Die Ostertage verbringe ich mit dem Neunjährigen in Thüringen bei meinen Eltern.
Wir besuchen das Pferd von Freunden, das wegen dem Osterfeuer in Sichtweite des Stalls ganz außer sich ist; wir gehen ins Schwimmbad, wo ich alte Schulfreunde wiedertreffe und der Neunjährige ganz nebenbei seine Seepferdchenprüfung ablegt; wir fahren mit meinem Vater raus aufs Dorf, dahin, wo ich aufgewachsen bin, und klettern in der Kirche auf wackeligen Stiegen hoch bis zu den Glocken, bis dahin, wo man die Turmfalkenküken piepsen hört. Ach, ist das schön hier. Wie das wohl wäre, hier zu leben? –
Und wir wollen eine Freundin besuchen, die wir im letzten Sommer auf der Kur kennengelernt haben. In Kölleda.
Vorausschauend habe ich mir am Weimarer Bahnhof alle in Frage kommenden Verbindungen ausdrucken lassen. Mitleidig hat die Schalterfrau mich angesehen, als sie mir die Ausdrucke – mit einem matten: viel Glück! – in die Hand drückte. Wieso nur?
Vom Eise befreit sind Fluß und Bäche, trotzdem ist es schneidend kalt, als wir uns frohgemut auf den Weg zum Stadtbus machen, der zum Überlandbus-Busbahnhof fährt. Ich beglückwünsche mich dazu, dass ich den Ostersamstagsvormittag damit verbracht habe, schon eimal zum Busbahnhof zu fahren und herauszufinden, ob der Bus von Weimar nach Kölleda tatsächlich fährt. Deshalb weiß ich jetzt schon, dass er mitnichten zusammen mit den anderen Bussen an der Anzeigetafel angeschrieben stehen wird – oh nein, er wird ja nicht von der Weimarer, sondern von der Sömmerdaer Busfirma betrieben. Außerdem weiß ich schon, wo der Bus abfahren wird und dass er wegen der Vollsperrung der Straße nach Kölleda Verspätung haben wird.
Als der kleine Bus endlich kommt – ein besseres Ruftaxi mit 17 Sitzen – haben mein Sohn und ich ihn ganz für uns allein. Niemand außer uns wird Zeuge, wie der Fahrer auf schmalen, gerade achsenbreit betonierten Wirtschaftswegen die Vollsperrung umgeht. Niemand außer uns genießt den Blick auf Thüringens grüne Hügel – obwohl mein Sohn den auch nicht so recht genießt, dem ist schlecht. Ich falte schnell das unsäglich hässliche Malheft aus dem ICE zu einer Brechtüte zusammen, zum Glück brauchen wir sie nicht.
Wir verbringen einen herrlichen Nachmittag mit unseren Freunden.
Und dann müssen wir wieder zurück. Der Bus fährt nur zweimal am Tag – morgens und mittags. Aber es gibt ja auch Züge! Und sogar einen Bahnhof! Ach ja, ruft meine Kurfreundin, stimmt ja, den hatte ich ganz vergessen, ich bin hier noch nie Zug gefahren. Zum Glück weiß sie, wo der Bahnhof ist, und fährt uns hin. Dochdoch, sagt sie, als wir vor dem verfallenen Bahnhofsgebäude stehen, durch dessen kaputte Fenster Taubenschwärme ein- und ausfliegen. Das ist er wirklich! Wir müssen eine leicht schaurige Unterführung nehmen, die uns unter einem aus dem Wiesen- ins Waldstadium übergehende Brachgelände hindurch zu einem Gleis inmitten der Wildnis führt. Vom Bahnsteigdach stehen nur noch die rostigen Träger. Ein kleiner, gelber Abfahrtsplan ist das einzige Zeichen dafür, dass hier – zwischen halbwüchsigen Birken und hohem Gras – Züge verkehren.
In der Pfefferminzbahn – so nennt sich der kleine Triebwagen stolz, der ganz planmäßig angezockelt kommt – sind wir nicht ganz allein. Ein mürrischer Fahrgastzahlenerhebungsangestellter sitzt da und füllt ganz große Tabellen mit ganz kleinen Zahlen aus. Weil der Automat meinen Geldschein nicht schluckt, spreche ich ihn an. Na, da haben Sie sich Ostergeld verdient, sagt er, hier ist keiner, der ihnen einen Fahrschein verkaufen könnte.
Mit der Pfefferminzbahn kommen wir bis nach Großheringen, das zwar nicht zwischen Weimar und Kölleda liegt, aber eine Umsteigemöglichkeit in die Regionalbahn bietet. Wir nutzen die Dreiviertelstunde Aufenthalt an diesem Knotenpunkt, um den Bahnhof zu verlassen und ein paar Schritte in den Ort zu gehen. An der Straße ein Brunnen, der den Zusammenfluß von Saale und Ilm symbolisiert, mit Figuren spielender Kinder und mit Figuren von Fröschen, die sich heftig ihren Frühlingsgefühlen hingeben. Daneben eine Halle, in der ein paar Tische und Stühle Wartesaalatmosphäre verbreiten. Leider abgeschlossen. Große Schautafeln hinter den Glaswänden. Zwei zeigen Fotos von der großen Flut 2013. Die anderen beiden sind „Großheringen – 20 Jahre Wende“ und „Junges Wohnen in Großheringen“ übertitelt. Auf den Fotos – schief und verblichen – sind Häuser vor und nach ihrer Sanierung – oder ihrem Abriss – zu sehen. Ein Schild in der Ecke: „Dieses Projekt wird von der EU ko-finanziert.“
Nein, entscheiden wir, das kann hier nicht Großheringen sein. Bestenfalls Kleinheringen. Dass die Einwohner Freude daran haben, während unserer Wartezeit auf drei verschiedenen, sehr schicken Quads mehrfach die Hauptstraße auf- und abzubrausen, macht den Eindruck nur unwesentlich besser.
Der Fahrgastzahlenerhebungsangestellte sitzt friedlich in der Abendsonne am Brunnen und löffelt einen Joghurt. Wir imbissbudenverwöhnten Berliner kriegen auch Hunger. Zum Glück steckt tief unten in meinem Rucksack ein Tütchen Schokoeier, die wir eigentlich bei unseren Freunden verstecken wollten. Wie gut, dass wir das vergessen haben.
Auch hier kein Fahrkartenautomat oder gar -schalter. Stattdessen auf der Tür unserer Regionalbahn großgedruckt das Verbot, ohne gültigen Fahrausweis einzusteigen. Drin haben die Halenser Fußballfans gewütet, es riecht nach Bier, die Scheibe der Zwischentür lehnt traurig im Gang. Bis Weimar zeigt sich weder Schaffner noch Schaffnerin. Mein Sohn hält die Hand aus dem Fenster in den abendlichen Fahrtwind. Und ich freue mich auf Berlin.
Thüringen ist wunderbar. Freundliche Menschen in teils sehr hübschen Orten. Goethe, Schiller, Kultur, Ko-Finanzierung durch die EU, schnittige Quads und alles, was das Herz begehrt. Außer einem vernünftigen ÖPNV.