In diesem Jahr haben wir zum ersten Mal eine richtige Städtereise gemacht. Die ganz große Schwester hatte sie dem Vierzehnjährigen zur Konfirmation geschenkt, und beim Planen hatten wir entschieden, dass der Zehnjährige und ich mitfahren würden – weil ich so selten Gelegenheit habe, mit meinen Kindern eine solche Reise zu machen.
Lissabon also – von Montag bis Freitag in den Herbstferien.
Ich erinnere mich:
Wie wir lange, lange beobachten, wie vor dem großen Fenster der Abflugwartehalle Flugzeuge abgefertigt werden; die reibungslosen Abläufe dieser ganz eigenen Flughafenwelt studieren, landen, Gepäck ausladen, tanken, Essen bevorraten, Gepäck einladen, starten. Eine Drohne verzögert den Abflug unseres bereits verspäteten Fliegers noch ein bisschen länger, aber dann starten wir doch endlich und landen am Abend gut in Lissabon. Wir kaufen ViaViagem-Cards für 50 Cents am Automaten und laden sie gleich auf, das ist kein Problem und wir können damit die U-Bahnen und Busse und Trams benutzen. Zu unserer kleinen Ferienwohnung nahe bei der Innenstadt müssen wir unsere Koffer einen der sieben Hügel hochwuchten, auf denen Lissabon gebaut ist. Der Bürgersteig ist ungefähr dreißig Zentimeter breit und besteht aus buckeligen, altersweich abgeschliffenen Pflastersteinen. Direkt neben uns rauschen Autos die steile Straße hinauf und hinunter, das ist authentisches, altes Lissabon hier; und genauso authentisch ist unsere Ferienwohnung: Eine Tür führt direkt vom schmalen Bürgersteig in ein kleines Wohnzimmer mit Couch und Fernseher; von diesem geht ein Gang nach hinten, hinein in die Tiefe des Hauses: zwei fensterlose Schlafzimmerchen mit schmalen Doppelbetten, dahinter eine Küche, ein kleines Duschbad und eine Tür zu drei Quadratmetern Hinterhof, der vom Haus und von hohen Mauern umgrenzt wird, nur offen zum Himmel.
Zur Nacht müssen wir erstmal die ringsum sorgfältig unter den Matratzen festgestopften Laken und Decken herausziehen; wir sind an die südliche Schlafkultur nicht gewöhnt. Die ganz große Schwester findet es zu stickig in den fensterlosen Kämmerchen und bereitet sich ein Lager im winzigen Hinterhof, unter den Sternen. Warm ist es ja. Die beiden Jungs sollen sich ein Schlafzimmer teilen, und so komme ich in den Genuß eines Zimmers – und Bettes – für mich alleine. Sehr schön.
Früh am Morgen erkunde ich mit den Kindern die Umgebung; ein paar Schritte die Straße hinunter ist gleich ein kleiner Supermarkt, das ist fein. Und nach dem Frühstück brechen wir auf, um die Stadt zu erkunden – und um herauszufinden, was hier mit Kindern funktioniert und was nicht.
Der Elevador Santa Justa ist unser erstes Ziel, und es ist fantastisch, in der alten Eisenkonstruktion nach oben zu schweben. Lissabon ist ja schließlich die Stadt der wunderbarsten öffentlichen Verkehrsmittel: der Aufzüge, Standseilbahnen, historischen Straßenbahnen! Der erste Miraduro – es gibt etliche dieser Aussichtspunkte auf den Hügeln um die kleine Baixa, die Innenstadt am Tejo mit ihren schnurgerade angeordneten Straßen – ist nicht weit. Und gleich jetzt, am Anfang, stellt sich heraus, was nicht so gut funktioniert: zu viert durch die Stadt zu bummeln. Immer will einer gerade ein wunderschönes Fliesenmuster an einem Haus fotografieren, der andere vorauseilen, jemand ist müde, jemand möchte einen Kaffee trinken, ein Pastel de Nata essen, eine Toilette finden. Wir steigen also in eine der gelben Straßenbahnen und rumpeln zum Tejo hinunter. Der Vierzehnjährige und ich stecken tatsächlich im Oktober nochmal unsere Füße ins Wasser, auch baden wäre nicht unmöglich, wenn wir Zeit hätten, richtig ans Meer zu fahren.
Aber wir haben etwas anderes vor: Lissabon hat ein Ozeanarien, und das ist wirklich beeindruckend. Das Museum auf dem Geländer der Weltausstellung von 1998 ist um ein zentrales Aquarium herumgebaut, das so hoch ist, dass man es auf zwei Etagen umrunden kann und so groß, dass diese Umrundung auch wirklich eine Weile dauert. Immer wieder neue Perspektiven in dieses große Wasserbecken eröffnen sich dabei aus den verschiedenen Richtungen, und es gibt Rochen, die so schwer sind wie ein kräftiger Mensch, Knochenfische, deren flacher runder Körper beinahe zwei Meter Durchmesser hat, ganze Sardinenschwärme, jede Menge kleine und große, bunte und grauglitzernde Fische. Der Rundgang führt auch in die äußeren Ecken des Gebäudes, von denen jede einem der Ozeane der Welt gewidmet ist und in denen Seevögel und kleine Pinguine und bunte Tropenfische leben und wo wir sehen, wie die kuschelweich aussehenden Seeotter gefüttert werden.
Nach dem Besuch im Ozeanarium fahre ich mit den Kindern noch mit der Kabinenseilbahn am Wasser, einmal hin und einmal her. Dass das Mittagessen vor dem Museumsbesuch eine kleine Katastrophe war – mich überfordern unüberschaubare Situationen mit viel zu vielen Menschen ganz besonders, wenn ich hungrig und erschöpft bin und die Sprache nicht verstehe, und dummerweise waren wir ausgerechnet im „Food Court“ eines sehr gut besuchten Einkaufszentrums gelandet – haben wir inzwischen zum Glück fast vergessen. In den nächsten Tagen werden wir uns morgens Brote oder Brötchen vorbereiten und setzen uns in einen ruhigen Park, wenn wir eine Pause brauchen. Das ist viel besser.
Am nächsten Tag – inzwischen ist der Zehnjährige in mein Bett übergesiedelt, weil der Vierzehnjährige geklagt hat, er könne neben seinem Bruder auf dem portugiesisch-schmalen Doppelbett absolut nicht schlafen – sind wir spontan und muten den Kindern eine klassische Sehenswürdigkeit zu: Das Hieronymus-Kloster in Belem. Wir haben herausgefunden, mit welcher Straßenbahn man dort hinfahren kann, das klappt ganz vorzüglich. Auch das Anstehen für Karten dauert weniger lange als gedacht, nachdem wir verstanden haben, dass man dafür nach nebenan ins Militärmuseum gehen muss. Das Hieronymus-Kloster ist ein herausragendes Gebäude des manuelinischen Architekturstils, mich erinnert es mit seinen verzierten Türmchen vor allem von weiten an die Tröpfelburgen, die man am Strand baut. Es ist, als hätte jemand eine große Horde Steinmetze unter aufputschende Drogen gesetzt und dann auf das Gebäude losgelassen – jede Säule, jeder Bogen, jedes Element des Geländers ist verziert, jedes anders – sogar jeder Wasserspeier anders – als alle anderen. Blumenranken wachsen aus den Mäulern wilder Hunde oder Drachen; Blumenmuster, Elefanten und Fabelwesen, Früchte und Bibelszenen – wir finden zumindest Eva, die gerade von der Schlange einen Apfel angeboten bekommt – überziehen die steinernen Oberflächen.
Die ganz große Schwester zieht mit dem Vierzehnjährigen los und ich mache die Runde mit dem Zehnjährigen, das ist gut. Jedes Kind darf in seinem Tempo staunen und entdecken. Dem Zehnjährigen und mir machen tatsächlich die vielen verschiedenen Wasserspeier am meisten Spaß, da gibt es einen Mönch und einen Drachen, eine Katze und einen Hund, einen Affen und einen Vogel, einen bärtigen Mann –
Später holt uns die ganz große Schwester in einen Ausstellungsraum, in dem auf einer viele Meter langen Schautafel die Geschichte des Klosters, die Geschichte Portugals und die Geschichte der Welt nebeneinander dargestellt sind. Hier könnten wir lange gucken und viel lernen. Natürlich war es der Reichtum des Kolonialreiches Portugal, der in der prachtvollen Architektur des Klosters zur Schau gestellt wurde! Wie sich die portugiesischen Seeleute immer weiter in die Welt hinausgewagt haben, sehen wir später noch an der Weltkarte, die ins Pflaster vor dem Denkmal der Entdeckungen integriert ist. Was muss das für ein Lebensgefühl gewesen sein, denke ich, in einer Welt, die sich mit der Rückkehr jedes Schiffes um neue Inseln, Küsten, Tiere und Pflanzen vergrößerte, die voller unentdeckter Wunder war?
Am Nachmittag fahren wir mit der allerberühmtesten alten Straßenbahnlinie, der Linie 28, die auf ihrer Route einige der steilsten – und häufig noch dazu kurvigen! – Streckenabschnitte weltweit bewältigt, in den schmalen Gassen manchmal so dicht an den Häusern, dass ich den Zehnjährigen ermahne, seinen Arm nicht zu weit aus dem alten – und natürlich weit offenen – Holzrahmenfenster zu strecken. Wir fahren bis zur Endstation, dem „Friedhof der Vergnügungen“, wo wir eine kleine Runde laufen und Steunhäuser ansehen, in denen die Toten hier bestattet – oder aufbewahrt? – werden. Die Steinhäuser bieten – wie alte Liegewagenabteile – meist rechts und links drei Plätze übereinander. Dazwischen – vorne – eine Tür und hinten ein kleines Fensterchen, unter dem auf einem Tischchen Fotos der Verstorbenen stehen, manchmal sogar Blumen.
Später steigen wir, nun wieder auf der anderen Seite der Baixa, zum „Miradouro da Senhora do Monte“ hoch und schauen hinunter auf die abendsonnenbeschienenen Dächer. Der Heimweg – bergab, berauf durch viele kleine Gassen – dauert uns fast zu lange, unsere Füße sind rechtschaffen müde, als wir endlich in der Ferienwohnung ankommen.
An unserem dritten Lissabon-Tag erleben wir wieder ein ganz anderes Abenteuer. Schon Wochen vorher hatte ich im Internet ein Jungs-Event gebucht: eine Tour durch das „Estadio de Luz“, das Stadion von Benfica Lissabon. Wir fahren mit der Metro zur angegebenen Station, und dann stehen wir erstmal vor einem ziemlich großen Problem: Das Stadion ist ringsum von Schnellstraßen umgeben, und es ist kein Eingang zu sehen, nirgends. Das ich noch dazu ganz dringend eine Toilette brauche, macht die Sache nicht besser, wir müssen die Suche abbrechen, ins nahegelegene Einkaufszentrum gehen, und nachdem dort auch die dritte von uns befragte Person in die selbe Richtung zeigt, in der keinerlei Eingang zu sehen ist, machen wir uns dann doch dorthin auf den Weg. Irgendwo gibt es tatsächlich eine Ampel über die Schnellstraße. Einen Parkplatz, den wir überqueren. Und dann eine Art Lieferantentor. Wir wagen uns hinein und haben es dann doch geschafft – ohne jede Ausschilderung. Die Führung startet auch gleich, ich übersetze aus dem Englischen, was die Kinder nicht verstehen, wir sehen Modelle des Stadions und der außerhalb von Lissabon gelegenen Trainingsanlagen von Benfica, und wenig später habe ich doch tatsächlich zum ersten Mal in meinem Leben eine Virtual-Reality-Brille auf der Nase, die die Umkleidekabine der Gegenmannschaft in die Umkleidekabine von Benfica verwandelt, die man in echt nicht betreten darf. Im Stadion selbst ist es dasselbe: Auf den Rasen dürfen wir nicht (wie sehr hätte ich es meinen Söhnen gewünscht, dort mal einen Ball in ein Tor schießen zu dürfen!), aber eine Zauberbrille lässt uns dann doch mitten auf dem Rasen stehen, während ringsrum die Fans toben und Feuerwerk abbrennen. Solange man nicht auf seine Füße schaut – die einfach verschwunden sind – kann man sich wirklich wie ein Spieler in einem spannenden Fußballmatch fühlen. In echt dürfen wir dann noch Benficas Maskottchen sehen: lebende Adler, die dort, wo normalerweise ein Tor stehen würde, auf Sitzstangen angekettet sind und angeblich jeden Tag trainiert werden, damit sie vor den Spielen eine große Runde über den Zuschauerrängen fliegen.
Die ganz große Schwester will mit dem Vierzehnjährigen noch die Alfama erkunden – eins der ganz alten Stadtviertel von Lissabon – und ich fahre mit dem Zehnjährigen ins Gulbenkian-Museum, das ich so gerne noch besuchen möchte. Wenigstens eine kurze Runde gehen wir durch die Säle mit den sehr schönen Ausstellungsstücken, Wandteppichen, Keramiken, Fliesen, Miniaturen – aber der Zehnjährige ist schnell erschöpft, so dass wir eine gemütliche Pause im Museumspark machen und dann zurück in die Baixa fahren und dort ein paar Souvenirs kaufen und Eis essen.
Ganz früh müssen wir am nächsten Morgen zum Flieger, mit der allerersten U-Bahn um halb sieben. Check-In-Automaten, übermüdete Kinder, das Durchwühlen meines Koffers an der Sicherheitskontrolle – wir überstehen das alles. Fliegen mag ich trotzdem erstmal nicht so schnell wieder (der ökologische Fußabdruck unseres Haushaltes hat durch die Reise gleich mehrere Größen zugelegt) – aber Städe besuchen mit meinen Kindern: das geht gut, das weiß ich jetzt. Amsterdam, Paris, Kopenhagen: Wir kommen. Irgendwann haben wir Zeit.