Wir haben uns eingelebt. Routiniert laufen 100 Frauen durchs Haus: Von den Speisesälen zur Physiotherapie, vom Bastelraum in die psychologische Abteilung, vom Kinderland zum Bewegungsbad, von der Rezeption – wo es immer irgendetwas zu bezahlen, zu erfragen oder in eine Liste einzutragen gibt – zum Waschmaschinenraum.
Aus Frauen, die in den ersten Tagen noch so wirkten, als wären sie alle in einem ziemlich perfekten Leben zu Hause, werden Menschen mit Namen und Geschichten. Hier und da sogar Freundinnen, vielleicht. Wir sitzen gemeinsam im Vortrag über ADHS, wir ächzen nebeneinander auf der Matte bei gymnastischen Übungen, die uns an lange vergessene Muskelpartien erinnern. Wir treffen uns am Abend und erzählen.
Manchmal ist das schön. Manchmal ist es ein wenig traurig, aber ich wusste ja, dass es auch das geben würde: Wenn die Familienmütter sich über die Berufe ihrer Männer, die Hausbesitzerinnen über Kaminholzpreise austauschen. Dann freue ich mich auf die Gesprächsrunde der Alleinerziehenden. Warum sind von denen nur so wenige hier?
Dafür bin ich diejenige, die ihre Kinder für einen ganzen Tag an ihren Vater abgeben kann, als der uns am Wochenende besucht. Ich gehe wandern, allein. Höre den Lerchen über den Feldern und den Grillen am Wegrand zu, zähle 37 Sorten Blumen, scheuche im Wald eine Kreuzotter auf, komme vom Weg ab, finde einen menschenleeren Strand mit einem Eisverkäufer – und eine Münze in meiner Hosentasche. Gehe schwimmen. Laufe am Wasser entlang, hänge meinen Gedanken nach.
Niemand, den ich in diesen drei Wochen schmerzlich vermisse. Niemand – in diesem Jahr – der mich von Ferne verletzen, meine Abwesenheit von Berlin nutzen könnte, um sich von mir loszusagen. Meine Hoffnungen mache ich mir dieses Mal selbst, meine Listen mit Träumen und guten Vorsätzen, abends, wenn ich von meinem Zimmer aus dem Sonnenuntergang zusehe. Es sind – in diesem Jahr – keine steinernen Herzen zu sammeln, keine leuchtendbunten Bänder in einen Wunschbaum zu knüpfen.
Stattdessen Sport am Morgen, Massagen am Mittag, autogenes Training am Nachmittag – die monotonen Anweisungen der Kursleiterin immer wieder unterbrochen von leisen entspannten Schnarchern. Im Bewegungsbad üben meine Söhne begeistert das Schwimmen; am Strand bauen wir von Tag zu Tag höhere Burgen mit immer komplizierteren Bahnen für die Murmeln, die wir gekauft haben; Uno haben wir schon so viel gespielt, dass auch der Vierjährige nicht mehr weint, wenn er acht Karten auf einmal ziehen muss.
Was für ein großartiger Kurgang, haben die Mitarbeiter am Anfang gesagt, was für liebe Kinder Sie alle haben. Inzwischen schreien die Kinder im Speiseraum und jagen in den Gängen vor den Wohneinheiten kreischend ihre Freunde. Auch die Kinder des nächsten Kurganges werden in den ersten Tagen schüchtern und leise sein; ihre Mütter darauf bedacht, einen guten Eindruck zu machen. Wir, die nun schon einige Zeit hier sind, sind inzwischen entspannt: Wir kommen auf den letzten Drücker zum Frühstück, wir schlappen im Bademantel durchs Haus. Wir wollen an den Strand statt in den verordneten Vortrag, wir trinken ein Glas Wein zu viel, sitzen doch wieder zu lange in der Sauna, um am nächsten Morgen ausgeschlafen zu sein. Wir haben Halbzeit.
Wir würden gerne länger hier bleiben.