Aus der Zeit zu fallen, das geht ganz leicht.
Ich packe alte Sachen in die Koffer, ich kaufe eine Fahrkarte. Wir brechen auf, sobald die Ferien anfangen, reisen zur ganz großen Schwester nach Thüringen. Der ganz große Schwager spielt Simultanschach mit dem Zehnjährigen und dem Vierzehnjährigen, dann betteln beide um ein paar Loriot-Episoden von den wohlbekannten DVDs. Am nächsten Morgen packen wir das Auto randvoll und fahren über die sieben Berge, ins Funkloch (jedenfalls mein Berliner Netz gibt es hier nur auf den höchsten Gipfeln), ins Häuschen im Thüringer Schiefergebirge, in dem schon der ganz große Schwager in seiner Kindheit Urlaub gemacht hat.
Das Häuschen wird aus seinem Dornröschenschlaf geweckt. Türen und Fenster werden aufgestoßen, der Ofen mit großen Holzscheiten beheizt, bis die Temperatur im Wohnzimmer von drei auf 25 Grad gestiegen ist; klamm-kalte Federbetten werden aus Kisten gezogen. Der ganz große Schwager geht mit dem Zehnjährigen zur Quelle und schließt den Wasserschlauch an, der bis zur großen Kiefer vor dem Häuschen führt und dort in einem Wasserhahn endet. Sobald das Wasser fließt, setzt die ganz große Schwester Kartoffeln auf und kocht Tee. Und schon sind wir angekommen. Anderswo könnten wir viel Geld für so einen Urlaub bezahlen, digital detox und zurück-zur-Natur sind hier inklusive, die Wanderwege beginnen vor dem Haus, der Frühstückstisch und die Kochplatten haben Panoramablick auf die Berge, Bach und Baumwipfel rauschen und nachts ist es still bis auf das gelegentliche Seufzen eines Vogels.
Ich weiß nicht, ob meine Söhne auch etwas erzählen werden, wenn andere aus der Klasse von ihren Mallorca/Teneriffa/Malediven-Ferienerlebnissen berichten. Was wir hier tun, taugt so garnicht zum Angeben. Aber sie sind hier glücklich, das sehe ich. Der ganz große Schwager holt Beil und Bügelsäge aus dem Schuppen und der Zehnjährige sägt mit ihm Holz, dicke Stämme, die anschließend gespalten und sorgfältig an der Hauswand gestapelt werden. Der Vierzehnjährige reinigt mit Feuereifer die Dachrinnen und fegt Moos vom Schuppendach. Wir sitzen morgens am warmen Ofen und mittags draußen in der Sonne, laufen bergauf und bergab und überreden den Wirt im Nachbardorf, uns Eisbecher zu machen, obwohl Mittwoch ist und sein Gasthaus eigentlich nur von Donnerstag bis Sonntag geöffnet hat. Wir lesen „Herr der Diebe“ von Cornelia Funke vor; manchmal höre ich nur mit einem Viertel Ohr zu, während ich mich in Margaret Atwoods Essays vertiefe. Abends spielen wir gemeinsam – „Stadt, Land, Fluss“ ist in diesem Urlaub der Renner bei den Kindern und wir erfinden Berufe und Tiere, bis wir vor Lachen über den „Tuffsteinbrecher“ und den „Nadelpanda“ fast unter den Tisch fallen – und der Vierzehnjährige erwischt immer die meisten Stücke von der Schokolade, die nebenbei auf den Tisch gestellt wird.
Ja, das ist idyllisch. Und anachronistisch. Früher war das hier mal eine beliebte Urlaubsgegend, als die Welt noch klein war und streng bewachte Grenzen hatte. Jetzt sind die Scheiben vom Jugendhotel eingeschlagen und die meisten Gasthäuser dauerhaft geschlossen. Und der Regen fehlt den Wäldern so sehr, dass ich eine ganze Regenwetterwoche dankbar in Kauf nehmen würde, damit die Kiefern und Tannen rundherum nicht an einem weiteren Dürresommer sterben. Aber da wir es nicht ändern können, genießen wir Sonne und Stille. Und die Seele – von allen Sorgen und Entscheidungen frei, die über die Frage hinausgehen, ob der Ofen nochmal angeheizt werden muss und welches Kind an der Reihe ist, beim Abwasch zu helfen – entknittert sich, verliert ein paar Winterfalten.
Am Ostersamstag brechen wir wieder auf. Das Häuschen wird gründlich geputzt, ein Korb Holz vor den Ofen gestellt für die nächsten Besucher, das Wasser abgedreht, die Fensterläden geschlossen, die Türen verriegelt. Zurück fahren wir über die sieben Berge. In der Wohnung der ganz großen Schwester beeilen wir uns, nacheinander unter die Dusche zu springen und Kleidung anzuziehen, die nicht nach Holzrauch und Häuschenmüffel riecht. Nochmal Loriot (Kraweel, Kraweel…) und dann am nächsten Morgen eine große Suche nach Schokoladeneiern im Hof, bevor wir uns wieder in den Zug Richtung Berlin setzen.
Die Umstellung zurück in den Alltag, zurück zum Alleinsein (meine Söhne verschwinden gleich zu ihrem Vater, sie haben keine Lust, sich mir noch zum Kofferauspacken anstellen zu lassen) wird hart.
Denn zuhause sind wir ja nicht nur in unseren eigenen vier Wänden, sondern immer auch beim Zusammensein mit den Menschen, die wir lieben.