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Wie ich beinahe – aber nur beinahe – Stehpaddeln lernte

Meine ganz große Schwester und ich verfügen beide über ein besonderes Talent. Es hat gaaanz sicher nichts mit Spaßverderben zu tun – aber erzählt uns von einem Plan, und wir finden die Schwachstellen. Uns fällt alles ein, was schiefgehen könnte, und wir sind gerne bereit, den Plan – damit auch ganz sicher doch nichts schiefgehen kann – bis zur Undurchführbarkeit zu verkomplizieren.

Mit einem solchen Talent spontan und übermütig zu sein, ist ganz schön schwierig.

Neulich in Warnemünde fiel mir in der Tourist-Information ein Flyer in die Hand. Auf dem Flyer wurde für Einführungskurse in das SUP-Paddeln geworben. Der Laden des Anbieters war gleich um die Ecke, und ich hatte das Gefühl, schon lange nichts wirklich Lustiges, Mutiges, Unerwartetes mehr gemacht zu haben. Ich tarnte meinen Übermut als patentantliche Großzügigkeit, lud die große Patennichte zu einem Einführungskurs ins SUP-Paddeln ein und meldete uns an.

Am Morgen des Tages, an dem wir uns aufs Wasser begeben sollten, wachte ich mit einem mulmigen Gefühl auf. Würde ich im Neoprenanzug schrecklich aussehen? Pausenlos ins Wasser fallen? Nicht wieder aufs Paddelbrett kommen? Zum Gespött aller Strandbesucher werden? Nein, redete ich mir gut zu, das mache ich jetzt. Das ist lustig. Das wird Spaß machen. Ich werde etwas zu erzählen haben. Ich werde etwas lernen, von dem ich noch vor zwei Tagen gedacht habe, dass ich es garnicht lernen will – oder kann.

Am Mittag des Tages, an dem wir uns aufs Wasser begeben sollten, gingen wir sicherheitshalber nochmal in dem Surfladen vorbei, um zu fragen, was man unter so einen Neoprenanzug denn in dieser Saison so trägt, und erfuhren, dass wir wegen des schönen Wetters keinen Anzug, sondern nur ein UV-Schutz-Shirt bekommen würden.

Ich übte mich still in Bauchatmung und redete mir insgeheim gut zu: Ich mache das jetzt, ich will endlich mal wieder etwas ganz Lustiges machen, das haben doch schon andere vor mir hinbekommen, ohne sich gleichzeitig einen Sonnenbrand UND eine Blasenentzündung zu holen. Das wird schon gutgehen. Und außerdem freut sich doch die Patennichte jetzt drauf!

Aber auch meine ganz große Schwester hatte das mit den UV-Shirts gehört. Und begann sich Sorgen um das Wohlergehen ihrer Tochter zu machen… allerdings nicht im Stillen: So habe ich mir das jetzt aber nicht vorgestellt! Ihr werdet die ganze Zeit in klatschnassen Klamotten auf diesem Brett stehen und euch den Tod holen! Ihr werdet schrecklichen Sonnenbrand kriegen, wenn ihr da bei der Hitze zwei Stunden lang auf dem Wasser ohne Schatten unterwegs seid! Kind, du musst einen Sonnenhut aufsetzen, ich gehe dir gleich mal einen kaufen. Du musst die Bergsonnencreme benutzen, und zwar für dein ganzes Gesicht. Du kannst doch sicherlich die Sonnenbrille auflassen? Und jetzt gehe ich da nochmal in diesen Laden und bestehe darauf, dass du einen Neoprenanzug bekommst, damit du dich nicht erkältest. Und wenn ich auch nur einen Hauch von Rot auf deiner Haut sehe, darfst du morgen nicht an den Strand gehen, sondern bleibst den ganzen Tag zu Hause im Schatten! Aber du musst das natürlich selber entscheiden, was du tust. Ich wollte das ja nur mal gesagt haben.

Irgendwann gelang es uns, meine ganz große Schwester für einen Moment aus dem Raum zu schicken. Ratlos sahen die große Patennichte und ich uns an. Eigentlich hätten wir gern diesen ulkigen Sport ausprobiert. Aber am nächsten Tag zu Hause sitzen – das wollte die große Patennichte dann doch nicht. Und ich? Dem gleichzeitigen Ansturm innerer und äußerer Bedenken war mein kleiner Ferienübermut auch nicht gewachsen.

Hallo? Ja, wir hatten heute eine Einführung ins Stehpaddeln bei Ihnen gebucht… Leider haben wir grade gemerkt, dass wir es heute morgen schon mit der Sonne übertrieben haben und einen Sonnenbrand haben und heute leider den Kurs nicht machen können. Jaaaa, das ist sooo schade! Tut mir leid!

Frohlockend funkelten die Augen meiner ganz großen Schwester, als sie von unserer vernünftigen Entscheidung erfuhr. Und sie funkelten weiter, bis die große Patennichte später am Strand beim Ballspielen Kopf an Kopf mit dem Neunjährigen zusammenstieß und mit einer Platzwunde zum Notarzt nach Lütten Klein gebracht werden musste. DAS wäre beim Stehpaddeln nicht passiert. Obwohl, wer weiß.

 

Am Strand

Am Strand von Warnemünde gibt es auch an den ganz heißen Tagen noch verriegelte Strandkörbe. Etliche sogar. Ziemlich viele! Trotzdem zucken die Verleiher in den kleinen Häuschen mit den Schultern: nöö, frei ist nix. Nur ganz rechts beim Leuchtturm, wo es am teuersten ist. Direkt vor mir in der Schlange eine Frau, die den Schlüssel für ihren heutigen Strandkorb in der dritten Reihe abgibt und einen Korb in der ersten Reihe gleich für morgen bezahlt – dessen Schlüssel sie gleich mitnimmt, obwohl wir darin noch gut hätten vier Stunden lang unsere Badesachen unterbringen und Schattenpausen hätten machen können, bis zum Abend. Nix zu machen, die Körbe vorne am Meer sind schon alle weg, als ich endlich dran bin.

Aber irgendwo finden wir dann doch immer noch ein Strandkörbchen, wenn wir am späten Nachmittag ans Meer kommen – jeden Tag woanders.

Einmal direkt unter dem Lebensretterhäuschen, von dem herab der Lebensretter von Dienst mit dem Fünfjährigen schäkert. Eine ganze Zeit lang strecken sich beide gegenseitig immer abwechselnd die Zunge raus.

Einmal rechts vorne, wo seltsamerweise alle Leute tätowiert sind. „Schnuppi“ steht auf der Wade der Frau, die vor uns ins Meer geht. Und „Live your dreams“ auf dem Rücken der Frau, an deren Handtuch vorbei wir wieder herauskommen. Ein dicker glatzköpfiger Mann hat einen dicken glatzköpfigen Wikinger auf den Rücken tätowiert. Und so ziemlich allen anderen quellen Rosen, Totenköpfe und sonstige Schnörkel den Rücken oder die Arme herab oder ranken an ihren Beinen hoch.

Einmal müssen wir in die sechste Reihe, fast ganz nach hinten, dahin, wo ältere Paare Stunde um Stunde friedlich in ihren Körben liegen. Alle der Sonne zugewandt. Heißt, dass sie uns alle beim Umziehen beobachten können, weil wir unseren Korb als erstes mit viel Hauruck umdrehen, damit wir Schatten haben. Dann kommen wir vom Baden wieder. Die ersten Senioren drehen ihren Korb aus der Sonne (und von uns weg), als der Fünfjährige und der Neunjährige Fußball spielen. („Neuer zu Götze! Götze! Jetzt Özil! Khedira! Khedira zu Messi! Robben schießt!!! Neuer hält!!!!) Die nächsten brechen plötzlich auf, als meine ganz große Schwester der großen Patennichte das Sonnenbaden reglementiert. („Du warst jetzt aber schon fünf Minuten in der Sonne!“ „Ja, aber das war mein Rücken. Jetzt noch fünf Minuten für den Bauch!“ – „Jetzt reichts aber, du ziehst jetzt sofort eine Bluse an, die Sonne ist gefährlich!“ „Mama! Nein! Ich will jetzt Ballspielen und ich ziehe keine Bluse an!“) Und den restlichen fällt ein, dass sie jetzt dringend schon mal zum Abendessen gehen wollen, als die große Patennichte und die Jungs Ballspielen und laut mitzählen, wie oft sie ihn hin- und herwerfen können, ohne dass er runterfällt. („Vierundsechzig – fünfundsechzig – sechsundsechzig – Neeeeeeeeiiiin!!!!!“)

Aber überall, jeden Tag, gibt es den Schneewittcheneffekt. Schon mal mit einer Sechzehnjährigen am Strand gewesen? Die Jungs im Alter der großen Patennichte gucken die große Patennichte an (wenn sie nicht gerade von dem Bier in ihrer einen Hand zu dem Smartfon in ihrer anderen Hand schauen). Die Männer in meinem Alter gucken die große Patennichte an (wenn sie nicht gerade ihren greinenden Nachwuchs oder außer Kontrolle geratene Wurfstrandmuscheln bändigen). Die Männer im Alter meiner ganz großen Schwester gucken – na? – die große Patennichte an. Wenn sie nicht gerade ihren kompetenten Ehefrauen mit den praktischen Kurzhaarschnitten den Rücken eincremen. Und manchmal sogar dann.

Nur der nette Strandkorbverleiher lächelt mich an und lobt mich, wie sportlich ich aussah, als wir da eben alle Frisbee gespielt haben. Er weiß, was er tut: Immerhin bin ich diejenige, die das Portemonnaie aus der Tasche zieht und den Strandkorb bezahlt. Und morgen wiederkommen soll – denn die Körbe sind hier immernoch am teuersten.

Warnemünde: Das Jungsprogramm

Schon bei der Anfahrt die ersten Kreuzfahrtschiffe bestaunen, riesig wie ganze schwimmende Stadtteile liegen die gleich neben den S-Bahn-Gleisen im Hafen.

Mit der Autofähre auf die andere Seite des Hafenbeckens fahren, dabei versuchen, Fotos von den suppenschüsselgroßen Quallen zu machen. Raus zur Mole laufen. Kleine Sportsegelboote beobachten.

Zur Seehundeforschungsstation gehen. Dem Seebären zusehen, wie er im Wasser herumtollt, den Po herausstreckt und mit den Flossen wackelt. Beobachten, wie die Forscherin im kleinen Becken der Seerobbe Ohrenschützer aufsetzt, ihre Versuchsanordnung aufbaut, die Ohrenschützer wieder abnimmt und die Robbe mit den Barthaaren fühlen muss, aus welcher Richtung der größere Wasserwirbel kommt. Und wie sie Fische kriegt, wenn sie es richtig macht.

Auf den Leuchtturm steigen.

Beim Strandspaziergang doch auf den Buhnen herumklettern.

Quallen keschern.

Eine uralte Frisbeescheibe wieder zum Leben erwecken.

Doch wieder erfolgreich ein Eis erbetteln.

Den Seenotrettungskreuzer besichtigen und seine Knotengeschwindigkeit in Stundenkilometer umrechnen.

Kreuzfahrtschiffe von nahem anschauen, Etagen zählen, Kabinenfenster zählen. Gucken wie eins einfährt, und am Kai nebenherrennen. Auf der Düne sitzen, da, wo es eigentlich verboten ist, und einem ganz besonders großen zuschauen, wie es inmitten von fünf kleinen Hafenrundfahrts-Begleitbooten von seinem Liegeplatz wieder ins Meer entschwebt. Danach der Fähre nach Dänemark. Danach dem Frachter mit den 15 Windradflügeln. Danach dem edlen Dreimaster, der beim Vorbeifahren Segel hisst. Danach der kleinen Bohrinsel oder dem großen Schwimmkran oder was auch immer das für ein Gefährt ist, das da von einem Schlepper ins Meer gezogen wird, eine Plattform wie ein umgekippter Tisch mit vier langen Beinen, die zum Himmel ragen –

Jeden Morgen Brötchen und Croissants holen, weil wir so früh wach sind und nichts anderes vorhaben, bis die anderen aufstehen.

Jeden Abend auf der kleinen Terrasse spielen: Der Fünfjährige kann jetzt Coloretto. Der Neunjährige liebt schon lange Baptistenskat. Und ich kann ihn immer noch im Schach schlagen, puh, erleichtert.

Und jeden Tag ins Meer.