Schlagwort-Archive: Sommer

Auf der Schwelle

Wir haben die ersten Lebensveränderungen dieses Sommers hinter uns.

Gut klappt die Zusammenarbeit mit der neuen Chefin – bisher – ; alles aus dem Homeoffice, andere Teammeetings, ein anderer Führungsstil, aber erstaunlich reibungslos. Ein paar Abläufe haken noch, aber das wird schon.

Zehn Jahre hat der Vater meiner Kinder genau drei Türen weiter in der gleichen Straße gewohnt, seine Freundin im Hinterhof gegenüber, ihre abendlichen Rufe nach ihrer Katze gehörten in den Hof wie das Zischen des Rasensprengers und die Krähenschreie. Schön war diese räumliche Nähe für die Kinder; schwierig für mich; vieles war unkompliziert zu regeln, die andere Wohnung mit den vergessenen Dingen immer nur ein paar Schritte entfernt. Seit zwei Wochen lebt der Vater meiner Kinder nun mit neuer Frau, neuem Kind und großem Wechsel-Patchwork im Nachbarbezirk. Auch das muss sich einspielen. Beide Kinder wollen im gewohnten Wechselrhythmus bleiben. „Bei uns ist das so“, sagen sie, wenn sie von ihrem Vater kommen, und ich werde ganz klein angesichts von so viel „uns“. Eure Mutter ist ganz neidisch auf unsere schöne Wohnung, zitiert der Elfjährige die Frau seines Vaters, und ich würde gerne wütend nach dem Telefon greifen und mir dergleichen Bermerkungen verbieten, aber dann lasse ich es bleiben; beim nächsten Vorfall ist ein Gespräch fällig. Den Kindern kein Elternteil schlechtzumachen sollte doch eine Grundregel sein?

Jetzt steht der Berliner Schulbeginn bevor. Wir haben größtmögliche Sicherheitsmaßnahmen ergriffen, tönt es aus der Berliner Bildungspolitik; es wird Seife auf dem Klo geben und die Fenster sollen geöffnet bleiben – und: Maskenpflicht immer und überall – außer im Unterricht. Dort ist auch das Abstandsgebot aufgehoben, die Schulen und Klassenräume sind nämlich sowieso zu klein. Während die ersten Schulen in Mecklenburg-Vorpommern schon wieder schließen müssen, startet Berlin sein großes Wie-schnell-stecken-sich-Schüler-gegenseitig-mit-Corona-an-Experiment. Für einige Kinder oder Eltern wird das schlecht ausgehen, tödlich vielleicht, statistisch beinahe unvermeidlich. Können wir uns schützen? Nein. Habe ich Lust auf weitere Monate des Homeschoolings? Auch nein. Ich weiß also auch nicht, was tun; kaufe dem Elfjährigen zwei FFP2-Masken für die überfüllte S-Bahn und Desinfektionsgel für die Hände und rate ihm, im Unterricht eine Papiermaske zu tragen. Aber in der 10. Klasse, in der der Fünfzehnjährige noch ein Jahr mit all den Kindern ausharren muss, mit denen er sowieso schlecht zurechtkommt, dürfte das Maskentragen so uncool sein, dass er es nicht freiwillig während der Unterrichtsstunden machen wird.

Und die Hitze rollt über die Stadt. Während die Natur ächzt und leidet, haben wir es unverschämt gut: Wir schließen die Fenster und auf der Sonnenseite die Gardinen. Wir fangen Brauchwasser auf und haben – weil das nicht reicht – genug Trinkwasser, um am Abend die Balkonblumen zu gießen und die Bienentränke zu füllen. Wir fahren am Morgen zum See und bleiben fast den ganzen Vormittag im Wasser; wir treffen uns am Abend mit Freunden auf dem Restaurantschiff; wir essen Eis und radeln in der nächtlichen Kühle nach Hause zurück; wir trinken sauberes Wasser und schneiden Melone auf; wir kaufen Zeitfenstertickets fürs Schwimmbad und hoffen auf verkürzten Unterricht an den heißen Tagen.

Wir genießen den Sommer, so viel wir können.
Wir beginnen einen neuen Abschnitt, mit mehr Ungewissheit als sonst.
Ich möchte die Schutzengel meiner Kinder bestechen und einen Regentanz tanzen.

Eigenzeit

Während meine Söhne mit ihrem Vater Urlaub machen, habe ich ein paar Tage in Berlin, an denen ich – abgesehen von meiner Arbeit, und die findet weiterhin zu Hause statt – ganz und gar selbst entscheiden kann, was ich tue. Und wann. Struktur gibt mir nur der Kater der Mitmutter, der zweimal am Tag sein Futter haben will, das ich ihm gern gebe, weil die Mitmutter dafür gesorgt hat, dass auf meinem Balkon kein Blättchen verwelkt ist, als wir in Dänemark waren.

So viel Zeit für mich allein habe ich selten. Und ich genieße sie.

Nach wenigen Tagen finde ich meinen Rhythmus: morgens das Radio an und ein bisschen Haushalt. Frühstücken auf dem Balkon, während der Hinterhof noch den Nebelkrähen gehört, die Wespen noch nicht um mein Himbeermarmeladenbrot schwirren und die Frühschichtbienen sich um die frisch aufgeblüten Trichter der blauen Winden kümmern. Hinterher zum Kater und dann vor der Arbeit noch ein paar MInuten ganz still im Sessel am hellen Fenster sitzen.

Im Kühlschrank steht ein Topf Gemüse, vorgekocht für mehrere Tage, daraus ist mittags schnell eine Portion in die Pfanne geschöpft und ein Essen improvisiert. Kaffee und Kräutertee zum weiterarbeiten. Nach der Arbeit irgendwas erledigen – den gesammelten Elektroschrott des vergangen Jahres zum Müllhof bringen, alte Medikamente in die Apotheke, die Uhr im Zimmer des Elfjährigen reparieren, Fotos ausdrucken, einen Einkauf vorbestellen – und alle zwei Tage an den nahesten Badesee, schwimmen, einfach geradeaus. Radfahren. Beides schieres Körperglück, wie lange sich das wohl durchhalten lässt, in den September hinein? Den frühen Oktober?

Abends noch draußen im Park sitzen oder zu Hause faul einen Film anstellen. Der Hannoverliebste sitzt per Videoanruf ein paar Minuten beinahe neben mir.

Besäße ich irgendeine Form von Ehrgeiz, dann würde ich jetzt große Dinge bewegen, Weiterbildungen anfangen, die Welt retten. Wenigstens schnelleres Internet einrichten. Oder so. Vielleicht müsste ich dafür auch nur ein klein wenig länger allein sein, versuche ich mir einzureden, drei oder vier Monate statt nur drei halbe Wochen. Wer weiß.

Aber diese Zeit ist so schön, weil sie kurz ist. Meine Sommeratempause, nach der wir hier wieder zu dritt und hochtourig leben werden. Nach der es Herbst werden darf.

Jetzt aber soll Sommer sein, und für ein paar Tage gehört er nur mir.

Blausammler

Unser Kinderkoffer. Brandenburger Felder, durchsetzt mit Natternkopf, Kornblumen, Bienenweide. Container und Beladeanlagen im Rostocker Hafen. Der mit flockigen Wolken besetzte Himmel. Schutzmasken aus Papier. Die Warnschilder in der Fähre: Please do not sit too close to others. Und das weite, blasse, sommersanfte Meer. Endlich das Meer.

halbundhalb

Dieses Jahr fahren wir erst im Herbst richtig in den Urlaub. Deshalb habe ich im Sommer zwei Wochen lang halbe Tage freigenommen während der Zeit, in der der Vierzehnjährige und der Zehnjährige bei mir sind. Diese beiden Wochen liegen nun hinter uns… und das Experiment ist gelungen.

Nein, erholt habe ich mich nicht. Glaube ich. Höchstens marginal. Aber es hat gut geklappt, dass die meine Söhne vormittags allein waren und dies und das im Haushalt erledigt haben. Und was haben wir nicht alles gemacht! Einen Draisinenausflug mit dem liebsten Freund. Viermal Lieblingsschwimmbad. Dreimal an der einen und zweimal an der anderen Tischtennisplatte gespielt, dabei dem Sohn der anderen Mitmutter das Tischtennisspielen vermutlich dauerhaft verleidet, obwohl ich versucht habe, ihm immer mal einen Punkt zu schenken. Ein Augenarzttermin. Einmal Public Viewing und einmal Kino für den Vierzehnjährigen. Etliche feinste Frauen-Fußballspiele vom Sofa aus gesehen – und heftig über die Bezeichnung Frauen-Weltmeisterschaft geschimpft. Wer ist denn auf diese bescheuerte Idee gekommen, es ging doch um Fußball und nicht darum, wer Weltmeister im Frausein wird? Außerdem Sauerkirschen vom Baum gerettet und zweimal Schneewittchenkuchen gebacken. Einen unspektakulären krummen Geburtstag tiefenentspannt gefeiert. Zweimal Besuch gehabt. Freunde im Schwimmbad und auf dem Fußballplatz getroffen. Monopoly, Mah-Jong und Skat gespielt. Abends manchmal vorgelesen. Abends manchmal übriggebliebene Kartoffeln oder Schokoladenkuchen gegessen und kein Abendbrot gemacht. Mittags Wunschessen gekocht. Ziemlich viel Eis spendiert. Neue Sportsachen für die Schule gekauft und nebenher auch das meiste sonstige Schulmaterial besorgt und vorbereitet. Insgesamt etwa 30 Stunden gearbeitet. Über ein Stellenangebot in der Nachbarabteilung in meiner Firma gegrübelt, mit dem potentiellen Chef gesprochen und dann unter Schlaf- und Ess-Störungen gegen eine Bewerbung entschieden (vermutlich richtig). Am Ende große Ikea-Taschen mit allem vollgepackt, was der Vierzehnjährige und der Zehnjährige im Urlaub mit ihrem Vater brauchen werden – und für fast drei Wochen Abschied genommen.

Jetzt liegt die große Freiheit vor mir, naja, die kleine vielleicht, bei näherer Betrachtung. Arbeiten, ohne jemandem versprochen zu haben, wann ich zu Hause sein werde. Einen Nachmittag im Café mit der Patentante des Vierzehnjährigen verbringen, die ich ewig nicht mehr in Ruhe gesprochen habe. Katzensitting bei der anderen Mitmutter. Der Hausverwaltung auf die Füße treten, die veranlassen muss, dass der Heizkörper im Badezimmer ausgetauscht wird. Mich noch weiter um das Röntgen des Problemzahns drücken. Ein Termin bei der weltbesten Osteopathin, einer beim Anwalt und ein Experiment in systemischer Familienarbeit (letzteres beides im Zusammenhang mit dem Patchwork-Familiennachwuchs und den Umzugsplänen auf Seiten des Vaters meiner Kinder – ersteres zum Glück zu meinem reinen Privatvergnügen). Eine große Geburtstagsparty bei der ehemaligen Nachbarin. Ein halber Regalmeter Bücher, die ich unverhofft geschenkt bekommen habe. Und vielleicht anderthalb Tage am Meer.

WmdedgT – 6/2019: Konfirmationsvorbereitungen

Schon wieder hat ein Monat begonnen – „Schöne Familienfeste gestalten“ ziehe ich aus dem Kistchen, in dem ich an Silvester für jeden Monat ein Projekt oder einen Vorsatz notiert habe – und am 5. fragt Frau Brüllen wie üblich nach, wie wir den Tag verbracht haben.

Voila:

Aufstehen ist halb sieben, weil der Vierzehnjährige erst zur 2. Stunde Unterricht hat. Wach werde ich wie üblich schon um fünf, mache die Balkontür auf, weil es jetzt eine Chance auf einen kühlen Luftzug gibt, lege mich wieder hin und höre mit einem halben Ohr den Vögeln draußen (das heurige halbwüchsige Krähenküken scheint schon hungrig) und mit dem anderen halben Ohr den Sorgen drinnen (die sich die To-Do-Liste für die Konfirmation am Sonntag vorgenommen haben) zu.

Halb sieben stelle ich froh fest, dass ich nochmal geschlafen habe.

Ich gehe schnell ins Bad, weil ab sieben die Lieferung des Einkaufs für die Konfirmationsbäckerei ansteht und mache dann Frühstück für den Vierzehnjährigen und mich. Nebenbei entwickeln wir einen Plan, wie wir bei angekündigten 26 Grad Celsius sechs Kuchen, zwei Töpfe Suppe, anderthalb Kilo Frischkäse und ungefähr genausoviel Weißkrautsalat – nebst Sekt und Weißwein etc. – von Samstag bis Sonntagnachmittag kühl halten, wenn wir nur einen kleinen Kühlschrank vor Ort zur Verfügung haben. Dann fällt dem Vierzehnjährigen ein, dass er schon eine Bücherliste fürs neue Schuljahr hat und dann, dass er die von der Schule gestellten Bücher fürs laufende Schuljahr heute abgeben muss. Leichte Hektik, aber er verlässt trotzdem pünktlich das Haus.

Ich habe mir einen Tag Vorbereitungsurlaub genommen und warte deshalb in aller Ruhe auf meinen Einkauf. Nebenbei: Wäsche falten und wegräumen, Anmeldung des Vierzehnjährigen zur Junge-Gemeinde-Woche ausfüllen, diverse Konfirmationsgäste nach ihren Ankunftszeiten fragen, meine Schwestern um das Mitbringen diverser Dinge (Kühltasche, Kühlakkus, Klappkisten) bitten, Mails checken, geschätzte Überlänge des Konfirmationsgottesdienstes wird vom Jugendpfarrer bestätigt, also Ankunftszeit des Caterers nach hinten verschieben, Vermieter der Ferienwohnung anrufen und um fünftes Set Bettwäsche bitten, außerdem nachfragen, ob wir in der Ferienwohnung wohl zwei große Töpfe Suppe im Kühlschrank einlagern können.

Der Einkaufslieferant muss das Kartenzahlgerät im Treppenhaus eine ganze Weile in verschiedene Richtungen halten, bis eine Verbindung zu Stande kommt. Beim Auspacken erst merke ich, dass mir die nicht lieferbare Sprühsahne durch 3 Dosen dubioses Margarine-Cremafinozeugs ersetzt wurden – blöde Idee, hätte ich etwas ohne Sprühen gewollt, hätte ich doch etwas ohne Sprühen bestellt… Sprühsahne kommt also mit auf die Extra-Liste, kurz vor zehn stehe ich an der S-Bahn und fahre ins nächstgelegene Einkaufszentrum. Da im Online-Tool der Deutschen Bahn aus irgendeinem Grund meine bevorzugten Zahlungsoptionen nicht mehr zur Verfügung stehen, gehe ich als erstes zur DB-Fahrkartenagentur und schaue von meinem Platz in der Warteschlange aus geduldig einem älteren Herrn zu, der eine eher komplizierte Verhandlung mit der Angestellten führt. Einige Zeit später führe ich eher komplizierte Verhandlungen mit der Angestellten, die die Wartenden in der Schlange hinter mir die Augen verdrehen lassen. Ich möchte eigentlich nur eine Fahrkarte nach Thüringen, aber ich bin daran gewöhnt, alle Optionen auf dem Bildschirm vor mir zu haben und erst ganz zuletzt eine Entscheidung über Sitzplätze, Spar-, Superspar-, Extrasuperspar- und Cityticket-Angebote treffen zu müssen. Also verwirre ich die Angestellte durch Nachfragen und Umentscheiden, dann vergisst sie eine Änderung, die Karten müssen storniert und neu ausgedruckt werden – und hinterher habe ich auch noch das Gefühl, dass das Ganze online ganz bestimmt weniger gekostet hätte.

Als nächstes brauche ich eine Chormappe in schwarz für den kleinen Auftritt im Konfirmationsgottesdienst, das ist einfach, und dann verschluckt mich die Riesen-Einkaufshalle, in der es ganz bestimmt alles gibt (sogar gelbe Götterspeise für eine experimentelle Zitronentorte und Sprühsahne sowieso), in der ich aber längere Zeit herumirre, weil ich sonst nie hier einkaufe und außerdem auch nur Dinge auf der Liste habe, die ich normalerweise nie brauche. Trotzdem bin ich gegen elf schon wieder zu Hause. Ich halte einen ganz kleinen Schwatz mit der alten Dame von gegenüber, die sich noch ein wenig auf ihrem Balkon aufhält, bevor sie die Jalousien schließt und sich vor der Hitze schützt. Ich muss gleich nochmal los, ich brauche noch sieben Kleinigkeiten aus diversen Läden im Kiez und freue mich, dass alles erhältlich ist – sogar dunkelblaue Füßlinge passend zu meinen allerfeinsten neuen Schuhen. Zwischendurch schaue ich bei der Mitmutter im Allesladen vorbei, aber die muss arbeiten, der Chef steht hinter ihr, wir verabreden uns nur kurz auf einen Kaffee für Donnerstagmorgen.

Gegen zwölf bin ich wieder in meiner kühlen Wohnung. Der Vierzehnjährige hat heute hitzebedingt verkürzten Unterricht und schon angekündigt, dass er nicht in der Schule essen, sondern von mir bekocht werden möchte. Ich bereite Bohnensalat vor und werfe Thüringer Bratwürste in eine Pfanne, als das Kind eintrifft und bestätigt, tatsächlich sehr hungrig zu sein. Ich feiere meinen Urlaubstag mit einem kleinen Mittagsnickerchen, anschließend koche ich mir einen Kaffee und zwinge bringe den Vierzehnjährigen dazu, sein Zimmer aufzuräumen, weil morgen jemand zum Putzen kommt. Aufräumbedingt füllt sich der Wäschekorb, also stelle ich eine Maschine Wäsche an. Der Vierzehnjährige geht zum Friseur, sieht hinterher angemessen schick aus und übt wie abgesprochen Schlagzeug. Ich habe derweil noch eine Verabredung mit einigen Schmuddelecken in der Küche, unter anderem dem Küchensiphon, der häufiger mal gereinigt werden muss, seit ich möglichst viel Wasser, das sonst beim Gemüsewaschen oder vor dem Abwasch einfach abgeflossen wäre, für meinen Balkon auffange. Ein paar Absprachen mit dem Vater der Kinder sind auch noch zu treffen, denn der Zehnjährige kommt am Donnerstag von der Schule zu mir und hat hitzebedingt wie sein Bruder zeitigeren Schulschluss.

Irgendwann sind aber die meisten Dinge erledigt. Der Vierzehnjährige und ich setzen uns mit einem Teller voll Melonenstücken und Erdbeeren auf den Balkon, wir haben Zeit für ein Spiel und am Abend – nachdem der Vierzehnjährige noch mit ganz wenig Murren sämtliche Pflanzen auf dem Balkon gegossen hat – für einen Krimi aus der Mediathek. Vorher ist noch kurz die große Schwester am Telefon; hinterher – als der Vierzehnjährige schon im Bett liegt – der liebste Freund.

Und dann sitze ich draußen auf dem Balkon, es dämmert, die Luft kühlt ab, Fledermäuse schwirren. Eine halbe Hilfe-für-schlaflose-Zeiten-Tablette einnehmen. Drei Seiten lesen. Schlafen.

Der Sommer

Vorbeigerauscht ist der Sommer.

Der Neunjährige und der Dreizehnjährige haben einen kleinen, aber feinen Patchwork-Familien-Urlaub mit ihrem Vater verbracht; bei mir ist unterdessen Nichte II für die Dauer eines Praktikums eingezogen. Ohne Angst um meinen geliebten Balkon, meine kleine Stadt-Oase, sind die Kinder und ich Ende Juli nach Dänemark aufgebrochen, mit Koffern und Rucksäcken bepackt, mit Zug und Fähre wie immer.

Dänemark war sizilianisch heiß. Es gab Frühstücke auf der Terrasse des Ferienhäuschens; Schwimmen am Vormittag; Essen und Ruhen im Schatten von Erle und Lärche in den heißen Stunden, Kartenspiele am Nachmittag, Baden gegen Abend und mehr Spiele nach dem Abendessen. Reife Brombeeren kiloweise an verschiedenen Hecken. Frische Brötchen jeden Morgen. Keine Blaualgen, aber Weltuntergangsstimmung angesichts der Hitze, der Dürre, der Brände, der hungernden Tiere, der viel zu seichten Flüsse. Wir lesen Rosendorfers „Briefe in die chinesische Vergangenheit“ vor, auch der war schon pessimistisch, was die Welt der Großnasen anging. Nachts laufen wir zum Strand und schauen zu den Sternen hoch, lernen den Herkules zu erkennen, das Hörnchen vom Steinbock direkt über dem tiefroten Mars; den Krug, aus dem der Wassermann einen dicken Strahl ins Meer gießt. Den Kameloparden, den man eigentlich garnicht sieht, weil er aus schwach leuchtenden Sternen besteht und nur als Sternbild definiert wurde, um die Leerstelle zwischen Fuhrmann und großem Wagen zu füllen.

Nach zwei Wochen ist unsere Urlaubszeit um. Zu Hause erwartet uns Nichte II, hat eingekauft, Pizza gebacken, Zeit. Wir schmieden Pläne, wollen auf dem Schlachtensee das Stehpaddeln ausprobieren, den Unverpackt-Laden kennenlernen, vom Klunkerkranich aus über die Stadt schauen.

Aber nach nur zwei Tagen Arbeit hebelt mich ein sommerlicher Grippevirus von den Füßen. Nichts geht mehr, wochenlang. Der Sommer rauscht seinem Ende entgegen, während ich auf dem Sofa liege, Zwiebelsaft trinke, den Kopf tief in den Inhaliertopf stecke und weder  meine Halsschmerzen noch das traurige Sommergefühl loswerde, auf einem sterbenden Planeten zu leben.
„Rekordsommer“, sagt der Radiosprecher – viel Zeit habe ich, ihm zuzuhören – mit angenehmer Stimme, und „Erderwärmung“ und „Kohleausstiegskommission“ und „Hambacher Forst“ und „Dresden“ und „Chemnitz“ und „Mutter aller Probleme“ und „Great Pacific Garbage Patch“ und „Afrikanische Schweinepest“ und wieder von vorn.

Nirgendwo ein Populist in Sicht, der verspricht, den Flug- und Autoverkehr massiv einzuschränken, die Massentierhaltung zu verbieten, den Kohle- und Atomausstieg effektiv durchzuführen, Plastikverpackungen zu verbannen. Ich wäre anfällig, so jemanden zu wählen, nach diesem Sommer mehr als je.
Bis dahin lese ich „Genug“ von John Naish und Blogs über Zero Waste und versuche, es selbst ein bisschen besser zu machen, hier und da.


Zum Lesen: Ben Lecomte schwimmt von Tokyo nach San Francisco, um auf den Müll in den Weltmeeren aufmerksam zu machen.

 

Bald, bald

Die Ferien rücken näher und sind nur noch zwei Sommerfeste, ein Schulfußballturnier, einen Grillabend, ein Musikschulvorspiel, zwei Nachsorgetermine beim Kinderchirurgen, einen Konfirmandengottesdienst, eine Kindergeburtstagseinladung mit Lasertag (zu der der Dreizehnjährige UNBEDINGT hingehen will), einen Ausflug-zum-Sommerbad (bei dem der Neunjährige sich wahrscheinlich wieder erkälten wird), einen Termin im Bürgeramt Hellersdorf um 7.54 Uhr zur Anschaffung eines Personalausweises für den Dreizehnjährigen und eine Geburtstagswanderung weit entfernt.

Die Sommerparty, die fürs Büro gegeben wird, ist dabei nicht mitgerechnet, denn an der kann ich sowieso nicht teilnehmen (wegen: siehe oben). Ein Wunder, dass ich eingeladen wurde – mein Default-Arbeitsmodus der letzten Wochen ist Homeoffice mit Kinderkrankenpflege und Urlaubsvertretung innerhalb der Abteilung. Wahrgenommen wird das – fürchte ich, entnehme ich dem, was über andere KollegInnen im Homeoffice gesagt wird – als „sie ist schon wieder nicht da“.
Der Chef wünscht mir für die beiden Tage, die ich wegen des Kinderchirurgentermins des Dreizehnjährigen mit Krankschreibung zu fehlen angekündigt habe, einen „schönen Sonderurlaub“. Aber er entschuldigt sich, er hatte dem Grund meiner Abwesenheit in seinem eigenen – dreiwöchigen – Urlaub vergessen.

Auf dem Wohnzimmertisch steht ein neues, aus Nachhaltigkeitsgründen gebraucht gekauftes Laptop und blinzelt mir verschwörerisch zu. Ich werde es irgendwann vorsichtig aufklappen und mich auf den langen, steinigen Weg machen, es einzurichten – denn auf meinem treuen Altgerät läuft mein Sprachkurs nun endgültig nicht mehr. Seufz.
Neben dem neuen Laptop reift Rhabarberlikör, die ersten Urlaubsbücher tuscheln miteinander, im WM-Spielplan werden alle Ergebnisse eingetragen, und bisher hinke ich mit meiner intuitiven, von geografischen Vorlieben getriebenen Spielausgangsvorhersage den Tippspielpunkten meiner von Fußballwissen übersprudelnden Söhne nur ein bisschen hinterher.

Morgens zwinge ich mich zu ein wenig Gymnastik. Nachmittags versuche ich mich an einer Viertelstunde Stille. „Zum Lieblingssee fahren“, notiere ich auf einem virtuellen Klebezettel in meinem Handy; „diesen Ort am gegenüberliegenden Spreeufer erkunden, an dem neulich abends Musik gespielt wurde“ und „mit dem liebsten Freund die Gartenbilderausstellung am Wannsee anschauen“.

Denn bald, bald, bald sind Ferien.

Sommer im Mai

Die Sommertemperaturen lassen den Balkonfrühling im Zeitraffer ablaufen.

Die Sonnenblumen öffnen zerknitterte Blüten; Dahlie, Lilien und Cosmea setzen Knospen an; die Bienenweide entrollt ihre Knospenkugeln zu Blütenrispen und ich verliebe mich in ihre ersten, zartblauen Blüten mit den dekorativ herausragenden Staubblättern, an deren Ende winzige lilafarbene Pollenkügelchen sitzen.

Die Solitärbiene, die in diesem Jahr alleine für den Hinterhof mit Birke, Ahorn, Linde und sämtlichen Balkons zuständig zu sein scheint, ist schrecklich gestresst und mag nur kurz auf dem Schnittlauch und auf der mickrigen Sonnenblume Halt machen, bevor sie nervös weiterschwirrt. Dass sie überhaupt gekommen ist, ist so etwas wie ein Hoffnungsschimmer für mich (wenn allerdings die EU endlich Plastik-Ohrenstäbchen verbieten lässt, ist die Rettung der Welt schon beinahe gesichert… [Ironie aus]) – aber dann verirrt sich die unglückselige Biene durch die offene Balkontür in die Wohnung und muss vorsichtig aus dem Fenster im Zimmer des Dreizehnjährigen gejagt werden. Hah, ich habe eine gute Tat vollbracht, brüste ich mich vor den Kindern, aber die spielen und hören nicht zu.

Die Bienentränke auf dem Balkon – ein Untersetzer mit ein paar Steinen und frischem Wasser – haben unterdessen Hornissen und Spatzen für sich entdeckt. Ruhig und konzentriert kommen die Hornissen, selbst wenn ich auf der Holzbank sitze, landen auf dem Rand des Untersetzers und trinken durstig, bevor sie wieder aufbrechen, ohne mich eines Blickes zu würdigen. Die Spatzen dagegen wagen sich nur herbei, wenn ich im Haus bin, und sie tun gut daran, denn sie haben meine Sympathie verspielt: wie eine Horde hyperaktiver Kinder müssen sie pausenlos Unsinn machen, zupfen die Blätter der Melde ab, knipsen gedankenlos die Knospen vom Wandelröschen und die jungen Früchte von der Erdbeere, kacken auf die Sitzbank und schwirren ärgerlich zwitschernd davon, wenn sie eine Bewegung an der offenen Balkontür wahrnehmen.

Das Krähenkind unterdessen hüpft im lichten Ahorn von Ast zu Ast, schwankt noch etwas auf seinen langen Beinen, mit denen es ein wenig an den halbflüggen Dreizehnjährigen erinnert, streckt probehalber die Flügel aus und erhebt ein großes hungriges Geschrei, wenn seine Mutter mit Würmern im Schnabel geflogen kommt.

Wie die Krähenmutter bin auch ich am Wochenende mit dem Heranschaffen von Nahrung für mein großes Küken beschäftigt. Von der Nudelsauce, vom Bohnensalat, vom Geschnetzelten, vom Gemüse und vom Reis koche ich ein wenig mehr und stelle gut gefüllte Vorratsdosen in den Kühlschrank, damit das große Kind auch ohne Schulessen satt wird.

Zwischendurch muss der Verband an der gebrochenen Zehe des Dreizehnjährigen erneuert werden, die nun vielleicht für immer ein bisschen krummer und – wegen der Bruchstelle an der Wachstumsfuge – ein wenig kleiner als die anderen bleiben wird, aber wenigstens nicht mehr wehtut. Der Neunjährige unterdessen ist in der Schule auf ein spitzes Stück Baumwurzel gefallen und hat eine Naht und mehrere Klammerpflaster am Schienbein, von dem der Verband immer mal wieder abrutscht, so dass ich die Tüte mit Wundauflagen, Mullbinden, selbstklebenden Fixierbinden und Pflastern immer in Griffweite stehenlasse.

Als Ausgleich dafür, dass wir nicht Schwimmen gehen können, stehen Termine beim Durchgangsarzt und Kinderchirurgen auf dem Wochenplan, gefällig eingestreut zwischen den Klassenarbeiten, für die der Dreizehnjährige auf die Schnelle versucht, alle nicht gelernten englischen und französischen Vokabeln doch noch in seinem Kopf unterzubringen. Mama, hörst du mich mal ab?

Mit der Kaffeetasse in der Hand trete ich zwischendurch immer wieder für ein paar Minuten auf meinen Balkon. Die Solitärbiene hat sich zehn Minuten Zeit für meine Tomaten im Kalender notiert und ich danke ihr höflich. Ich zähle die Knospen des Wandelröschens nach, das inzwischen in einem Spatzenschutzkäfig aus Bambusstäben und Wollfäden steht; ich nicke den Schwebfliegen zu und erkläre der Winde mit einem dicken Wollfaden und einem Haarklämmerchen den Weg zum Eckpfosten.

Die Sonne macht urlaubssehnsüchtig. Wie viele Wochen noch? Sechs, acht?

Im September werde ich…

…dem Zwölfjährigen eine kleine Zuckertüte zum Start auf dem Gymnasium und dem Achtjährigen eine zum Beginn der 3. Klasse – mit Englisch und endlich Zensuren! – überreichen

…zur Schuleinführung meiner kleinen Berliner-Umland-Patentochter fahren

…mit den meinen Söhnen die Besuchsfreundin in Brandenburg besuchen

…mit dem liebsten Freund verreisen – vielleicht zu einem See mit türkisfarbenem Wasser, in dem ich in die Abenddämmerung hineinschwimmen werde, soweit ich nur kann

…auf noch einen und noch einen und noch einen (und dann noch einen) letzten warmen Sommertag hoffen

…bunte Fotos von Sommertagen in Alben kleben, falls es doch nicht mehr so warm wird

…mit meinem Vater und der ganz großen Schwester den Grabstein meiner Mutter wieder schön machen, auf dem nach 25 Jahren die Ausmalung der Buchstaben verblasst ist

…die große allherbstliche was-ist-zu-klein-geworden-Aktion in den Kinderkleiderschränken durchführen (och nöö, schön wieder?)

…die Orthopädin statt auf meinen Fuß zur Abwechslung auf mein schmerzendes Mausarbeits-Handgelenk schauen lassen

…wählen gehen – natürlich! Und nicht nur ich kann meine Stimme abgeben, sondern – was ich klasse finde! – neun Tage vorher auch meine Kinder.

 


Die Idee für diese Monats-Pläne-Blog-Reihe stammt von Frische Brise, der ich herzlich zum Augustbaby gratuliere!

 

Sommerende

Ja, es gibt uns noch. Und es geht uns gut.
Meine lange Blogsommerpause war nicht geplant (sonst hätte ich sie angekündigt), sondern ergab sich, weil da einfach nichts, nichts, nichts aufgeschrieben werden wollte.
Ich weiß noch nicht, ob sie nun zu Ende ist, mir das Schreiben wieder Spaß macht, der müde Kopf Texte formulieren mag, dieser Blog dafür weiter die richtige Form ist. Das wird sich finden.

Aber wir hatten einen Sommer, teils schön und teils ereignisreich:
Ein halbes Dutzend Schuljahresendveranstaltungen, einen langwierig verstauchten Fuß, eine zumindest gedanklich beinahe gekaufte Eigentumswohnung, einen weiteren Geburtstag mit dieser Vier vor dem Komma, die sich immernoch anfühlt wie ein zu groß gekauftes Kleidungsstück; einige Sonnenuntergänge an meinen allerliebsten Berliner Seen, das übliche Quantum Lebensfragen und einen hartnäckigen Grauschleier über allem; einen Flickenteppich zerstückelter Kinderbetreuungsferienwochen, ein großartiges Mitte-des-Lebens-Lebensfragen-Buch (Zsuzsa Bank: „Schlafen werden wir später“) und dann – endlich – zwei Wochen dänisches Ferienhaus mit der ganz großen Schwester und ihren Lieben, Großfamilienleben, Sand in allen Kleidungsstücken, Sternschnuppengucken bei Nacht und Schwimmen im eisig kalten, tiefen, grauen, glatten Meer am frühen Morgen (außerdem vormittags, mittags und nachmittags). Zwei Wochen in einer kleinen Glücksblase.

Als Übergangsritual zurück in den Alltag empfielt sich Wäschewaschen. Das habe ich heute sehr ausgiebig gemacht. Ab morgen gibt es dann wieder Pflichten. Im Büro wurde ein anstrengender Herbst ausgerufen, Beginn sofort, Überstunden erwünscht (und meine Büro-Orchideen müssen auch dringend gewässert werden). Die Schulranzen stehen schon bei Fuß, prall gefüllt mit blanken Heften und papierduftenden Büchern; noch eine Woche Frist, dann besucht der Zwölfjährige ein Gymnasium und der Achtjährige wird als Drittlässler die ersten Zensuren bekommen – und hoffentlich eine fähige Englischlehrerin.

Ein wenig graust mir vor dem Herbst. Vor dem neuen Schuljahr. Vor den Elternbriefen und Elternabenden und Hausaufgaben und endlosen Wechselmodellabsprachen. Vor dem Staub in den Winkeln der Wohnung und dem im Herzen. Vor dem zu-oft-Alleinsein. Vor dem Alltag, in dem ich gerade genug Muße habe, um mir sehnlich Veränderungen zu wünschen, aber nicht genug, um wirklich etwas Neues zu beginnen.

Die Cliffhanger der Woche: Werde ich nach drei, fünf oder neun Tagen Büroarbeit den Gedanken aufgeben, mal wieder Tango zu tanzen? Werde ich rechtzeitig Geburtstagsgeschenke für Freundin A, B und C; Schuleinführungsgeschenke für die kleine Patentochter und Zusätzlich-zum-Geschenk-Mitbringsel für den Kindergeburtstag am nächsten Sonntag beschaffen können? Wird mir im Traum eine gute Fee den Sinn des Lebens verraten – oder wenigstens die Lottozahlen vom nächsten Mittwoch?

Einige Antworten – vielleicht – beim nächsten Mal.