I
Irgendwo da draußen ist die Wirklichkeit.
Aber alles, was wir von ihr sehen, sind Bilder. Nehmen wir den Mond:
Auf meinem naturwissenschaftlichen Bild von der Welt kreist er
um die Erde, vom Erdschatten mal mehr und mal weniger verdeckt; auf meinem
halb-mystischen Bild von der Welt hebt er nicht nur
Gewässer an, sondern lässt vielleicht auch Warzen verschwinden, Pflanzen
besser wachsen und Wunden heilen; auf meinem nostalgischen Bild von der Welt
heißt er „der gute alte Ostmond“ und weckt Erinnerungen an Kindheitsnächte;
auf meinem romantischen Bild von der Welt ist er ein dicker gelber Post-Its-Block
auf dem alle meine Träume notiert sind.
II
Irgendwo hier drin bin ich, aber alles, was ihr von mir seht, sind Bilder.
Die tapfere alleinerziehende Mutter; das Großstadtsingle, das immer
Abenteuer erlebt; die Frau kurz vor 40, die sich um ihre Karriere kümmern müsste und
um eine Beziehung für auf Dauer, weil „der Lack ja bald ab“ ist.
Selbst wenn ihr alle ein wenig Recht habt: Ich mag eure Bilder nicht. Sie sperren mich ein.
„Es ist, was es ist“, lässt Erich Fried die Liebe sagen, unter deren Blick
in der, die ich bin, die, die ich auch sein könnte, den Kopf hebt
und lächelt.
Aber sogar mein liebende Blick kann – wenn ich nicht achtgebe – irgendwann nur noch
ein Versuch sein, einen Menschen in mein Sehnsuchtsbild vom Glück einzupassen, da gleich links
in die Lücke zwischen dem Haus am See und den spielenden Kindern und dem rosa
Sonnenuntergang.
III
Irgendwo tief innen haben wir alle
unsere Bilder davon, wie wir sind und die anderen und die Welt:
So sieht Glück aus. So gehen Paare miteinander um. Diesunddas ist Erfolg, ist gut, ist richtig.
Das steht mir zu. Jenes nicht. So bin ich ok. Und so nicht.
Überhaupt zu bemerken, dass das Bilder sind und nicht Wirklichkeit
ist schon viel. Zum ersten Mal
wurde mir das klar, als ich kurz vor dem Abi eine Freundin besuchte, deren Eltern
vor uns Kindern einander zärtlich umarmten und küssten. Die Dinge,
lernte ich da, können auch anders sein, als ich sie mir ausmale. Das war wichtig.
IV
Mach dir kein Bild, lehrt der Koran, und die Muslime schufen
überbordende Ornamente, anbetungswürdig schön.
Mach dir kein Bild, sagten die Bilderstürmer und schlugen steinerne Heilige entzwei;
nur manche Bilder sind gut
sagten die Nazis und verbrannten tausende.
Unwiderbringlich.
Ich bin, was ich poste, fühlt Generation Facebook und stellt die Urlaubs-
bilder, die Hochzeitsbilder und die Kinderfotos ins Netz.
(Und was geschieht dann? Mit den unendlichen Halden in bits und bytes
festgehaltener Momente, die
alle mal jemandem etwas bedeutet haben?)
V
Meine Bilder sind unfertig, ambivalent und im Werden begriffen, schreibt
der liebste Freund, der manchmal so leuchtend und manchmal so düster malt,
und zitiert Tocotronic: im Zweifel für den Zweifel.
Und dafür liebe ich ihn.
Macht euch Bilder, sage ich, macht sie bunt und macht viele.
Bestimmt sind sie ein klein wenig wahr. Sie sind alle nur auch wahr.
Da ist immer noch mehr zu entdecken, als wir auf den ersten Blick sehen. Überall.
Dieser Text ist Teil des [*txt.]-Projektes.