wenig, wo sonst die Jungs springen.

Bevor er ganz getrocknet ist, kommt der nächste Regenschauer.

Lagom

Die ganz große Schwester zitiert am Strand Astrid Lindgren, und Wikipedia weiß es ganz genau: Lagom bedeutet so viel wie „gerade richtig“, eben nicht zu viel und nicht zu wenig – so wie ein, da kommt der schwedische Begriff möglicherweise her – Trinkhorn, das für jeden der ums Feuer lagernden Wikinger gerade einen gerade richtig großen Schluck Bier oder Met enthält.

Lagom ist das Trampolin im Garten des Ferienhäuschens. Unser Esstisch unter der überdachten Terasse, die kleinen Wellen, die die Ostsee am Morgen ans Ufer schwappen lässt, und später der milde Sonnenschein und der warme Sand. Lagom ist auch die Menge der Menschen am Strand – ganz anders als in Warnemünde, wo wir gestern von der Fähre aus den Strand sehen konnten, dicht an dicht besetzt. Genau richtig weit schwimmen wir ins Meer hinaus, das immerhin beinahe lagom warm ist.

Lagom ist unser Blick ins Grüne; die Wiese zwischen Haupthaus und Annex ist lagom gemäht und mit gelben Blütenköpfchen bewachsen; und die neun Frühstücksbrötchen vom Campingplatzbäcker sind lagom, nicht ein Krümel zu wenig, nicht ein Krümel zu viel. Dass der Bäcker genau das eine Päckchen Kaffeefilter vorrätig hat, das in unserem Ferienhaus fehlt, ist lagom, genauso wie die Erdbeermarmelade lagom süß ist, der Frühstückskaffee lagom stark und der kleine Text, den die ganz große Schwester vorliest, lagom kurz.

Lagom ist der Duft der beiden Kiefern neben dem Annex, in denen der Fünfzehnjährige klettert, und die Frische der Luft nach dem Regen, der gerade lange genug dauert, um den Ferienhausgarten zu wässern und die Pollen aus der Luft zu spülen.

Einen ganzen Tag lang darauf achten, was genau richtig ist.

Up and away

Am Morgen ziehe ich nach einem Blick in die Wetterapp die lange Strumpfhose doch wieder aus und stecke sie noch schnell oben in die große Kraxe, bevor ich die aufhucke und die Tür hinter mir ins Schloss ziehe.

Mittags packe ich in einer Büroarbeitspause die dünne Windjacke aus und die mitteldicke Winterjacke ein.

Um halb vier gehe ich schwer bepackt, aber frohlockend an den Türen der Vollzeitkollegen vorbei zum Aufzug und hinaus in die Sonne.  Am Gesundbrunnenbahnhof steige ich in den Zug, in dem der liebste Freund sitzt und uns zwischen den Eberswalde-Pendlern Plätze freigehalten hat.

Voll ist der Zug am Donnerstagnachmittag! Und ich schaue so gern Menschen an. Gegenüber ein Student – vielleicht – der auf seinem Laptop etwas liest und sich gleichzeitig mit einem elektronischen Stift handschriftliche Notizen auf einem Tablet macht, dass er auf der Tastatur seines Laptops abgelegt hat. Die Dame neben ihm liest mit schreckverzerrtem Gesicht eine Ausgabe von pm mit dem Titel „Gefährliche Sonne“. Ein überforderter Vater im weißen Simpsons-T-Shirt macht abwechselnd Quatsch mit seinen Kindern – einem Mädchen im Kindergarten- und einem Jungen im Vorschulalter – und schreit sie zwischendurch, genervt von der Hitze und der Enge des Zuges, immer wieder böse an. Eine Dame in Marineblau runzelt missbilligend die Stirn und wechselt das Abteil, sobald mehr Plätze freiwerden.

Draußen stehen hellbraune Kühe auf Weiden und ein Auto mit offener Heckklappe auf einem Hügel neben einem hölzernen Picknicktisch. Ein wilder Landschaftsmaler hat unwirklich strahlendes Rapsgelb großflächig in die Felder gestrichen.

Das Anzeigesystem des Zuges ist davon ganz durcheinander und kündigt uns Kiesow, Greifswald Süd und Ferdinandshof an, obwohl wir uns doch Chorin, Angermünde und Prenzlau nähern. Live-Durchsageversuche des Zugpersonals gehen im wiederkehrenden Glockenton unter, der sie eigentlich ankündigen soll.

Weil es keinen Empfang gibt, male ich dem liebsten Freund eine gefühlte Karte unseres Reiseverlaufs in mein Notizheft. Als ich wieder aufblicke, hat eine junge Frau angefangen, nett mit den Kindern des überforderten Vaters zu schwatzen. Der hat plötzlich ein schwarzes Simpsons-T-Shirt an, straht die junge Frau an wie eine Heiligenerscheinung und ist von nun ganz entspannt. Der liebste Freund packt die Kaffeekanne, süße Teilchen, Käse, Wurst und Brötchen aus, und wir krümeln glücklich die Sitze voll, bis die Zugbegleiterin vorbeikommt und den Austausch unseres Zuges in Prenzlau ankündigt.

Zwei Stunden später sind wir angekommen und schließen unsere Ferienwohnung auf, die ein bisschen mehr „unsere“ und sofort ein wenig wie zu Hause ist, weil wir hier letztes Jahr schon gewohnt haben. Es gibt das rote Sofa noch und den Großelternsessel, die vielen Spiegel und die Glasteller und die seltsame Küchenlampe und wie letztes Jahr Erbsensuppe aus dem Schlauch und dann das Meer, das kalt ist und rauscht, und ein großzügiges Abendrot, das sich hell in den ruhigen Lachen am Strand spiegelt, die die Wellen nur manchmal erreichen. Und als wir das Abendrot beinahe erreicht haben und uns umdrehen, um zurückzulaufen, steht im Dunst hinter der Seebrücke der Vollmond, dick und orange.

Urlaub, doppelt konzentriert

Für das Ostseewochenende mit dem liebsten Freund schleiche ich mich am Freitagnachmittag zwei Stunden früher aus dem Büro weg. Dort türmen sich Mehrarbeit, Chaos und Überforderung zu Druck und Überstunden auf, das lässt garnicht mehr nach.

Im Zug bin ich mit dem Kopf noch in Berlin, obwohl draußen schon Felder mit Milchkaffeekühen vorbeiziehen; die Häkelwolle verheddert sich, rechts und links nur Regen.
An der See kann ich den Alltag hinter mir lassen.
Unsere Ferienwohnung erweist sich als Glücksgriff – und am Samstagmorgen ist der Himmel ganz blau. Als der Rezeptionist des großen Hotels, das als einziges schon Strandkörbe draußen hat, uns wegschickt, weil die für die Hotelgäste reserviert sind, lässt eine übermütige kleine Glückssträne uns unter den Hotelstrandkörben einen entdecken, bei dem ein freundlicher Rebell die drei Schrauben gelöst hat, mit denen der Blechstreifen befestigt war, an dem das Schloss hängt, mit dem das Holzgitter vor dem Strandkorb fixiert wird. Werden sollte.

Es macht doppelt Freude, in diesem Strandkorb zu sitzen, den Wind im Rücken, die Sonne im Gesicht, der Tauchglocke zuzusehen, die in mediativer Langsamkeit neben der Seebrücke unter- und wieder auftaucht. Die interessantesten Stellen aus Yuval Hararis „Kurze Geschichte der Menschheit“ lese ich dem liebsten Freund vor, der mich tröstet und Gegenargumente weiß, als Harari konstatiert, dass nach der Steinzeit eigentlich alles nur schlechter geworden ist.

Für die Therme ist das Wetter viel zu schön. Aber es wird zu unserem Ritual, an der großen Glasfront der Schwimmhalle entlangzulaufen, wann immer wir auf dem Weg zur Ferienwohnung oder zum Strand sind, den Schwimmern einen Moment zuzuschauen und uns über das sprachlich großartig danebengegangene „All inclusive ligth plus“ Angebot des Hotels zu freuen, das auf einem großen Plakat an dem Zaun angepriesen wird, der das Außenbecken ein wenig – aber nicht ganz – vor neugierigen Blicken schützt.

Beim Fischbrötchenessen sitzen wir in der Sonne. Beim Spazierengehen ziehe ich die Schuhe aus, als ob Sommer wäre; am Abend gibt es Mondschein am Strand und den großen Wagen mitten am Sternenhimmel und am Sonntagmorgen Brötchen aus der Bäckerei, in der die Einheimischen anstehen.

Ein ganzer Urlaub in zwei Tagen.

Auf gepacktem Koffer

Die Woche ist – wie die meisten kinderlosen grad – arbeitsam.
Im Büro wird es immer sehr schnell fünf, länger mag ich nicht mit Teilzeitgehalt, das muss Ausnahme bleiben. Die Telefonkonferenzendichte steigt weiter, die Bürokollegin, mit der ich inzwischen so gerne zusammensitze, ist krank; wenn sie wiederkommt, muss sie umziehen, das ist schade. Ihre Lebendigkeit wird mir fehlen, wenn da gegenüber demnächst ein schweigsamer Mann sitzt, mit dem über Kindererzieung, Liebesdinge, Gottunddiewelt und den täglichen Alltagsfrust nicht gut reden ist.

Nach der Arbeit muss dies und das besorgt werden; Kleidung für den Elfjährigen und ein Geschenk, dass er seinem Vater zu seinem Geburtstag geben kann; auch ein Geschenk für einen Kindergeburtstag (einen IKEA-Gutschein wünscht der Knabe sich, nun gut, also passendes blaues Papier her und ein gelbes Bändchen, und ein kleines Spiel, damit es nicht zu schnöde wird). Das Chaos der letzten Kinderwoche muss beseitigt, die nächste schon mal bedacht werden; wenigstens den Wocheneneinkauf will ich schon machen, das erste von vielen Frühlings-Reisewochenenden steht vor der Tür.

Bei alledem habe ich ein großes Bedürfnis nach Stille. Mache die Bürotür zu und sperre das Gelächter nebenan aus; wende in der S-Bahn den Kopf ab und starre aus dem Fenster, die Leute riechen diese Woche alle so schlecht, nach Schweiß und Bier, Knoblauch und Verdauung, und sie sind viel zu laut. Es ist schön, abends endlich an meiner S-Bahn-Station auszusteigen. Hier ist es viel stiller. Ein Auto entfernt sich, die S-Bahn fährt ab. Schritte auf dem Bürgersteig, jemand hustet aus einem geöffneten Fenster, ein Vogel singt.

Weil der liebste Freund mit erzählt hat, dass die Erde ins Trudeln gerät, wenn die Polkappen abschmelzen, träume ich in der Nacht von einem starken Erdbeben, das mich in einem Urlaub – Jugendherberge mit DDR-Einrichtung – überfällt. Der ganze Berg steht hinterher schief, zu steil, um noch hinaufzusteigen. Ich räume brav den umherliegenden Müll weg und wache erst dann auf.

Und am Wochenende fahren wir ans Meer, der liebste Freund und ich.
Da war ich noch nie im Frühling.
Da waren wir noch nie gemeinsam.

Ich melde mich von meinem Freitag-Nachmittags-Call ab, stecke die dicken Wintersachen ein und den Badeanzug und ein Buch und Schokolade, bitte die Erde, noch nicht an diesem Wochenende ins Trudeln zu kommen, gebe dem Elfjährigen Order, die frisch pikierten Tomatenpflänzchen zu gießen, bade ausgiebig, fülle den Kühlschrank mit Vorräten und kaufe eine Fahrkarte für die Verbindung mit – ach – gefühlten dreizehn Umstiegen. Bis ans Meer.

Reif für die Insel: Urlaubsalltag

Es ist lustig und erstaunlich, wie schnell ein Urlaub seine eigenen kleinen Routinen hervorbringt. Sind wir Menschen so sehr Gewohnheitstiere, dass kleine Rituale um uns entstehen, wo immer wir uns bewegen? Oder geht das nur mir so?
Hier fängt der Tag mit dem Gelächter der Möwen an, die um halb sieben auf dem Dach gegenüber ihre Tagesbesprechung abhalten. Während die Jungs duschen, räume ich unser Zimmer auf und fege eine kleine Sanddüne zusammen. Dann gibt es eine kleine Rummycub-Runde vor dem Frühstück, die der Zehnjährige gewinnt, weil ich noch keinen Kaffee hatte.
Mittags liebe ich es, die Tasse Kaffee wiederzuentdecken, die ich morgens aus dem Speisesaal habe mitgehen lassen.
Zur Abendroutine gehört die halbe Stunde auf dem Spielplatz und die halbe Stunde am Kickertisch, den die anderen Familien offenbar garnicht entdeckt haben. Ich lese ein Paar Seiten von den „Ferien auf Saltkrokan“ vor und stricke draußen auf der Bank noch ein paar Runden, wenn die Jungs schlafen. ‚Immer noch nicht fertig?‘ fragt die ältere Frau, die jeden Abend vorbeikommt, und ich antworte jeden Abend mit einem gelassenen ‚Nö.‘ Und schaue zum Abendhimmel und bin sehr froh, im Urlaub zu sein.

Reif für die Insel: Allein

Es ist ok, mit meinen Söhnen hier allein zu sein. Gegen das, was fehlt, rechne ich auf, dass es das Bedauern nicht gibt, mit denen ich manchmal zurückgeblieben bin, wenn die Leute, mit denen wir Urlaub gemacht haben, Lust auf Unternehmungen hatten, die ich wegen der Jungs nicht mitmachen konnte. Hier geht es nur um uns drei – und dass ich Abendandacht, Inselumrundung, Massage, Strandyoga und Parkkonzert nicht besuchen kann, ist irgendwie egal.
Ersteinmal bleiben wir auch unter uns.
Am Nebentisch eine Großfamilie, ein Paar Großeltern, drei Paar Eltern, jede Menge Kleinkinder. Die Erwachsenen streiten sich wegen der Betreuung der Kinder und  sagen freundlich „Hallo“, wann immer wir uns auf dem Gang sehen.
Die nach uns angekommenen Familien werden an einen Tisch zusammengesetzt und kriegen deshalb automatisch Kontakt – mehr, scheint mir, als der Frau lieb ist, die dort als einzige einen Mann dabei hat.
Wir bleiben an unserem Einzeltisch platziert. Vielleicht mag man hier keine Berliner?
Im Schwimmbad treffen wir dann welche. Das Mädchen aus dem Prenzelberg spielt mit dem Zehnjährigen, bis es zum Mittagessen muss. Und ein zukünftiger Klassenkamerad des Sechsjährigen ist auch da. Prima.
Mir selber reicht es völlig, ein paar gelegentliche nette Bemerkungen oder auch nur freundliche Hallos auszutauschen. Ist das besorgniserregend? Nein, entscheide ich. Ich habe besorgnisfrei. Ich habe Urlaub.

Reif für die Insel: Sommerregentag

Nordsee ist eigentlich wie Ostsee, bloß nicht da. So jedenfalls kommt es mir am ersten Abend vor, als wir über die Dünen klettern und die braune Schlickerfläche vor uns haben, die dann wohl das Watt ist.
Als wir am nächsten Morgen aufwachen, ist der Himmel grau, und Regenrauschen begleitet das morgendliche Ermahnungsgeplätscher an den Familientischen im Frühstücksraum. Die Regenpausen reichen, um am Strand – schon wieder Ebbe – ein Paar Murmelburgen zu bauen und dem Wasser beim Zurückkehren zuzuschauen. Wie schnell es unsere Gummistiefel umspült, unsere schnell aufgeschaufelten Schutzwälle wegschwemmt, sich gurgelnd in den Boden saugt! Sowas kann die Ostsee dann doch nicht.
Nachmittags ist die Kinovorstellung ausverkauft, als wir noch vor dem Kino in der Schlange stehen. Also lassen wir im Kurpark beim Spielfest auch die langen Ersatzhosen nassregnen. Abends beim Krimi im Aufenthaltsraum fühle ich mich dann doch einsam. Aber dann stürmt und gewittert es, und da gehe ich lieber mal zu den Jungs ins Zimmer. Schlafen. Halb sieben geht der Tag ja wieder los.

Ein paar Momente noch

Gegen Ende unserer drei Kurwochen nochmal intensive Tage. Wolken und Sturm: Der Wind heult in den Tauen, von denen die Masten der Segelbote im Hafen gehalten werden. Die Fischer, die im Windschatten der Imbissbude ihren Kaffee trinken, freuen sich am Anblick einer Frau, die neben der Hafenmole nackt ins Wasser watet. Riesige Möwen lassen sich geschickt vom Wind tragen, unsere Drachen gewinnen nur kurz an Höhe und stürzen im Sturm immer wieder ab. Dann wieder strahlende Tage, Sonne und Wind im perfekten Verhältnis, tiefblaues Wasser und weicher Sand. Nahezu karibische Gefühle kommen auf – auch wenn die Bäume hinter den Dünen Kiefern und die leuchtenden Blumen, die die Strandzugänge säumen, Wegwarten sind. Abends vergleichen die Mütter im Speisesaal ihre rotgebrannten Schultern.

Jedenfalls die Mütter, die noch miteinander reden. Allmählich treten die Eigenheiten der Frauen und Kinder stärker hervor, unsere Ecken und Kanten. Grüppchen haben sich gebildet. Am Rauchertisch draußen wird besprochen und ausgewertet. Mutter A lässt ihre Kinder vor dem Speisesaal toben, ist aber überzeugt, dass die Kinder von Mutter B angefangen haben. Mutter B sieht das genau umgekehrt. Mutter C ist beleidigt, weil die Kaffeemaschine den Geist aufgibt, als sie sich ihren Frühstückskaffee holen will; Mutter D wurde beobachtet, wie sie ihrem Sohn einen Klaps auf die Finger gab. Kind E grüßt nicht höflich, Kind F – das ist mein Achtjähriger – schlägt zwar niemandem einen Zahn aus, dafür aber einem anderen Kind, das sich unserer Uno-Runde anschließen will, die Tür vor der Nase zu. Die ersten Frauen fangen an, sich nach Hause zu sehnen, fort von den nervenden Mitmüttern, hin zu ihren nicht mitgereisten Kindern, zu ihren Ehemännern.

Männer, ach ja! Bei gelegentlichen Spaziergängen durch den Ort sehen wir Paare – und schauen diese Existenzform nach beinahe drei Wochen Kur für einen kleinen Moment genauso irritiert an, wie wir allein mit unseren Kindern herumziehenden Kurfrauen von ihnen betrachtet werden. Nach der Alleinerziehendengesprächsrunde ist mein Blick auf die glücklichen Familien anders. Wird der Mann, der vor dem Eiscafé seinen Kindern beim Toben zusieht, eines Tages eine andere Frau kennenlernen? Wird der goldblondierten Mutter neben ihm spätestens dann endgültig das Herz brechen, wenn er den gemeinsamen Sohn zum ersten Mal mit in einen Urlaub mit der neuen Frau nimmt? Wird der Vater, der sein Baby im Sand routiniert aus dem Tragetuch hebt, vom zweiten Kind so überfordert sein, dass er die Familie verlässt und wenige Jahre später nur noch gelegentlich Freitagabends halbherzig am Telefon anbietet, dass die Kinder ja heute mal bei ihm übernachten könnten?

Wir überlassen die Familien ihrem Urlaubsglück, solange es anhält; wir gehen weiter. Ich habe abzuarbeiten, was ich meinen Kindern leichtherzig versprochen habe, als noch viel Zeit vor uns lag. Nochmal auf dem Abenteuerspielplatz toben. Beim Quarkladen schlemmen. Ein Fahrrad für den Vierjährigen ausleihen, mit dem Achtjährigen einmal allein schwimmen gehen.

Als die Kinder endlich schlafen, sind meine Wünsche an der Reihe. Nochmal in die Sauna, ein paar Runden in der Schwimmhalle drehen, das Licht ist schon abgeschaltet, vor den Panoramafenstern schiebt der Wind die Wolken zusammen, bis sie den halben Mond durchscheinen lassen. Noch nicht überlegen, wo ich das Klebeband für die Kisten hingelegt habe, die per Post nach Hause geschickt werden. Noch ganz hier sein, ein paar Momente noch.

Halbzeit im Paradies

Wir haben uns eingelebt. Routiniert laufen 100 Frauen durchs Haus: Von den Speisesälen zur Physiotherapie, vom Bastelraum in die psychologische Abteilung, vom Kinderland zum Bewegungsbad, von der Rezeption – wo es immer irgendetwas zu bezahlen, zu erfragen oder in eine Liste einzutragen gibt – zum Waschmaschinenraum.

Aus Frauen, die in den ersten Tagen noch so wirkten, als wären sie alle in einem ziemlich perfekten Leben zu Hause, werden Menschen mit Namen und Geschichten. Hier und da sogar Freundinnen, vielleicht. Wir sitzen gemeinsam im Vortrag über ADHS, wir ächzen nebeneinander auf der Matte bei gymnastischen Übungen, die uns an lange vergessene Muskelpartien erinnern. Wir treffen uns am Abend und erzählen.

Manchmal ist das schön. Manchmal ist es ein wenig traurig, aber ich wusste ja, dass es auch das geben würde: Wenn die Familienmütter sich über die Berufe ihrer Männer, die Hausbesitzerinnen über Kaminholzpreise austauschen. Dann freue ich mich auf die Gesprächsrunde der Alleinerziehenden. Warum sind von denen nur so wenige hier?

Dafür bin ich diejenige, die ihre Kinder für einen ganzen Tag an ihren Vater abgeben kann, als der uns am Wochenende besucht. Ich gehe wandern, allein. Höre den Lerchen über den Feldern und den Grillen am Wegrand zu, zähle 37 Sorten Blumen, scheuche im Wald eine Kreuzotter auf, komme vom Weg ab, finde einen menschenleeren Strand mit einem Eisverkäufer – und eine Münze in meiner Hosentasche. Gehe schwimmen. Laufe am Wasser entlang, hänge meinen Gedanken nach.

Niemand, den ich in diesen drei Wochen schmerzlich vermisse. Niemand – in diesem Jahr – der mich von Ferne verletzen, meine Abwesenheit von Berlin nutzen könnte, um sich von mir loszusagen. Meine Hoffnungen mache ich mir dieses Mal selbst, meine Listen mit Träumen und guten Vorsätzen, abends, wenn ich von meinem Zimmer aus dem Sonnenuntergang zusehe. Es sind – in diesem Jahr – keine steinernen Herzen zu sammeln, keine leuchtendbunten Bänder in einen Wunschbaum zu knüpfen.

Stattdessen Sport am Morgen, Massagen am Mittag, autogenes Training am Nachmittag – die monotonen Anweisungen der Kursleiterin immer wieder unterbrochen von leisen entspannten Schnarchern. Im Bewegungsbad üben meine Söhne begeistert das Schwimmen; am Strand bauen wir von Tag zu Tag höhere Burgen mit immer komplizierteren Bahnen für die Murmeln, die wir gekauft haben; Uno haben wir schon so viel gespielt, dass auch der Vierjährige nicht mehr weint, wenn er acht Karten auf einmal ziehen muss.

Was für ein großartiger Kurgang, haben die Mitarbeiter am Anfang gesagt, was für liebe Kinder Sie alle haben. Inzwischen schreien die Kinder im Speiseraum und jagen in den Gängen vor den Wohneinheiten kreischend ihre Freunde. Auch die Kinder des nächsten Kurganges werden in den ersten Tagen schüchtern und leise sein; ihre Mütter darauf bedacht, einen guten Eindruck zu machen. Wir, die nun schon einige Zeit hier sind, sind inzwischen entspannt: Wir kommen auf den letzten Drücker zum Frühstück, wir schlappen im Bademantel durchs Haus. Wir wollen an den Strand statt in den verordneten Vortrag, wir trinken ein Glas Wein zu viel, sitzen doch wieder zu lange in der Sauna, um am nächsten Morgen ausgeschlafen zu sein. Wir haben Halbzeit.

Wir würden gerne länger hier bleiben.