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Mirakel am Totholz, überstehende Zahnfüllungen, vom Wiederfinden und vom Kofferpacken

Letztes Wochenende in Hannover hatte der Hannoverliebste ein Stattauto gemietet, und nach einigem Hinundher wegen des unentschlossenen Wetters entschieden wir uns gegen Solebad und für Waldwanderung. Dieses Mal im Ith, einem dieser Höhenzüge am Übergang vom Norddeutschen Flachland ins Niedersächsische Bergland. Hannover liegt ja sehr fein zwischen beidem, wie ich gelernt habe.

Waldwanderung bedeutet inzwischen immer, sehr viele sterbende Bäume zu sehen. Der Ith war da keine Ausnahme. Obwohl ich mal irgendwo gelesen habe, dass Eschen den Klimawandel besser abkönnen als andere Bäume, ging es denen dort garnicht gut. Nahe am Weg gab es immer wieder Eschenstämme, an denen die Rinde schon stellenweise fehlte und den Blick auf Borkenkäferfraßmuster freigab, die ich – eine vage Erinnerung – zum ersten Mal vor vielen Jahren in einem Kinderbuch gesehen habe. Ich wusste jedenfalls sofort, dass es sich um Borkenkäferfraßspuren handelte. Wenn die Eschen noch nicht ganz tot waren, leuchteten diese entdrindeten Stellen ganz hell, und die Bäume sahen wund und verletzt aus.
Ein Stück weiter – wir mussten einen eher kleinen Runderwanderweg gehen, weil diverse Knie, Hüften und Füße der Meinung waren, dass eine Wanderung mit ihnen nicht abgesprochen sei – gab es dann einen riesigen, schon länger gestürzen Buchenstamm, dessen Pilzbewuchs wir als Zunderschwamm identifizieren konnten. Gelernt: Aus der weichen, sporentragenden Schicht unten am Pilz machte man früher wirklich Zunder, die Schicht wurde getrocknet, gekocht, mit Urin behandelt (ähem, doch ganz schön, dass Streichhölzer erfunden wurden) und diente dann dazu, mit Feuersteinen geschlagene Funken aufzufangen und davon in Brand zu geraten. Der Zunderschwamm verfügt über die Superkraft, die Wuchsrichtung zu ändern, wenn der Baum, den er befallen und dessen Holz er zersetzt hat, stirbt und umstürzt – Geotropismus heißt das, der Pilz wächst einfach in eine andere Richtung weiter, immer so, dass seine sporentragende Schicht nach unten zeigt, damit die Sporen herausfallen können.
Noch ein Stück weiter gab es dann seltsame, kleine, schwarze, keulenförmige Pilze, die aus schon ganz bemoosten toten Stämmen guckten: „Dead man’s fingers“, heißen die sehr sprechend auf Englisch, „Vielgestaltige Holzkeule“ gibt den Gruselfaktor dieser Pilzart nicht so nett wieder.
Außerdem gesehen, bestaunt und bewundert, wie Buchen auf Felsen wachsen und ihre Wurzeln sich in den Spalten der Steinbrocken entlangschlängeln, bis sie irgendwo, Meter und Meter weiter, ein wenig Erde finden.
Hatte ich erwähnt, dass ich Bäume sehr liebe und sehr, sehr gerne neue Dinge über Bäume und Pilze und Pflanzen jeder Art lerne?

Am Sonntag reiste ich zurück nach Berlin und leistete am Nachmittag dem Zwölfjährigen Gesellschaft, der endlich sein Herbarium fertigstellte.

Die Woche dann sehr alltäglich und arbeitsreich; den strahlendblauen Himmel und perfekten Herbstsonnenschein vor allem durchs Bürofenster gesehen. Ein Zahnarzttermin, bei dem ich zum zweiten Mal und bezogen auf eine zweite Füllung hörte, dass sie ein wenig überstehend sei. Beide Male bezog sich das auf Füllungen, die ich knapp 20 Jahre mit mir herumtrage und die niemals vorher irgendwelche Probleme und Beschwerden verursacht haben. Schrumpfen denn meine Zähne beim Älterwerden? Oder was ist das für eine seltsame Zahnarztbegründung für jede Art von Zahnfleisch- und Zahnbeschwerden? Der kaputte Zahn jedenfalls, der weiter fröhlich in meinem Mund herumstört und nicht wirklich belastbar ist, soll im Winter dann statt des Provisoriums nochmal eine Kunststofffüllung bekommen; nicht aber – so viel steht fest – ohne dass ich dazu noch eine zweite Meinung einhole. Wünsche mir dann und wann, ich hätte nicht gegoogelt, wofür dieser Zahn in der esoterischen Lehre steht: natürlich für den Alltag, das passt einfach zu gut, aber ich glaube ja garnicht an sowas…

Was schön war: In der Tasche der alten Regenjacke die verloren geglaubte Hülle des Regenponchos wiedergefunden und in der Tasche einer lange nicht getragenen Hose die noch viel länger verloren geglaubte Armbanduhr.

Am Samstag vorgearbeitet, der Handel mit meiner Chefin ist, dass ich dafür am Montagmorgen nur noch zwei Stunden Übergabe mit diversen Kolleg:innen machen muss und dann Schluss machen und abreisen kann. Sehr guter Deal. Koffer und Rucksäcke sind inzwischen gepackt, morgen am späten Mittag kommen wir beim Waldhäuschen an, zum – Jubiläum! – zehnten Mal. Nach dem Zaunlatten-Zaunfelder-Prinzip bedeutet das, dass wir vor neun Jahren zum ersten Mal dort waren, der Zwölfjährige damals drei, der Sechzehnjährige sieben Jahre alt.
Wir werden uns erinnern, Waldhäuschengeschichten (von Pilzen, Beeren, Freunden, Ausflügen, Wanderungen, Sternbildern, Federballrekorden, Bastelprojekten und von noch mehr Pilzen) erzählen, in das vertraute, über all die Jahre gewachsene Glücksgefühl eintauchen, das uns immer wieder an diesen Ort zurückkehren lässt.

WmdedgT – 05.05.2021

Es ist Tagebuchblogtag – Frau Brüllen fragt: Was machst du eigentlich den ganzen Tag? – und alle, die mitmachen, verlinken sich hier. Voila:

Um 6.30 klingelt der Wecker, zum letzten Mal wache ich in Weimar auf. Draußen Morgensonne, das ist schön. Ich gehe ins Bad und sage hinterher meinem Vater Bescheid, dass er jetzt an der Reihe ist. Unterdessen mache ich Frühstück. Wir sitzen noch über Kaffee und Marmeladenbroten zusammen, als kurz vor acht die Pflegeschwester – mit einem Praktikanten im Schlepptau – für die täglichen Verrichtungen klingelt. Hinterher frühstücken wir fertig.

Ich bereite Tabletten für die nächsten Tage vor, bringe Müll weg und hole die Zeitung, packe dann meinen Koffer und setze mich mit dem Handy in die Küche, um die ganz große Schwester zu fragen, wann sie ankommen wird. Dann schaue ich mal auf meinem Blog-Reader vorbei und lese eine ganze Weile. Später kommt mein Vater dazu, wir sitzen ein wenig in der Küche, ich fange an, Möhren für einen Rohkostsalat zu schälen. Zwischendurch meldet sich die große Schwester aus ihrem Homeoffice und fragt nach, wie es uns geht. Während ich mit der Küchenmaschine kämpfe – sie hat zwei Verriegelungsmechanismen, von denen ich immer nur einen verriegeln kann, nicht aber beide gleichzeitig – klingelt die ganz große Schwester schon an der Tür. Sie wird für die nächsten Tage in Weimar bleiben, bis die Frau unseres Vaters, die ein paar Tage Urlaub hinter den sieben Bergen macht, wieder zurückkommt.

Wir haben uns lange nicht gesehen und freuen uns sehr, dass wir den Tag gemeinsam verbringen können. Wir sitzen zusammen und erzählen ein bisschen, dann reibe ich die Möhren einfach per Hand, hole den Gulasch vom Balkon (kalt genug war es ja), setze Kartoffeln auf. Wir speisen prächtig. Zum Nachtisch gibt es Götterspeise mit Vanillesauce, denn mein Vater mag Süßes und solche Wünsche sind ja erfüllbar.

Während unser Vater sich ausruht, erkläre ich der ganz großen Schwester noch dies und das – wo sind die Kartoffeln versteckt, welche Medizin muss abends am Bett stehen, wann kommt die Physiotherapeutin, wo hängt welches Handtuch – und dann trinken wir zu dritt Kaffee. Hinterher haben wir noch genug Zeit, um eine Runde rauszugehen und frisches Brot von der Brotmanufaktur zu holen und ein halbes Stündchen zu spielen; es reicht auch für eine Dusche für unseren Vater und ein frühes gemeinsames Abendbrot. Dann bringt die ganz große Schwester mich und meinen Koffer zum Bus.

Natürlich muss das Band meiner FFP2-Maske genau jetzt reißen, so dass ich etwas unbeholfen mit meinem großen Koffer in der einen und dem Handy mit der Fahrkarte in der anderen Hand in den Bus steigen und gleichzeitig noch die Maske festhalten muss; der Busfahrer hat zum Glück Erbarmen und besteht nicht darauf, meinen Fahrkarten-QR-Code unbedingt einzuscannen; ich darf mich hinsetzen und nach der Ersatzmaske kramen. Am Bahnhof habe ich ein bisschen Umsteigezeit; es weht ein eiskalter Wind, ich bin froh, dass die ganz große Schwester mich gewarnt hat und ich unter der Winterjacke noch eine Schicht extra angezogen habe.

Die Rückreise klappt prima, alle Züge sind pünktlich und schön leer. Die Frühlingsdämmerung vor dem Zugfenster ist wunderschön – blühende Bäume, grüne Felder, drohende Regenwolken. Ich entknote meine verhedderten Kopfhörerkabel und schalte die letzte Folge vom NDR-Podcast „Das Coronavirus-Update“ ein. Nebenbei schreibe ich mit dem Hannoverliebsten hin und her, fange an, bei Frau Brüllen in den WmdedgT-Einträgen zu stöbern und versichere mir, dass es auf Reisen ok ist, mehrere Dinge gleichzeitig mit dem Handy zu machen und dass ich ein andermal ganz bestimmt ein Digitalfasten einlegen werde.

Erst in der Berliner S-Bahn sind wieder Leute, die die Marke cool unter der Nase tragen statt davor. Willkommen zu Hause. Meine Wohnung riecht ganz leer und seltsam (ich hätte die Sträuße mit den welkenden Zweigen vielleicht doch VOR meiner Abreise entsorgen sollen); Heinzelmännchen waren inzwischen auch keine da. Aber die andere Mitmutter hat die Blumen gegossen, die Tomatenpflanzen leben alle noch.

Ich rufe schnell in Weimar an, um Bescheid zu sagen, dass ich gut angekommen bin. Dann rufe ich den Hannoverliebsten an: nur noch zwei Tage, bis wir uns sehen! Ich notiere schnell ein paar dringende Punkte auf der To-Do-Liste für morgen (drei Überweisungen, vor allem – Prinzip Hoffnung hat letztes Jahr ja auch funktioniert – die 2. Rate für das Ferienhaus in Dänemark; nachprüfen, ob Ausweis/Kinderreisepass der Jungs noch gültig sind; und den Neun-Uhr-Termin mit der Chefin zur Optimierung und Beschleunigung der Arbeitsprozesse in der Abteilung sollte ich besser auch nicht verpassen). Dann schenke ich mir zwei Finger hoch selbstgemachten Likör ins Glas, ziehe das Kabel aus dem Koffer und den Rechner aus dem Rucksack und schalte ihn ein: Zeit zum Bloggen.

Jetzt nur noch Bad und Bett.

Fanefjord Kirke

Insel Møn. Eine Kirche über der Küste, außen hell getüncht, ein Baugerüst am Turm. Die Deckengewölbe innen ausgemalt, ca. 1350 und 1500; mit Bibelgeschichten und Legenden, die actionmäßig was hermachen. Sanfte Ockertöne, ein wenig verblichens Grün. Die Fresken waren lange übermalt und wurden 1927 wiederentdeckt.

Da sieht man, wie Gott die Welt erschafft – quasi den Urknall in Form eines Feuerballs; im nächsten Gewölbeviertel sind die Wassertiere an der Reihe, Fische, Krabben und eine barbusige Meerjungfrau; auf dem nächsten Bild gibt er der Kuh, dem Hirsch und dem Pferd ihre jeweils verschiedenen Ohren und Hörner und hat – zur Freude des Elfjährigen – auch schon die Idee eines Hasen skizziert.

Die Weihnachtageschichte. Einer der drei Heiligen Könige streckt dem Kind eine Box mit Goldstücken hin, in die das Kind greift, als handele es sich um die Süßigkeitendose beim Kinderarzt.

Ein Teufel, der eine Seele entführt. Das jüngste Gericht. Samson zerreißt einen Löwen – zum Glück ist dargestellt, wie er das Tier packt, und nicht, was dann geschieht.

Michael, der Erzengel, wiegt eine Seele – in der linken Waagschale sitzen die bösen, in der rechten die guten Anteile. Links hängt sich ein arglistige Teufel mit seinem ganzen Gewicht an die Waagschale, um die Seele für sich zu gewinnen; rechts drückt ein Heiliger leicht mit dem Finger auf den Waagebalken, und siehe da: er scheint zum Guten auszuschlagen.

Draußen der Friedhof, Vogeltränken stehen auf den Gräbern, etliche tragen die Aufschrift „Tak for alt“ – danke für alles. Hinter der Friedhofsmauer leuchtet das Wasser zwischen den Inseln. Der Himmel über dem Wasser und über den goldgrünen Feldern groß und hell.

Blausammler

Unser Kinderkoffer. Brandenburger Felder, durchsetzt mit Natternkopf, Kornblumen, Bienenweide. Container und Beladeanlagen im Rostocker Hafen. Der mit flockigen Wolken besetzte Himmel. Schutzmasken aus Papier. Die Warnschilder in der Fähre: Please do not sit too close to others. Und das weite, blasse, sommersanfte Meer. Endlich das Meer.

Bienen kommen

Nach ein paar wirklich anstrengenden Wochen beginnt das Leben sich leichter anzufühlen.

Mecklenburg-Vorpommern nimmt wieder Touristen auf, und dem Hannoverliebsten gelingt es, eine Ferienwohnung in Kühlungsborn für uns zu buchen. Pfingsten am Meer: Sonnenuntergang in blau und rosa; der Mond in Tagschicht; Kitesurfer mit bunten Gleitschirmen, die den starken Wind vor Heiligendamm nutzen, um weit hinaus aufs Meer zu gleiten und gegen den Wind mit atemberaubender Geschwindigkeit zurückzukommen; und natürlich renne auch ich in die rauschenden Wellen und fühle mich so lebendig wie lange nicht mehr.

In Kühlungsborn erreicht mich am Pfingstfreitag auch die gute Nachricht, auf die die ganz große Schwester und ich gewartet haben: Dänemark hat vor, die Grenzen für Ferienhaustouristen zu öffnen. Wir werden unseren Urlaub an der Lieblingsküste auf Falster machen können. Noch vier Wochen, noch 19 Tage Arbeit und 16 Tage Schule. Jetzt zähle ich wirklich runter.

Und das hilft, damit es auch zu Hause ein wenig leichter wird.
Leichter, das Chaos aus Bügelwäsche, Schulheftern, Kabeln, Laptops und schmutzigem Geschirr zu ertragen. Leichter, dem Fünfzehnjährigen zuzustimmen, dass seine Aufgaben wirklich aufwändig sind. Und eigentlich zu viele. Leichter, den Elfjährigen zwischen den Schulstunden bei mir und den Nachmittagen bei seinem Vater hin- und herhüpfen zu lassen. Leichter, obwohl das Gras auf dem Mittelstreifen der großen Straße nach drei heißen Tagen augustreif verdorrt ist und obwohl die sterbenden Bäume im Wald jetzt so viel besser zu sehen sind. Trotzdem leichter.

Ich kaufe Erdbeeren und Auberginen und Blumenkohl und Melone und Spargel und habe Lust, uns richtig schönes Essen zu kochen. Ich hole das Rezept für Hollundersirup hervor und setze Brennesselsud an, um die Blattläuse zu bekämpfen, die meinen Balkon für ihr persönliches Nirwana halten. Ich gehe raus, abends noch, mit der anderen Mitmutter in den Wald oder alleine die Gänserunde am Wasser.
Ich erlaube mir, nicht alles zu schaffen: nicht meine kompletten Arbeitsstunden; nicht die volle Konzentration; keine häuslichen Optimierungsprojekte, kein Sauerteigbrot, keine tägliche Meditation. Es darf alles so sein, wie es ist; wir müssen uns dabei noch nicht mal gut fühlen. Aber wir dürfen auch glücklich sein.

Mittags zum Beispiel, wenn ich mit einem Kaffee auf meinem Balkon Pause mache, wo gerade alles dschungelartig wuchert. Die Ringelblumen blühen und die Kornblumen, die Fuchsie und die Tomaten. Die wilden Malven haben so viele Knosten wie nie zuvor; Bienenfutter und Männertreu öffenen täglich neue Blüten. Die Bienen sind wiedergekommen und berauschen sich dran.

Und bis wir uns wiedersehn…

Tag 6.

Vor vier Wochen war ich noch in Hannover. Wie selbstverständlich das war: Zug raussuchen, Fahrkarte kaufen, losfahren. Keine anderen Ärgernisse als eine geänderte Wagenreihung.

Vor zwei Wochen war der Hannoverliebste noch hier. Wie selbstverständlich das war: die öffentlichen Verkehrsmittel benutzen, überlegen, ob wir in diesem oder jenem Restaurant essen wollen. Weitere Wochenenden planen.

Vor einer Woche war ich mit den Kindern noch in Thüringen, zum 80. Geburtstag meines Vaters. Vorher Telefonate hierhin und dorthin: Wollt Ihr wirklich feiern? Ganz sicher? Ist es nicht zu riskant, wenn wir kommen, weil es in Berlin mehr Coronafälle gibt als in Thüringen? Sollen wir kommen, auch wenn ich einen kleinen Schnupfen habe? Eine seltsame Reise, Handschuhe anlassen bis zum Platz im Zug, den Tisch desinfizieren, gegenüber eine Frau mit blauen Einmalhandschuhen, Zug ansonsten ziemlich leer. In der Pension dann doch die Ferienwohnung bekommen, weil außer uns keiner mehr da war. Eine seltsame Feier, keine Umarmungen, keine Berührungen. Dieses traurige Gefühl beim Abschied: Wann werden wir uns wiedersehen? Wird irgendjemand krank werden, schwer krank werden?

Dieses Wochenende reise ich nicht mehr. Ich huste. Ich mag den Hannoverliebsten nicht anstecken, auch wenn es mit hoher Wahrscheinlichkeit einfach nur eine blöde Erkältung ist. Ich will niemanden gefährden. Ich mag auch nicht aus dem Zug geholt und irgendwelchen Gesundheitsbehörden übergeben werden. Trotzdem: Das ist traurig. Das ist hart. Vielleicht ist es ein guter Test, bekomme ich am Telefon zu hören, wenn eure Beziehung diese Zeit übersteht, wird sie vielleicht auch anderes aushalten. Aber ich will keine Tests, ich will Nähe… Ich will wenigstens ein Wiedersehen planen dürfen, einen Termin im Kalender zum Festhalten. Aber das geht nicht.

Keine Pläne mehr für die nächsten Wochen. Die Reise des Fünfzehnjährigen nach Warschau, sein Schüleraustausch in die Bretagne: abgesagt. Mit dem Elfjährigen zur Phäno nach Wolfsburg, zur Patentante nach Köln, zu den Großeltern nach Weimar: abgesagt.

Auf dem 80. Geburtstag meines Vaters haben wir zum Abschied diesen irischen Reisesegen gesungen:  „Und bis wir uns wiedersehn / und bis wir uns wiedersehn / möge Gott seine schützende Hand / über dich halten.“
Wie ein Refrain begleitet dieses Lied seitdem in meinem Kopf diese seltsamen Tage.

Ich installiere Skype, richte ein zweites privates Laptop ein, damit beide Kinder lernen können, überfliege eMails mit den besten Zu-Hause-Lern-Tipps, Bewegungstipps, Corona-Schulinformationen, Schulaufgaben. Bin dankbar für die allmorgendlichen Motivationsmails meines Chefs und unsere täglichen Onlinemeetings. Plane das erste virtuelle Kaffeetrinken. Plane einen Spaziergang mit der anderen Mitmutter, noch ist das nicht verboten.

Gut tut es auch, hier auch von anderen zu lesen. Viele von Euch hier sind mir durch ihre Texte nah. Schreibt weiter! Unter den Besten-Lerntipps-für-Kinder-zu-Hause stand, dass es beim Bewältigen dieser Zeit helfen kann, ein Tagebuch zu führen. Und das gilt ja auch für uns Erwachsene.
Ihr alle da draußen: Passt auf Euch auf. Bleibt gesund!

2019: Lissabon mit Kindern

In diesem Jahr haben wir zum ersten Mal eine richtige Städtereise gemacht. Die ganz große Schwester hatte sie dem Vierzehnjährigen zur Konfirmation geschenkt, und beim Planen hatten wir entschieden, dass der Zehnjährige und ich mitfahren würden – weil ich so selten Gelegenheit habe, mit meinen Kindern eine solche Reise zu machen.

Lissabon also – von Montag bis Freitag in den Herbstferien.

Ich erinnere mich:

Wie wir lange, lange beobachten, wie vor dem großen Fenster der Abflugwartehalle Flugzeuge abgefertigt werden; die reibungslosen Abläufe dieser ganz eigenen Flughafenwelt studieren, landen, Gepäck ausladen, tanken, Essen bevorraten, Gepäck einladen, starten. Eine Drohne verzögert den Abflug unseres bereits verspäteten Fliegers noch ein bisschen länger, aber dann starten wir doch endlich und landen am Abend gut in Lissabon. Wir kaufen ViaViagem-Cards für 50 Cents am Automaten und laden sie gleich auf, das ist kein Problem und wir können damit die U-Bahnen und Busse und Trams benutzen. Zu unserer kleinen Ferienwohnung nahe bei der Innenstadt müssen wir unsere Koffer einen der sieben Hügel hochwuchten, auf denen Lissabon gebaut ist. Der Bürgersteig ist ungefähr dreißig Zentimeter breit und besteht aus buckeligen, altersweich abgeschliffenen Pflastersteinen. Direkt neben uns rauschen Autos die steile Straße hinauf und hinunter, das ist authentisches, altes Lissabon hier; und genauso authentisch ist unsere Ferienwohnung: Eine Tür führt direkt vom schmalen Bürgersteig in ein kleines Wohnzimmer mit Couch und Fernseher; von diesem geht ein Gang nach hinten, hinein in die Tiefe des Hauses: zwei fensterlose Schlafzimmerchen mit schmalen Doppelbetten, dahinter eine Küche, ein kleines Duschbad und eine Tür zu drei Quadratmetern Hinterhof, der vom Haus und von hohen Mauern umgrenzt wird, nur offen zum Himmel.

Zur Nacht müssen wir erstmal die ringsum sorgfältig unter den Matratzen festgestopften Laken und Decken herausziehen; wir sind an die südliche Schlafkultur nicht gewöhnt. Die ganz große Schwester findet es zu stickig in den fensterlosen Kämmerchen und bereitet sich ein Lager im winzigen Hinterhof, unter den Sternen. Warm ist es ja. Die beiden Jungs sollen sich ein Schlafzimmer teilen, und so komme ich in den Genuß eines Zimmers – und Bettes – für mich alleine. Sehr schön.

Früh am Morgen erkunde ich mit den Kindern die Umgebung; ein paar Schritte die Straße hinunter ist gleich ein kleiner Supermarkt, das ist fein. Und nach dem Frühstück brechen wir auf, um die Stadt zu erkunden – und um herauszufinden, was hier mit Kindern funktioniert und was nicht.
Der Elevador Santa Justa ist unser erstes Ziel, und es ist fantastisch, in der alten Eisenkonstruktion nach oben zu schweben. Lissabon ist ja schließlich die Stadt der wunderbarsten öffentlichen Verkehrsmittel: der Aufzüge, Standseilbahnen, historischen Straßenbahnen! Der erste Miraduro – es gibt etliche dieser Aussichtspunkte auf den Hügeln um die kleine Baixa, die Innenstadt am Tejo mit ihren schnurgerade angeordneten Straßen – ist nicht weit. Und gleich jetzt, am Anfang, stellt sich heraus, was nicht so gut funktioniert: zu viert durch die Stadt zu bummeln. Immer will einer gerade ein wunderschönes Fliesenmuster an einem Haus fotografieren, der andere vorauseilen, jemand ist müde, jemand möchte einen Kaffee trinken, ein Pastel de Nata essen, eine Toilette finden. Wir steigen also in eine der gelben Straßenbahnen und rumpeln zum Tejo hinunter. Der Vierzehnjährige und ich stecken tatsächlich im Oktober nochmal unsere Füße ins Wasser, auch baden wäre nicht unmöglich, wenn wir Zeit hätten, richtig ans Meer zu fahren.
Aber wir haben etwas anderes vor: Lissabon hat ein Ozeanarien, und das ist wirklich beeindruckend. Das Museum auf dem Geländer der Weltausstellung von 1998 ist um ein zentrales Aquarium herumgebaut, das so hoch ist, dass man es auf zwei Etagen umrunden kann und so groß, dass diese Umrundung auch wirklich eine Weile dauert. Immer wieder neue Perspektiven in dieses große Wasserbecken eröffnen sich dabei aus den verschiedenen Richtungen, und es gibt Rochen, die so schwer sind wie ein kräftiger Mensch, Knochenfische, deren flacher runder Körper beinahe zwei Meter Durchmesser hat, ganze Sardinenschwärme, jede Menge kleine und große, bunte und grauglitzernde Fische. Der Rundgang führt auch in die äußeren Ecken des Gebäudes, von denen jede einem der Ozeane der Welt gewidmet ist und in denen Seevögel und kleine Pinguine und bunte Tropenfische leben und wo wir sehen, wie die kuschelweich aussehenden Seeotter gefüttert werden.
Nach dem Besuch im Ozeanarium fahre ich mit den Kindern noch mit der Kabinenseilbahn am Wasser, einmal hin und einmal her. Dass das Mittagessen vor dem Museumsbesuch eine kleine Katastrophe war – mich überfordern unüberschaubare Situationen mit viel zu vielen Menschen ganz besonders, wenn ich hungrig und erschöpft bin und die Sprache nicht verstehe, und dummerweise waren wir ausgerechnet im „Food Court“ eines sehr gut besuchten Einkaufszentrums gelandet – haben wir inzwischen zum Glück fast vergessen. In den nächsten Tagen werden wir uns morgens Brote oder Brötchen vorbereiten und setzen uns in einen ruhigen Park, wenn wir eine Pause brauchen. Das ist viel besser.

Am nächsten Tag – inzwischen ist der Zehnjährige in mein Bett übergesiedelt, weil der Vierzehnjährige geklagt hat, er könne neben seinem Bruder auf dem portugiesisch-schmalen Doppelbett absolut nicht schlafen – sind wir spontan und muten den Kindern eine klassische Sehenswürdigkeit zu: Das Hieronymus-Kloster in Belem. Wir haben herausgefunden, mit welcher Straßenbahn man dort hinfahren kann, das klappt ganz vorzüglich. Auch das Anstehen für Karten dauert weniger lange als gedacht, nachdem wir verstanden haben, dass man dafür nach nebenan ins Militärmuseum gehen muss. Das Hieronymus-Kloster ist ein herausragendes Gebäude des manuelinischen Architekturstils, mich erinnert es mit seinen verzierten Türmchen vor allem von weiten an die Tröpfelburgen, die man am Strand baut. Es ist, als hätte jemand eine große Horde Steinmetze unter aufputschende Drogen gesetzt und dann auf das Gebäude losgelassen – jede Säule, jeder Bogen, jedes Element des Geländers ist verziert, jedes anders – sogar jeder Wasserspeier anders – als alle anderen. Blumenranken wachsen aus den Mäulern wilder Hunde oder Drachen; Blumenmuster, Elefanten und Fabelwesen, Früchte und Bibelszenen – wir finden zumindest Eva, die gerade von der Schlange einen Apfel angeboten bekommt – überziehen die steinernen Oberflächen.
Die ganz große Schwester zieht mit dem Vierzehnjährigen los und ich mache die Runde mit dem Zehnjährigen, das ist gut. Jedes Kind darf in seinem Tempo staunen und entdecken. Dem Zehnjährigen und mir machen tatsächlich die vielen verschiedenen Wasserspeier am meisten Spaß, da gibt es einen Mönch und einen Drachen, eine Katze und einen Hund, einen Affen und einen Vogel, einen bärtigen Mann –
Später holt uns die ganz große Schwester in einen Ausstellungsraum, in dem auf einer viele Meter langen Schautafel die Geschichte des Klosters, die Geschichte Portugals und die Geschichte der Welt nebeneinander dargestellt sind. Hier könnten wir lange gucken und viel lernen. Natürlich war es der Reichtum des Kolonialreiches Portugal, der in der prachtvollen Architektur des Klosters zur Schau gestellt wurde! Wie sich die portugiesischen Seeleute immer weiter in die Welt hinausgewagt haben, sehen wir später noch an der Weltkarte, die ins Pflaster vor dem Denkmal der Entdeckungen integriert ist. Was muss das für ein Lebensgefühl gewesen sein, denke ich, in einer Welt, die sich mit der Rückkehr jedes Schiffes um neue Inseln, Küsten, Tiere und Pflanzen vergrößerte, die voller unentdeckter Wunder war?

Am Nachmittag fahren wir mit der allerberühmtesten alten Straßenbahnlinie, der Linie 28, die auf ihrer Route einige der steilsten – und häufig noch dazu kurvigen! – Streckenabschnitte weltweit bewältigt, in den schmalen Gassen manchmal so dicht an den Häusern, dass ich den Zehnjährigen ermahne, seinen Arm nicht zu weit aus dem alten – und natürlich weit offenen – Holzrahmenfenster zu strecken. Wir fahren bis zur Endstation, dem „Friedhof der Vergnügungen“, wo wir eine kleine Runde laufen und Steunhäuser ansehen, in denen die Toten hier bestattet – oder aufbewahrt? – werden. Die Steinhäuser bieten – wie alte Liegewagenabteile – meist rechts und links drei Plätze übereinander. Dazwischen – vorne – eine Tür und hinten ein kleines Fensterchen, unter dem auf einem Tischchen Fotos der Verstorbenen stehen, manchmal sogar Blumen.
Später steigen wir, nun wieder auf der anderen Seite der Baixa, zum „Miradouro da Senhora do Monte“ hoch und schauen hinunter auf die abendsonnenbeschienenen Dächer. Der Heimweg – bergab, berauf durch viele kleine Gassen – dauert uns fast zu lange, unsere Füße sind rechtschaffen müde, als wir endlich in der Ferienwohnung ankommen.

An unserem dritten Lissabon-Tag erleben wir wieder ein ganz anderes Abenteuer. Schon Wochen vorher hatte ich im Internet ein Jungs-Event gebucht: eine Tour durch das „Estadio de Luz“, das Stadion von Benfica Lissabon. Wir fahren mit der Metro zur angegebenen Station, und dann stehen wir erstmal vor einem ziemlich großen Problem: Das Stadion ist ringsum von Schnellstraßen umgeben, und es ist kein Eingang zu sehen, nirgends. Das ich noch dazu ganz dringend eine Toilette brauche, macht die Sache nicht besser, wir müssen die Suche abbrechen, ins nahegelegene Einkaufszentrum gehen, und nachdem dort auch die dritte von uns befragte Person in die selbe Richtung zeigt, in der keinerlei Eingang zu sehen ist, machen wir uns dann doch dorthin auf den Weg. Irgendwo gibt es tatsächlich eine Ampel über die Schnellstraße. Einen Parkplatz, den wir überqueren. Und dann eine Art Lieferantentor. Wir wagen uns hinein und haben es dann doch geschafft – ohne jede Ausschilderung. Die Führung startet auch gleich, ich übersetze aus dem Englischen, was die Kinder nicht verstehen, wir sehen Modelle des Stadions und der außerhalb von Lissabon gelegenen Trainingsanlagen von Benfica, und wenig später habe ich doch tatsächlich zum ersten Mal in meinem Leben eine Virtual-Reality-Brille auf der Nase, die die Umkleidekabine der Gegenmannschaft in die Umkleidekabine von Benfica verwandelt, die man in echt nicht betreten darf. Im Stadion selbst ist es dasselbe: Auf den Rasen dürfen wir nicht (wie sehr hätte ich es meinen Söhnen gewünscht, dort mal einen Ball in ein Tor schießen zu dürfen!), aber eine Zauberbrille lässt uns dann doch mitten auf dem Rasen stehen, während ringsrum die Fans toben und Feuerwerk abbrennen. Solange man nicht auf seine Füße schaut – die einfach verschwunden sind – kann man sich wirklich wie ein Spieler in einem spannenden Fußballmatch fühlen. In echt dürfen wir dann noch Benficas Maskottchen sehen: lebende Adler, die dort, wo normalerweise ein Tor stehen würde, auf Sitzstangen angekettet sind und angeblich jeden Tag trainiert werden, damit sie vor den Spielen eine große Runde über den Zuschauerrängen fliegen.

Die ganz große Schwester will mit dem Vierzehnjährigen noch die Alfama erkunden – eins der ganz alten Stadtviertel von Lissabon – und ich fahre mit dem Zehnjährigen ins Gulbenkian-Museum, das ich so gerne noch besuchen möchte. Wenigstens eine kurze Runde gehen wir durch die Säle mit den sehr schönen Ausstellungsstücken, Wandteppichen, Keramiken, Fliesen, Miniaturen – aber der Zehnjährige ist schnell erschöpft, so dass wir eine gemütliche Pause im Museumspark machen und dann zurück in die Baixa fahren und dort ein paar Souvenirs kaufen und Eis essen.

Ganz früh müssen wir am nächsten Morgen zum Flieger, mit der allerersten U-Bahn um halb sieben. Check-In-Automaten, übermüdete Kinder, das Durchwühlen meines Koffers an der Sicherheitskontrolle – wir überstehen das alles. Fliegen mag ich trotzdem erstmal nicht so schnell wieder (der ökologische Fußabdruck unseres Haushaltes hat durch die Reise gleich mehrere Größen zugelegt) – aber Städe besuchen mit meinen Kindern: das geht gut, das weiß ich jetzt. Amsterdam, Paris, Kopenhagen: Wir kommen. Irgendwann haben wir Zeit.

 

 

Von Elfchen, Kirsch-Schnecken… und dem Auja-Prinzip

Das mit dem Flamenco-Workshop ist jetzt schon zweimal schiefgegangen. Angemeldet, gefreut, kurzfristig was dazwischengekommen, abgemeldet, enttäuscht gewesen. Aber das Kreatives-Schreiben-Wochenende, das die ganz große Schwester mir letztes Jahr zum Geburtstag geschenkt hat, musste ich trotz aller Grippeviren nicht absagen. Hah!

Ein großer Nachteil von Münster ist, dass die Stadt nicht in der Nähe von Berlin liegt, was dazu führt, dass man zu einem Schreibkurs in Münster eine gute Weile fährt, in einem Intercity inmitten einer Gruppe niederländischer Männer, die von einer Konferenz in Berlin nach Hause fahren und aufgeregt über die geplante PKW-Maut diskutieren, während man selbst sich eigentlich gerade nur für die Frage interessiert, ob man eigentlich die Kopfschmerztabletten eingepackt hat. Dann steigt man in eine kleine Regionalbahn um und schaukelt zwischen Städtchen und Dörfern und Pferden hindurch bis Münster.

Statt Thiel auf dem Fahrrad begrüßt mich dort ein kühler Februarschauer (schade!), der Bus fährt schon mal ab, während ich noch den Weg aus dem von Baugerüsten umstellten Bahnhof suche, ich sitze in einem Imbiss vor einer mit Prilblumen verzierten Wand, gucke den Freitagsnachmittagspendlern zu, die zum Bahnhof eilen und erfinde (um ein bisschen in kreative Stimmung zu kommen) einen alten, verwitweten Mann, der am Bahnhof von Münster in einem mit Prilblumen verzierten Imbiss sitzt, auf seine Tochter wartet, den Freitagsnachmittagspendlern zuschaut, die zum Bahnhof eilen, und so deprimiert ist, dass er die wenigen bunten Farbtupfer (Regenschirme und Taschen und Jacken und Fahrräder) zählt, die er im Februargrau sieht. Vielleicht entschließt er sich ja, zu seiner Tochter nach Münster zu ziehen, wenn sich ein Stück blauer Himmel in einer Pfütze spiegelt? –

Dann kommt mein Bus. und eine Stunde später sitze ich zusammen mit neun anderen Frauen, einem wagemutigen Mann und der Kursleiterin – Susanne – an einer aus rauhen Holztischen zusammengeschobenen Tafel, einen Stapel Papier vor mir, einen gespitzten Bleistift in der Hand – und sehr, sehr neugierig auf das, was da an diesem Wochenende kommen wird.

Was kommt? Wir schreiben. Wir schreiben Listen und Elfchen (das sind Gedichte mit fünf Zeilen, auf die sich die 11 Wörter nach dem Schema 1-2-3-4-1 verteilen); wir schreiben „Morgenseiten“, wir gucken unsere unbekannte Nachbarin am Tisch an und dichten ihr in fünf Minuten ein Leben, wir definieren Substantive so ähnlich wie Sebastian23, wir bekommen ein Wort vorgelegt, aus dem wir einen Satz machen müssen; einen Satz, um den herum wir eine Seite aus einem Buch erfinden; eine Frage, aus deren Antwort dann wieder ein Text wird; wir erfinden Wörter und ihre Definitionen gleich mit – die Bleistifte kratzen übers Papier, das Schälchen mit dem Anspitzer wandert auf dem Tisch herum und füllt sich, die Neuronen in meinem Kopf sausen auf alten, halbvergessenen Kreativitätsbahnen durchs Hirn oder hüpfen ins Unbekannte und machen neue.
Die Texte werden vorgelesen. Das ist ein bisschen aufregend, wenn man nicht gewohnt ist, Texte vorzulesen, die man gerade eben in nur fünf Minuten geschrieben hat, aber eigentlich auch nicht so sehr, weil es fast allen am großen Holztisch so geht. Und was für wunderbare Texte da entstehen! Wir hören vom suizidgefährdeten Goldfisch; von einem alten Mann, der sich bei Gott über die Frivolität des Karnevals beklagt und am Ende Konfetti niest; von einem Ich-Erzähler, der überall nach Mustern sucht; einer Großmutter, die vieleviele jeweils entweder mit Kirschen oder mit Schnecken bestickte Tischdecken hinterlässt; einem Jungen, der mit einem Kumpel einen Feuerwerkskörper in den Briefkasten des Lehrers steckt, den er eigentlich mag. Wir hören, wir hören zu, gespannt, gebannt.

Abends und morgens stellen wir am großen Tisch in der Gästeküche die biblische Geschichte von der Speisung der Fünftausend nach; Selbstversorgung ist angesagt und alle haben dies und das mitgebracht. Der Brötchenvorrat wird von Mahlzeit zu Mahlzeit größer, am Abend stehen plötzlich fünf Flaschen Wein auf dem Tisch und vor der Abfahrt am Sonntagmittag sammeln wir die Reste ein und füllen elf Koffer. Aber soweit ist es noch nicht. Beim ersten Abendessen und beim ersten Frühstück werden am Tisch Fragen in diese und jene Richtung gestellt und die Geschichten erzählt, die wir selber erlebt haben, unsere Geschichten. Und dann wird wieder geschrieben. Schnell fühlt die Runde sich vertraut an. Das Wochenende vergeht schnell. Am Samstagabend ist der Kopf voll und die Schreibhand erschöpft, trotzdem würde ich gerne noch einen ganzen Tag lang von meinen Schreibseiten auf- und aus den großen Fenstern der umgebauten Scheune zum Himmel schauen, mit den anderen die Heck-Rinder in der Ems-Aue noch einmal besuchen, eine Nacht länger im klösterlich friedlichen Zimmerlein des christlichen Tagungshofes schlafen – fernab vom Alltag, den Stift griffbereit auf dem Nachtschränkchen.

Aber die letzte Schreibrunde – ein Manifest, ein Glaubensbekenntnis entwerfen wir da, unser ganz eigenes für den Moment – ist schneller als gedacht zu Ende. Es wird noch zur Messe geladen, zu Mittag gegessen und aufgeräumt. Dann stehe ich auch schon wieder vor den Baugerüsten am Bahnhof Münster. Es regnet auch wieder.

Zu Hause hat der Zwölfjährige auf den Anrufbeantworter geklagt, dass er schrecklich gerne bei mir schlafen möchte, er kommt um halb neun noch von seinem Papa zu mir und wir erzählen ein bisschen.
Gegen seinen Montagmorgenfrust versuche ich gleich mal, mit dem „Auja!“-Prinzip anzugehen, das ich auf dem Schreibkurs gelernt habe. Eine total doofe Rolle, die man im Improvisationstheater plötzlich spielen soll (da kommt das nämlich her): „Auja!“ rufen und machen. Eine eher sperrige Schreibaufgabe bekommen (dabei hat uns Susanne das Prinzip erklärt): „Auja!“ rufen und zum Stift greifen. Montags in die Schule müssen?
Ruf doch mal „Auja!“, schlage ich dem Zwölfjährigen vor und ernte einen bitterbitterbösen Blick.

Aber ich setze mich hin – nach dem Frühstück, bevor ich den Zwölfjährigen noch ein bisschen nerve motiviere und wir gemeinsam losgehen – und schreibe in mein schönes schwarzes Heft. Zehn Minuten lang. Morgenseiten. Vielleicht morgen nicht, aber wenigstens heute.

Tagebuchbloggen im Februar

Nach langer Zeit möchte ich mich heute wieder beteiligen, wenn Frau Brüllen wie an jedem 5. eines Monats fragt „was machst Du eigentlich den ganzen Tag?“ – Alle Antworten wie immer dort; meine hier.

2.30 Ich schlafe nicht. Mein Kopf tut weh, sämtliche Haupt-, Neben-, Stirn-, Nasen-, Kiefern- und sonstige Höhlen sind verstopft. Grippezeit, bäh! Sogar die Luft, die ich einatme, tut mir in der Nase weh, das gibts doch nicht! Ich gebe auf. Licht an. Das zart unterwasserblau gestrichene Zimmer der mittleren Nichte erscheint, wir befinden uns in Thüringen, seit zwei Tagen liege ich hier ziemlich viel herum, statt wie geplant mit meinen Schwestern und Schwägern den Geburtstag der ganz großen Schwester zu feiern und gemeinsam Zeit zu verbringen. Meine Kinder sind mit ihrem Vater bei den väterlichen Großeltern und kurieren dort (hoffentlich!) ihre Erkältungen aus. Ich greife zur Schachtel mit den Schmerzmitteln. Es ist großartig, wie das Pochen, Drücken, Brennen und Stechen in Hals, Kopf und Nase nach einer Weile nachlässt und der Schlaf vorsichtig immer näher kommt.

8.00 Ich wache auf. Mit Murren und Ächzen schleiche ich ins Bad. Hinterher Koffer packen, Bett abziehen, nächste Schmerztablette – denn da steckt eine Rückfahrkarte nach Berlin für später am Morgen in meiner Tasche. Ich ziehe mein Bett ab und stopfe es zusammen mit meinen Handtüchern in die Waschmaschine der großen Schwester. Was ich tun kann, damit sich hier nicht alle anstecken, das will ich gerne tun.

8.30 Lecker Sonntags-Frühstück mit den Schwestern und Schwägern. Brötchen, leckerer Genießerkaffee (wie er hier genannt wird), gekochte Eier, Unterhaltung. Der ganz große Schwager liest aus dem „Verkehrten Kalender“ vor, in dem Zitate Menschen oder Institutionen zugeschrieben werden, von denen sie garnicht stammen. „Wenn sie kein Brot haben, dann sollen sie doch Kuchen essen“ – Coppenrath & Wiese. Zum Beispiel. Oder: „Ein Freund ist einer, der alles von dir weiß und dich trotzdem mag“ – Mark Zuckerberg. Das ist sehr, sehr hübsch und lenkt ein bisschen davon ab, wie schwer es ist, das Naseschnauben immer wieder möglichst lange aufzuschieben.
Ich streiche mir zwei kleine Reisebrötchen, die große Schwester füllt eine Flasche mit Schorle und steckt mir noch eine Dose mit Gemüse vom gestrigen Mittagessen zu.

9.50 Der große Schwager fährt mich zum Bahnhof, die große Schwester kommt noch bis zum Zug mit. Ohne Umarmungen, aber mit viel Liebe verabschieden wir uns. Die Regionalbahn zockelt mit allerlei Unterwegshalten Richtung Erfurt. Ich stöbere in meinem WordPress-Reader und verkneife mir das allzu häufige Naseschnauben.

11.00 Umsteigen in Erfurt. Ich erwische einen nicht reservierten Zweierplatz und packe meine Tasche neben mich in der Hoffnung, allein zu bleiben. Das klappt nicht, der Mann, der auf dem Platz vor meinem die Reservierungsschildchen übersehen hat, rutscht zu mir nach hinten. Ich lese meinen Reader leer, esse eine Mandarine, verkneife mir … (richtig), bemerke, dass mein Nachbar auf seinem Smartfone Patience spielt, obwohl er das hinter seiner Hand zu verstecken versucht und habe nicht mal genug Platz, um meine Brötchen auszupacken.

12.00 – 12.50 Ich schaue aus dem Fenster. Draußen ist es deprimierend. Graubraun wie ein alter Scheuerlappen liegt das Land vor dem Zugfenster. Alle Häuser sehen farblos aus, alle Betriebe wie Industrieruinen. Milchig angetautes Eis liegt in Tümpeln zwischen abgestorbenen wirkenden Gehölzen und auf schlammigen Wegen durch verblichene Kiefernwälder. Ein paar Windräder drehen sich gleichgültig vor dem grauen Himmel. Bis auf einen Mann, der einen graubraunen – natürlich – Hund ausführt und zwei ältere Frauen auf Fahrrädern vor der – grauen – Mauer neben dem Eingang zur Kleingartenanlage „Eigene Scholle“ gibt es kein Zeichen menschlichen Lebens.
Ich stelle mir vor, dass ich die vorbeifliegende Böschung zwischen Halle und Berlin filme – geschwindigkeitsverschwommene graue und braune und schmutzigweiße Streifen, die immer mal ein wenig breiter oder schmaler werden – und mit der Veröffentlichung dieses Films unter dem Titel „Die Trostlosigkeit einer ICE-Fahrt im Winter“ weltberühmt werde. Unterlegen würde ich den Film mit dem Husten des Kindes drei Reihen hinter mir, gelegentlichem Zeitungsseitenrascheln, dem Klicken der Handy-Kamera von rechts (was in aller Welt gibt es auf dieser Strecke zu fotografieren???), und dem Tastenklappern des Laptops da vorne.

12.50 bis 13.10 Zähle buchstäblich jede Minute bis zur Ankunft.

13.10 Südkreuz. Endlich! Hier ist es noch kälter als in Thüringen. Zum Glück kommt meine S-Bahn ganz schnell.

13.30 Zu Hause. Erleichtert Aufseufz! Türhintermirzuschließ! Taschefallenlass!
Ich wecke die Heizung aus ihrem Dornröschenschlaf, mache heißen Tee, wärme mir das Gemüse auf, das die große Schwester mir mitgegeben hat und esse die Reisebrötchen dazu. Ich nehme die nächste gritzegrüne Sinupret-Pille und stecke den Kopf old-school-mäßig über einem Topf mit ganz heißem Salzwasser unter ein Handtuch. Das tut gut!

14.30 – 16.00 Sofa. Alte Folgen von „Mord mit Aussicht“.

16.15 Ich rufe die Mitmutter an und mir schwatzen eine Weile. Hauptsächlich schmieden wir Pläne, was wir alles machen können, wenn a) ich wieder gesund bin b) ich mal abends noch Lust habe, ohne meine Kinder zu ihr zu kommen und c) endlich Frühling ist.

17.30 – 18.30 Ich lege ein bisschen alte Wäsche weg, koche noch einen Tee und noch ein Inhalierwasser, mache mir Brote, erfahre aus einer sims des liebsten Freundes, dass der heutige Tatort in Weimar spielt. Das Heimat-Herz schlägt hoch. Da meine Kopfschmerzen bisher nicht wiedergekommen sind, nehme ich mir vor, den vom Krankenbett aus noch zu gucken, sehr schön!

Dann Rechner an – Zeit zum Bloggen.

Das eine und das andere Nah

Es ist kurz vor Silvester. Die Stimme der großen Patentochter, die laut darüber nachdenkt, ob sie trotz ihres hohen Fiebers eine geplante Urlaubsreise antreten kann, füllt meine Küche. Als sie ihre Argumente vorgetragen hat, die im Wesentlichen darauf hinauslaufen, dass es sehr, sehr schade wäre, den schönen Urlaubsplan platzen, die schöne Gelegenheit verstreichen zu lassen, antwortet ihr ihre Mutter – meine ganz große Schwester – und rät zu größter Vorsicht, weil man mit hohem Fieber dann lieber doch nicht leichtfertig umgeht.

Es könnte ein ganz normales Gespräch sein – aber die Stimme der großen Patentochter kommt via Whatsapp aus Uruguay und auch meine Schwester (immerhin ist wenigstens sie leibhaftig in meiner Küche) spricht nur eine Sprachnachricht auf.

Wenige Tage später bin ich wieder mit der ganz großen Schwester zusammen, und wir beobachten, wie der Flieger mit der großen Patentochter dem Flughafen entgegenschwebt, zur Landung ansetzt und elegant auf der Landebahn aufkommt.

Aber auch dieses Mal können wir die große Patentochter nicht in die Arme schließen, wir sitzen – mit dem begeisterten Elfährigen – vor Flightradar24 und haben eben schon das Flugzeug des ganz großen Schwagers, mit dem er nach Lateinamerika zu seiner Tochter unterwegs ist, ungefähr an der großen Ecke von Afrika entdeckt und eine Weile beim Weiterruckeln beobachtet. Die große Patentochter, die nun wieder gesund ist und einen kleinen Ersatz-Urlaub macht, bevor sie ihren Vater trifft, landet gerade in Ushuaia. Feuerland. Und wir jubeln ihr gemeinsam auf die Mailbox, dass wir sie gerade haben ankommen sehen.

„Nah“ und „fern“ sind schillernde Begriffe geworden.

Die ganz große Schwester verbringt nun zwei wunderbare, lange Wochen bei mir, während ihr Mann in Lateinamerika ist. Wir frühstücken zusammen, und während ich arbeite, läuft sie viele Stunden durch die Stadt; erkundet Parks und neue Viertel, macht den Einkauf, hängt die Wäsche ab und neue auf, räumt dem Elfjährigen (möge er ihr für immer dankbar sein!) das vorpubertäre Chaoszimmer auf, geht nochmals zwei Stunden raus, trifft Freunde und ist wieder da, wenn ich müde aus dem Büro komme.
Wir kochen zusammen; wir holen einen Film aus der Videothek oder schalten einen Krimi ein; wir lesen Gedichte vor und reden.
Am Wochenende hat meine ganz große Schwester mich Einsiedlerin so weit, dass ich an beiden Tagen mit ihr rausgehe und wir gemeinsam durch Berlin laufen; vom Schlesischen Tor zum Passage-Kino; vom Südstern durch die Bergmannstraße und die Akazien- und Golzstraße bis zum Nollendorfplatz. Ich zeige hierhin und dorthin, in diesem Café habe ich mal jemanden zum ersten Mal getroffen, dort kann man diesunddas gut kaufen; da oben wohnte derundder; dort müssten wir mal essen gehen, da ist es lecker, da drüben könnte man noch langlaufen und bis zur Jannowitzbrücke kommen –

Ich merke, dass ich wieder Spaß an meiner Stadt finde, in der ich mich in letzter Zeit fremd gefühlt habe. Ich merke – ich habe mal wieder eine Gelegenheit, zu merken – wie viel Freude es mir macht, eine Weile „zusammenzuleben“, nicht alles allein tun zu müssen, mich nicht zu verabreden und trotzdem am Abend noch ein paar Alltäglichkeiten austauschen zu können und ein gemeinsames Nippchen Wein zu trinken. Etwas in mir taut auf.

Das „echte“, analoge Nah tut wohl. Irgendwann möchte ich mal nicht mehr allein mit mir und meinen Kindern leben. Euch nahen fernen Menschen sprechen und schreiben wir dann trotzdem noch Nachrichten. Verspochen!