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WmdedgT – 5/2020: Digitaler Alltag

Gefühlt ist irgendwie noch immer Mitte März, oder? Seitdem ist zwar Zeit vergangen, aber irgendwie nicht auf die gleiche Weise wie sonst. Trotzdem ist schon wieder der 5. – und Frau Brüllen fragt uns, was wir eigentlich den ganzen Tag so machen. Links zu allen Beiträgen gibt es bei ihr.

Mein Wecker klingelt um zehn nach sieben. Das ist angenehm, vor allem, wenn der Abend mal wieder lang war; oft wird er das, am Telefon mit dem Hannoverliebsten. Ich brauche ein paar Minuten, um mich zu motivieren, die Augen aufzumachen. Dann gehe ich mit dem kleinen Radio ins Zimmer des Elfjährigen (der bei seinem Papa ist) und mache zu den Informationen-am-Morgen ein bisschen Gymnastik. Hinterher Bad. Dann bereite ich das Frühstück vor: Kaffee, Tee, Toast, Marmelade, Käse. Zehn vor acht wecke ich den Fünfzehnjährigen. Wir frühstücken zusammen.

Kurz vor halb neun ist der Küchentisch abgeräumt und das Laptop des Fünfzehnjährigen aufgebaut – sein Schularbeitsplatz. Wir gehen gemeinsam die Emails der Lehrer durch und der Fünfzehnjährige schreibt eine Liste aller Aufgaben, die er heute bearbeiten muss und eine zweite Liste mit Aufgaben, die er in den nächsten Tagen bearbeiten muss und schon vorliegen hat. Während ich mich an meinem Dienstrechner anmelde, klingelt der Elfjährige. Sein Arbeitsplatz ist am Wohnzimmertisch, wenn ich am Schreibtisch sitze, ist das direkt hinter meinem Rücken. Nachdem wir ein paar Netzwerkprobleme behoben haben, geht das Arbeiten los. Immermal trägt eins der Kinder seinen Laptop zum Bügelbrett, das rechts neben meinem Schreibtisch steht, stöpselt sich am Drucker an und druckt Arbeitsblätter aus. Der Elfjährige hat heute seinen Seufzertag: Geschichte und Geografie, insgesamt drei Stunden, das macht ihm keinen Spaß. Der Fünfzehnjährige ist sowieso nicht besonders intrinsisch motiviert und muss alle halbe Stunde gefragt werden, woran er gerade arbeitet. Immer hilft das auch nicht – es taucht auch heute wieder eine Rückmeldung der Französischlehrerin auf, die dazu führt, dass am Nachmittag noch etwas aus der letzten Woche nachgearbeitet werden muss.

Halb elf ist mein tägliches Teammeeting – keine besonderen Vorkommnisse. Der Chef freut sich auf seinen Friseurtermin, ein Kollege ist im Büro, das macht mich ein bisschen neidisch. Zwischendurch ruft der Vater meiner Kinder an, um ein paar Sachen abzusprechen; und dann telefoniere ich der Asthmaärztin des Elfjährigen hinterher, denn in der Ankündigung der Schule des Fünfzehnjährigen, dass nächste Woche ein Präsenz-Schultag (vier Stunden zu je 60 Minuten in Gruppen von acht Schülern) stattfinden wird, stand auch, dass Schüler, die in einem Haushalt mit Personen leben, die einer Risikogruppe angehören, die Schule nicht besuchen dürfen. Das muss also möglichst schnell geklärt werden.

Bis zum Mittag habe ich trotz aller Unterbrechungen auch etwas Büroarbeit erledigt. Der Fünfzehnjährige hat gestern Nudelsauce nach Art der großen Schwester vorgekocht, also muss ich nur Nudeln machen. Wir essen am Wohnzimmertisch, zwischen den Schulsachen, die der Elfjährige gerade aufräumt, dem neuen großen Puzzle und den Stoffzuschnitten für weitere Schutzmasken (weil die Kinder ja spätestens für ihren Schulweg auch welche brauchen werden). Der Elfjährige hat seine Aufgaben erledigt und geht wieder zu seinem Vater; der Fünfzehnjährige macht kurz Pause, ich gieße mir eine Tasse kalten Kaffee ein und setze mich zusammen mit meinem Mittagstief an den Rechner. Zum Glück wenig zu tun. Im Homeoffice darf man in diesem Fall ein bisschen Musik hören, finde ich; außerdem lese ich bei umstandslos die Artikel zum Elternsein in Coronazeiten und bin ganz berührt von der Fülle der Erfahrungen, die dort zur Sprache kommen. Gegen eins geht dann auch der Fünfzehnjährige zu seinem Vater, denn der hat Zeit, bei den schwierigen Fächern (wieder Geschichte, wieder Geografie – dabei machen die dem Fünfzehnjährigen sogar Spaß, wenn er sich den Stoff nicht allein erarbeiten muss) zu helfen. Ich arbeite ein bisschen. Zwischendurch ruft die Asthmaärztin zurück und beruhigt mich – beide Kinder dürfen zur Schule gehen, wenn Präsenzunterricht angeboten wird.

Gegen drei klappe ich mein Laptop zu und räume die Wohnung auf. Dann bringe ich meine Zähne auf Hochglanz und packe zwei Schutzmasken ein. Kurz nach halb vier bin ich mit dem Elfjährigen verabredet; wir haben beide unseren Kontrolltermin beim Zahnarzt. Die Praxis ist supergut coronaorganisiert: wir warten am Eingang, bis das Wartezimmer frei ist, desinfizieren uns die Hände, ich stecke selbst die Chipkarten ins Lesegerät, das gleich hinterher von der Arzthelferin für den nächsten Patienten desinfiziert wird. Unsere Schutzmasken dürfen wir erst auf dem Behandlungsstuhl ablegen; der Arzt und seine Assistentin tragen Plexiglasvisier und Handschuhe. Sehr beruhigend. Zum Glück ist alles in Ordnung, wir sind ganz schnell wieder draußen. Der Elfjährige geht nach Hause, ich gehe noch zur Juwelierin, die meiner Armbanduhr eine neue Batterie eingesetzt hat und zum Schreibwarenladen. In der Apotheke frage ich nach Einmalhandschuhen, mit denen ich mein Asthmakind in der S-Bahn ausrüsten will, wenn auch seine Schule Präsenztage anbietet: ausverkauft. Immerhin bekomme ich ein paar Papiermasken für den Fall, dass der Elfjährige unter den Stoffdingern doch nicht genug Luft bekommt.

Zu Hause erstmal ausgiebiges Händewaschen. Dann koche ich vor: Maisauflauf und Bohnensalat. Aus den Resten von heute Mittag mache ich ein warmes Abendessen für mich und den Fünfzehnjährigen. Der Abwasch muss auch erledigt werden. Nach dem Abendessen stelle ich mir Musik an und nähe vier Stoffmasken – eine für den Fünfzehnjährigen, eine für den Elfjährigen und noch zwei für mich. Leider ist der schöne blaue Stoff jetzt aufgebraucht, durch den es sich relativ angenehm atmet, weil er in seinem früheren Leben als Bettlaken schon so oft gewaschen wurde, dass er ganz dünn und weich geworden ist. Dafür sind meine neuen Masken in grün und rot sehr hübsch. Der Fünfzehnjährige hat sich unterdessen in die virtuelle kirchliche Jugendgruppe eingewählt und klingt von weitem sehr fröhlich.

Ich räume noch eine Runde auf und setze mich dann bei vorteilhaftem Licht in den Sessel, um noch ein Videotelefonat mit dem Hannoverliebsten zu führen. Um halb zehn kommt der Fünfzehnjährige aus seinem Zimmer und sagt kurz Hallo. Ich stoße kurz virtuell mit der Patentante des Fünfzehnjährigen an (unser Abendritual ist das) und nehme mir dann noch ein paar Minuten Zeit für den Fünfzehnjährigen. Als mir einfällt, dass heute der 5. Mai ist, fällt mein täglicher Vorsatz, endlich einmal früher schlafen zu gehen, dann doch wieder ins Wasser.

Macht nichts. Der Wecker klingelt ja erst kurz nach sieben…

Männer in geblümter Schutzmaske

Coronapandemie, Woche sechs der Kontaktbeschränkungen.

Nein, falls der Eindruck entstehen sollte: Es geht bei uns oft nicht harmonisch zu. Nicht, wenn der Fünfzehnjährige von seinem Vater zurückkommt, ohne in der Papaferienwoche – worum ich seinen Vater aus begründetem Verdacht dringend gebeten hatte – eine Liste angefertigt zu haben, welche Schulaufgaben er vor den Ferien nicht bearbeitet hat. Ganz besonders nicht, wenn in einem zweistündigen eMail-Lese-Marathon gemeinsam mit mir dann herauskommt, dass der Fünfzehnjährige in den zwei Wochen vor den Ferien eigentlich garnicht für die Schule gearbeitet und Lehrern, die Aufgaben eingefordert haben, irgendetwas von hohem Fieber geschrieben hat.

Die Woche fing also unharmonisch an – Türenknallen, Geschrei und Tränen – und wurde im weiteren Verlauf recht… arbeitsam. Ich habe kapiert, dass der Fünfzehnjährige – so gerne er das auch hätte und so vehement er das auch behauptet hat – eben nicht alleine damit klarkommt, die zehn bis zwanzig eMails am Tag zu lesen, die seine Lehrer munter versenden; herauszusuchen, was er zu tun hat, es zu bearbeiten und pünktlich abzugeben. Und dabei den Verlockungen von youtube zu widerstehen, das am Computer immer nur einen Klick entfernt ist und mit unendlicher Zerstreuung lockt! Da hilft auch sein Ritalin nicht, für das ich trotzdem im Moment sehr dankbar bin. Der Fünfzehnjährige bekommt jetzt also engmaschige Unterstützung, zum Glück ist die Bürowoche (trotz Krankmeldung meines dauererschöpften Kollegen) ruhiger, als die letzten es waren. Der Elfjährige kommt mit den technischen Rahmenbedingungen der Schule zu Hause inzwischen gut klar, druckt Arbeitsblätter aus, meldet sich bei immer neuen Lernplattformen an, fotografiert seine Arbeitsergebnisse und lädt sie in den Lernraum. Seine Lehrer werden kreativer, er bastelt Jonglierbälle aus Luftballons und mischt mit Öl und Eiweiß Malfarben quer durchs Gewürzregal (merke: Curry und Kakaopulver funktionieren besser als Cayennepfeffer). Außerdem hat er den ersten Livechat-Unterricht, immerhin 20 Minuten, von denen die letzten zehn leider einer technischen Störung zum Opfer fallen.

Nachmittags geht der Elfjährige in den Hinterhof und spielt mit seinem Stiefbruder. Manchmal auch mit anderen Kindern; den Abstand, den ich predige, halten sie natürlich nicht immer ein, aber die Erwachsenen im Kiez nehmen das auch nicht ernster. Währenddessen arbeitet der Fünfzehnjährige bis abends wenigstens diejenigen Schulfächer nach, in denen die Lehrer das dringend verlangt haben. Immerhin wird es Zeugnisnoten geben und die entstehen ja irgendwie.

Am Donnerstag verlasse ich den Kiez – zum dritten Mal seit Mitte März – und fahre zu einem Arzttermin. Obwohl die Schutzmaskenpflicht für die Berliner öffentlichen Verkehrsmittel schon beschlossen ist und das Virus bis zum Inkrafttreten dieser Pflicht am Montag sicherlich nicht weniger ansteckt, sitzen die meisten Leute noch ohne Maske in der Bahn. Ich beginne, das ziemlich unsolidarisch zu finden.
Die Arztpraxis ist nicht weit von meinem Büro entfernt, in dem angeblich mein lange erwartetes Zwischenzeugnis liegt; also gehe ich dort kurz vorbei, schwatze mit zwei Kollegen, denen zu Hause die Decke auf den Kopf fällt und die deshalb per Fahrrad ins Büro kommen, stelle zwei Orchideen und einen Gummibaum – die trotz der fünf Wochen ohne Wasser noch leben – bei ihnen unter und klopfe vergebens an die Türen in der Personalabteilung.

Ansonsten? Ein Waldspaziergang. Zwei kleine Morgenrunden, draußen, bei denen ich die fünf Gänsefamilien mit ihren Küken aufscheuche, die auf der versteppten Fläche am Wasser nach ein paar letzten grünen Halmen suchen. Zweimal Gymnastik und eine Online-Bauchtanzstunde. Viel Telefonzeit mit dem Hannoverliebsten. Keinen Teppich bestellt, keine sim-Karte aktiviert, keine Fotos sortiert. Grundgefühl Sorge: Werden die Fallzahlen wieder ansteigen, nachdem nun die Läden öffnen und die coronamüden Berliner fröhlich und mit weniger als anderthalb Metern Abstand voneinander zur Normalität zurückkehren? Werden wir den Sommer hier eingesperrt verbringen müssen, wenn es neue Einschränkungen gibt?

Im Supermarkt immerhin werden an diesem Samstag deutlich mehr Masken getragen. Interessiert schaue ich mir die verschiedenen Modelle an (zeig mir deine Maske und ich sage dir, wer du bist…) und freue mich besonders an der Blümchendruckvariante, mit der ein Mann im Familienvateralter durch die Gänge kreuzt. Oder sind die runden Dinger auf seiner Maske am Ende Bilder von bunten, knubbeligen Coronaviren?
Aus zwei Metern Abstand ist das nicht zu erkennen.

Wir atmen ein

Coronakrise, Woche fünf der Kontaktbeschränkungen.

Tief Luft holen. Einen langen Atem werden wir brauchen in den nächsten Wochen. Nicht absehbar, wann der Elfjährige und der Fünfzehnjährige wieder zur Schule gehen können. Nicht absehbar, wann ich mal wieder ins Büro gehen kann; stattdessen werde ich technischen Support für den Elfjährigen leisten und dem Fünfzehnjährigen mit milder Kontrolle dazu bringen müssen, seine Aufgaben für die Schule auch wirklich zu erledigen. So lange mehr oder weniger alle von zu Hause arbeiten, mag das ok sein, aber wenn die kinderlosen Kollegen wieder vor Ort sind, werde ich mich ausgeschlossen fühlen.

Wie werden wir unsere Tage gestalten? Welche Rituale funktionieren, wenn jetzt nochmal drei Wochen durchzustehen sind oder fünf oder acht?
Beim Sonntagsfrühstück überlegen wir gemeinsam. Gegen acht soll es Frühstück geben und um halb neun wollen wir alle drei mit unserer Arbeit beginnen. Das passt mir gut, vielleicht klappt es dann mit der Morgengymnastik ein bisschen häufiger als bisher. Dass die Kinder sich jeden Morgen für je zwei Aufgaben im Haushalt eintragen, klappt gut; das behalten wir bei. Für die Nachmittage bestelle ich noch ein Riesenpuzzle und hole das Wikkingerschachspiel aus dem Keller. Der Elfjährige hört mit Freude zu, wenn ich abends „Total verhext“ von Terry Pratchett vorlese; der Fünfzehnjährige lässt sich zeitweise auch darauf ein. Ab neun – nehme ich mir vor – möchte ich Zeit für mich haben, auch wenn die Kinder noch aufbleiben dürfen. Am Nachmittag hätte ich gern jeden Tag eine halbe Stunde, um mich an Projekte zu setzen, die ich viel lieber aufschieben würde: das neue Handy einrichten, einen Teppich fürs Wohnzimmer bestellen, Geldsachen klären, meine Patientenverfügung ausfüllen, Fotos nachbestellen und in die Alben kleben. Zwischen dem Abklingen meiner Wintererkältung und dem Einsetzen des Heuschnupfens sollte ich auch unbedingt verschobene Vorsorgetermine nachholen.

Ja, auch Termine „draußen“ müssen wieder sein. Wir können fünf Wochen lang alles absagen, aber nicht acht oder zwölf. Wir werden uns – stückweise, mit dem Öffnen von Läden und Frisören, Abschlussklassen und Kirchen – daran gewöhnen, mit dem Risiko zu leben, uns draußen vielleicht irgendwo anzustecken, weil ja immer irgendwer den Mindestabstand nicht einhält, sich für unverwundbar hält, ohne Schutzmaske in der Bahn herumhustet.

Eine seltsame, neue, von Woche zu Woche von veränderten Regeln und Vorschriften geprägte Normalität wird sich wohl einstellen. Alles darin weniger selbstverständlich als sonst: Licht und Luft, Spaziergänge und Ausflüge, Begegnungen und Berührungen.

Und denkt noch jemand außer mir ständig an dieses Kindergeburtstagsspiel, bei dem man mit Mütze, Handschuhen, Messer und Gabel eine Schokolade auspacken und essen sollte? Beim Supermarkteinkauf mit Brille, Mund-Nasen-Schutz und Einmalhandschuhen komme ich mir jedes Mal so vor.

Woche 4

Osterferien. Zwei Tage habe ich mir freigenommen. Manches funktioniert (Die Känguru-Chroniken als Heimkinonachmittag anschauen); manches funktioniert nicht so gut (meine Idee, mit dem Elfjährigen und dem Fünfzehnjährigen mal wieder Linoldrucke zu machen. Das gehört in den Winter und es gehören Freunde dazu eingeladen…) Mir tut die Struktur gut, die meine Homeofficearbeit mir gibt, stelle ich nach den zwei freien Tagen fest; der Arbeitsbeginn ungefähr halb neun, das Teammeeting am späten Vormittag, meine Nachmittagsrunde im Wald nach dem Feierabend.

Dem Elfjährigen und dem Fünfzehnjährigen tut die Ferienwoche bei ihrem Vater gut, vermute ich; weil dort das Familienleben mit Baby und Großpatchwork ungefähr genauso chaotisch abläuft wie sonst, während bei mir fast alles, was uns gemeinsam froh macht und womit wir unter normalen Umständen unsere Ferien hätten verbringen können – Ausflüge, Schwimmbadbesuche, Freunde und Familie, die uns besuchen oder die wir besuchen – gerade entfällt. Für den Elfjährigen gibt es inzwischen Online-Kinderschachturniere, das ist ein Lichtblick. Um den Fünfzehnjährigen mache ich mir noch immer Sorgen; anscheinend hat das selbständige Arbeiten für die Schule dann doch nicht so gut geklappt, vermutlich ist nach den Ferien das eine oder andere nachzuarbeiten. Wie ich ihn noch zwei oder drei oder fünf Wochen zu Hause bei Laune und zum Arbeiten für die Schule anhalten soll, weiß ich nicht.

Die vorösterlichen freien Tage ohne die Kinder verbringe ich in gemütlichem Tempo. Die Steuererklärung wird fertig, die Hausarbeit verringert sich auf einen angenehmen Ein-Personen-Level, ich spanne den großen gelben Sonnenschirm auf dem Balkon auf und setze mich mit einem Buch darunter. Die Karfreitags-Waldrunde gehe ich schon am späten Vormittag, gemeinsam mit der anderen Mitmutter. Obwohl wir so früh losgegangen sind, sind schon so viele Menschen unterwegs, dass wir ständig ausweichen müssen. Überall im Unterholz haben Kinder Hütten aus abgestorbenen Ästen gebaut. Vielleicht wird es eine ganze Generation geben, die in diesem Frühjahr den Wald lieben lernt? Für mich verbindet sich der Geruch verwesenden Bärlauchs Tag um Tag mehr mit der dumpfen Sorge um die nächsten Wochen und Monate. Wann werden wir wieder angstfrei und ohne Mindestabstand mit anderen Menschen zusammen sein können? Reisen, Konzerte besuchen, Essen gehen, Urlaub machen?

Am Abend bin ich gedrückter Stimmung. Es tut gut, dass die große Schwester anruft. Auch ihr macht es Sorge, dass wir nicht wissen, wie es mit den Einschränkungen weitergehen wird. Aber irgendwann lachen wir wieder und erzählen uns auch die guten Dinge: von den Wildbienen, die im Bienenhotel auf dem Balkon der großen Schwester leben und den ganzen Tag dort herumsummen; vom Online-Bauchtanzkurs, für den ich in dieser Woche eine interessante Probestunde mitgemacht habe.

Ja, es geht uns weiterhin gut.

Die Ferien erreichen

Woche 3.

Das Leben mit den Ausgangsbeschränkungen wegen des Corona-Virus ist fast schon Routine, und es macht uns sehr müde.

Der Fünfzehnjährige hat es beim Joggen übertrieben und joggt nicht mehr; dann geht auch noch sein Fahrrad kaputt, also fährt er auch nicht mehr Fahrrad. Er zieht sich nach dem Frühstück zwar noch an, zieht aber den Bademantel über den Pullover und rollt sich auf der Matratze zusammen, wo ich ihn aufstöbern und dringend dazu anhalten muss, den inneren Siebenschläfer zu überwinden und sich an seine Schulaufgaben zu setzen.

Die Sportstunde von Alba Berlin im Internet ist auch nicht für Mietwohnungen geeignet: Beim Hüpfen bekomme ich Angst um die Deckenlampen der Familie unter uns; und als dann noch der Ellenbogen des Fünfzehnjährigen im Auge des Elfjährigen landet, ist es aus mit dem Online-Sport.

Der Elfjährige ist zwar ein wenig privilegiert, weil er seinen Stiefbruder sehen und mit ihm spielen kann, aber er hängt trotzdem durch, klagt darüber, wie viel anstrengender die Schule zu Hause ist als die Schule in der Schule, und sitzt schon morgens bedrückt am Frühstückstisch. Wir haben uns am Wochenende den Film „Und ewig grüßt das Murmeltier“ angesehen, aber mein Rat, es wie Phil zu machen und das Beste aus der unabänderlichen Situation herauszuholen, löst beim Elfjährigen nur noch mildes Genervtsein aus.

Ich arbeite mich durch meinen Homeoffice-Arbeitsberg wie die Raupe Nimmersatt durch das Angebot des Obsthändlers – unser Obsthändler, a propos, hat leider inzwischen geschlossen. Mein psychosomatisches Bein beginnt vor lauter Bewegungsmangel so sehr wehzutun, dass ich Hilfe brauche, zauberische osteopathische Wunderhilfe. Dank einer Regelungslücke in den Corona-Verordnungen kann ich die sogar bekommen, nur muss ich dafür die U-Bahn benutzen: ein hoher Preis. Sie ist immernoch zu voll, um irgendwie Abstand zu anderen Menschen zu halten. Wäre ich – wie es die ganz große Schwester gerne formuliert – hier die Königin, dann würde ich das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes in der Berliner U-Bahn vorschreiben. Und beim Joggen, aber das kommt später. Erst einmal fahre ich – ausgerüstet mit einer selbstgenähten Maske, die sich wie ein Maulkorb anfühlt und das Naseputzen unmöglich macht, was sehr ungünstig ist – tapfer meine fünf Stationen U-Bahn und bin erleichtert über jeden, der auch so ein Ding trägt: Männer mit dem Baumarktmodell, das von weitem so aussieht, als bestehe es aus Styropor; Asiatinnen mit schicken Papiermasken, die eleganter befestigt werden als alles, was es derzeit nirgendwo zu kaufen gibt; und Kreuzberger Kiezbewohner mit der coolen schwarzen Stoffmaske, auf er nur noch der kleine Totenkopf fehlt.

Die osteopathische Behandlung hilft mir sehr; und ich bringe auch den – nicht ganz unvorhergesehenen – Rat mit nach Hause, mich mehr zu bewegen. Von nun an gehe ich morgens eine kleine Runde („Wir simulieren jetzt den Schulweg“, mache ich es dem Elfjährigen schmackhaft, und dem tut das richtig gut, besonders, weil wir sogar an einem frischen Baumschnitt vorbeikommen und uns dort Osterzweige mitnehmen können); und dann eine größere am Nachmittag. Nachdem mich ein Jogger mit einem Abstand von höchstens fünfundzwanzig Zentimetern überholt und mir dabei grässlich ins Ohr geschnauft hat, vermeide ich dabei die größeren Spazierwege und wage mich Tag für Tag tiefer in den Stadtwald vor; bis mir kaum noch Radfahrer und Jogger und Hundebesitzer begegnen, sondern nur noch Familien mit Kleinkindern, die irgendwo neben dem Weg Holz für ein improvisiertes Waldhaus zusammentragen, während ihre Eltern erschöpft auf einem Baumstamm sitzen und an den mitgebrachten Reiswaffeln knabbern.

Am Freitag freut sich der Elfjährige riesig auf die Ferien. Wir sind beide enttäuscht, als gegen Mittag nicht etwa eine nette Rundmail vom Klassenlehrer mit guten Wünschen für die Ostertage im Postfach liegt, sondern weitere Schulaufgaben von einer Lehrerin, die das Hochladen anscheinend nicht rechtzeitig geschafft hat. Der Elfjährige verschiebt die Aufgaben schmollend auf den Montag, er will  jetzt frei haben. Am Montag darf er sowieso den Känguru-Wettbewerb der Mathematik nachholen, darauf freut er sich. Ich dagegen hätte mich über einen Feriengruß des Klassenlehrers gefreut; überhaupt, finde ich, wäre ein wenig mehr persönliche Ansprache der Kinder, oder vielleicht doch mal eine Klassenleiterstunde per Videokonferenz, einfach gut gewesen, damit die Kinder sich weniger alleingelassen fühlen.

Immernoch am Freitag – nachdem meine Kinder für ein paar Tage zu ihrem Vater gegangen sind – entscheiden der Hannoverliebste und ich seufzend, dass wir die Möglichkeit, uns als Partner gegenseitig zu besuchen, an diesem Wochenende noch nicht nutzen können; meine Erkältung ist zwar schon viel besser, seine aber noch nicht. Beim Spazierengehen leide ich unter akutem Pärchenneid.

Und trotzdem: Es geht uns allen gut. Wir haben, was wir brauchen. Wir sind nicht allein. Das Internet funktioniert, das Telefon klingelt, per Messenger sehe ich, wie der Hannoverliebste in seiner Sonnenecke Kaffee trinkt; und jeden Abend stoße ich virtuell mit der Patentante des Fünfzehnjährigen an: auf Freunde und Patenkinder, auf den Wald, der gerade zusehends grün wird; auf die Freiheit, die wir uns wünschen und auf alle Orte, an die wir gern reisen wollen, wenn das wieder geht.

Tiefpunkte und Trost

Tag 12 und 13.

Gegen Ende der 2. Homeoffice/Schulschließungswoche hänge ich richtig durch. Zu viele Bilder gesehen, zu viele Artikel gelesen, wie schlimm es werden könnte, wie schwer Covid-19 verlaufen kann und wie Gesundheitssysteme zusammenbrechen oder beinahe zusammenbrechen. Trotz Telefon fehlt mir Gesellschaft, erwachsene.

Ein besonderer Tiefpunkt ist der Einkauf, morgens vor der Arbeit am Freitag: Ich stelle mein Rollwägelchen neben dem Unterstand der Einkaufswagen ab und ziehe mir Einweghandschuhe an. Im gleichen Moment bringt ein Mann seinen Einkaufswagen zurück, zieht seine Handschuhe aus und wirft sie zusammen mit seinem Einkaufsbeleg achtlos in mein Rollwägelchen. Ich werde unglaublich wütend: wahrscheinlich einer von denen, die ihren Abfall auch in fremde Fahrradkörbe werfen, die Welt sein Mülleimer. Kleinlaut entschuldigt er sich. Die Senioren in der Kassenschlange halten garnichts von Sicherheitsabstand und rücken dicht auf. Die Apotheke verkauft dünnen Einmal-Mundschutz für fünf Euro das Stück, Wucherpreise wie im Internet. Ich decke mich mit Schmerztabletten ein – die verkrampfte Wade macht mir wieder große Probleme, Kopfschmerzen habe ich auch ständig.

Später arbeite ich unmotiviert vor mich hin und bin froh, als das Wochenende beginnt. Das bedeutet: Den Dienstrechner zuklappen und in seine Hülle stecken. Auf den Schrank stellen. Der Elfjährige räumt seinen Schulstapel in sein Zimmer. Der private Rechner kommt wieder auf den Schreibtisch. Das LAN-Kabel rollt sich zusammen mit der Verlängerungsschnur zusammen. Ich räume auf und fege durch, der Fünfzehnjährige bringt den Müll weg, der Elfjährige saugt das Wohnzimmer. Alle gehen auch an die Luft, Fahrradfahren, eine Runde Spazieren, mit dem Stiefbruder – der quasi im gleichen Haushalt lebt und sowieso keinen Virus hat, den wir nicht auch abbekommen – in den Hinterhof.

Der Samstag beginnt langsam, wieder mit Kopfschmerzen, jeder darf in seinem Tempo in den Tag starten, spät frühstücken, den Schlafanzug anlassen. Ich mache ein paar kleine Erledigungen. Auf dem Platz vor der Kirche – da, wo wir im letzten Jahr mit den Konfirmationsgästen in der Sonne Fotos gemacht haben – sitzt ein Mann mit Trompete und spielt „Killing me softly“ zum Playback aus der Lautsprecherbox. Rundherum stehen Bänke, die meisten leer, und ich setze mich in die Sonne und höre ihm zu. Ein Stück nach dem anderen spielt er, Musik, die man irgendwoher kennt, Tablet mit Noten auf dem Notenständer, Trompete zwischendurch auf den Knien, lächelt mich und die Frau auf der Bank mir gegenüber kurz an, spielt weiter. Die Frau auf der Bank gegenüber wischt sich verdächtig mit dem Taschentuch im Gesicht herum; auch mir stehen Tränen in den Augen. Kommen unsere von den sich überstürzenden Nachrichten und Veränderungen der letzten Wochen schockgefrorenen Gefühle in diesem Moment wieder in Bewegung? Ist das der Grund, warum wir gerade jetzt Kunst, Musik, Kreativität brauchen? Eine Mutter mit Kinderwagen und zwei weiteren Kindern an beiden Seiten schiebt ungerührt an dem Musiker vorbei, hat vermutlich ganz andere Sorgen. Ein älterer Mann, der mit Einkäufen beladen aus Richtung Supermarkt kommt, legt eine Banane neben den Trompeter. Der lächelt. Ein älteres Pärchen wählt in Ruhe eine besonders sonnig gelegene Bank aus und setzt sich. Eine Frau mit Fahrrad in gelber Warnweste bleibt stehen, ein junger Mann mit Wollmütze klatscht in der Pause zwischen zwei Stücken. Die Frau auf der Bank gegenüber lächelt mir zu. Am liebsten würde ich hier für immer sitzenbleiben.

Mittags kocht der Fünfzehnjährige, und es darf so lange dauern, wie es eben dauert. Ich stelle dem Elfjährigen Reis und Erbsen hin, der isst ein paar Gabeln und geht dann mit dem Stiefbruder in den Hinterhof. Jetzt sind auch die Brot-Käse-Klöße fertig, die der Fünfzehnjährige gemacht hat, und sie schmecken fantastisch. Nicht schlimm, dass ich hinterher die Küche aufräumen muss. Die andere Mitmutter ruft an, und wir verabreden uns – gewagt – auf einen gemeinsamen Kaffee. Wir haben Glück: Die Bänke vor der geschlossenen Schwimmhalle, zwanzig Stufen über dem Weg, auf dem Fußgänger und Radfahrer unterwegs sind, sind frei, und ich gieße ihr – berührungslos, von weitem, mit langem Arm – heißen Kaffee aus meiner Thermoskanne in den von ihr mitgebrachten Becher. Eine Stunde zusammensitzen, reden, lachen. Wie kostbar das ist.

Später schaue ich mit den Jungs „Und ewig grüßt das Murmeltier“ an: Filmnachmittag ohne Kino, Ausleihe im Internet, nur ein paar Klicks, wer hätte das gedacht.

Und in der Flamenco-Gruppe wird dieses fantastische Video vom Staatsballett Berlin geteilt. Kunst, Musik, Kreativität: für den langen Atem, den wir für die nächsten Wochen brauchen werden, wenn der Frühling da draußen stattfindet und wir – meistens – hier drin allein sind.

Alltag im Ausnahmezustand

Tag 8, Tag 9, Tag 10.

Unser Alltag spielt sich ein. Aufstehen um halb sieben. Die Playlist vom Cosmo-Radio anschalten zur Morgengymnastik. Frühstückstisch decken und den Fünfzehnjährigen wecken. Die ersten Nachrichten hören.

Um acht Uhr kommt der Elfjährige von seinem Vater, er verbringt seine Heimschultage auch in der Papawoche bei mir. Mein Laptop steht für ihn auf dem Wohnzimmertisch bereit; mein dienstliches auf dem Schreibtisch. Auf dem Bügelbrett vor dem Drucker kann das Laptop geparkt werden, wenn etwas auszudrucken ist. Der Fünfzehnjährige arbeitet mit seinem neuen Laptop in seinem eigenen Zimmer. Der Schultag beginnt.

Wenn etwas einzukaufen ist, mache ich das am liebsten jetzt gleich. Ich ziehe mir dicke Handschuhe an (bei der Kälte ist das ziemlich ok) und gehe einkaufen. Inzwischen haben wir auch eine Packung Einweghandschuhe hier stehen. Und ein (selbstgenähter!) Mundschutz liegt bereit, weil ich wirklich erkältet bin – aber laut online-Fragebogen-Vorauswahl ein Test auf das Corona-Virus nicht in Frage kommt. Toilettenpapier ist kein Problem mehr; die Beschaffungsherausforderung dieser Woche ist Mehl. Dabei würde ich gern mit den Jungs einen Kuchen backen. Ansonsten gibt es fast alles. Die Kassiererin sitzt geschützt hinter einer dünnen Plexiglasscheibe. Das ist gut.

Zu Hause Hände schrubben, Einkauf auspacken. Schnell mit der Kaffeetasse zum Rechner. Im Handy ein Gruß vom Hannoverliebsten. Mails, Aufgaben, Anliegen der Kinder, Teammeeting. Zwischendurch bringe ich den Kindern ein Stück Schokolade oder einen Toast mit Honig, wasche Gardinen, bestelle mir ein neues Handy. Meine Sim-Karte ist auch schon volljährig und muss mal durch eine frischere ersetzt werden – die Tage zu Hause schaffen die Gelegenheit, mich um solche ungeliebten Themen zu kümmern.

Mittags koche ich Kartoffeln (abwechselnd mit Möhren, Erbsen oder Quark) für den Elfjährigen. Für den Fünfzehnjährigen und mich versuche ich abends vorzukochen: Paprikaquiche, Hühnersuppe… Der Fünfzehnjährige hat sich auch schon angeboten, das dann und wann zu übernehmen, und alle seine Lieblingsgerichte aufgezählt.

Weiterarbeiten. Den jammernden Elfjährigen motivieren, der schnell verzweifelt, wenn Schulaufgaben des Vortages erst am Abend ins Lernsystem geladen wurden und nun im Nachhinein zusätzlich bearbeitet werden müssen, wenn eine neue Lernplattform zu erkunden ist oder Arbeitsblätter sich weigern, in den Drucker zu flutschen. Aber er hat schon sehr viel über den Umgang mit dem Computer und den verschiedensten Lernplattformen gelernt und wird von Tag zu Tag selbständiger. Mein Kaffee wird kalt, ich friere. Jacke an, heißen Tee kochen. Weitere Meetings am Telefon. Ein Telefonat mit einer britischen Kollegin, die ganz verzweifelt klingt. Vor zehn Tagen habe sie einen Einkauf bestellt. Heute sei er geliefert worden – aber die Hälfte fehle. Sie hat Angst, zum Supermarkt zu gehen, aber sie muss, sie hat kaum Lebensmittel.

Der Elfjährige hat unterdessen schon zu Ende gearbeitet und geht wieder nach nebenan zu seinem Vater. Der Fünfzehnjährige hat seine Aufgaben – so scheint es – auch erledigt und geht raus, eine Stunde Fahrradfahren. Wenn ich meinen Rechner ausschalte, mag ich auch als erstes in die Sonne gehen, und wenn es nur eine kleine Runde ist. Im Stadtwald kann man kaum anderthalb Meter Abstand zu den anderen Spaziergängern halten, so voll ist es. Auf der Einkaufsstraße ist immernoch relativ viel Betrieb. Auf dem Sportplatz spielt eine Großfamilie Fußball und ein paar Jugendliche sitzen zusammen – keine Polizei in Sicht.

Der Spätnachmittag zu Hause: Online bestellen wir T-Shirts und kurze Hosen für den Fünfzehnjährigen, auch wenn der Frühling gerade weit weg zu sein scheint. Ich räume ein bisschen Wäsche weg. Ich wasche ab, ich koche vor. Der Fünfzehnjährige macht Abendessen und ich schreibe unterdessen ein paar Nachrichten an Freunde und Familie. Das ist sehr entspannt – vielleicht war meine Idee gut, eine Liste mit Hausarbeiten aufzuhängen und die Kinder zu bitten, sich morgens für zwei oder drei kleine Aufgaben einzutragen. Vielleicht vermeiden wir ein bisschen Streit. Vielleicht habe ich den einen oder anderen ruhigen Moment mehr – so wie jetzt.

Nach dem Abendessen spielen wir eine Runde oder schauen gemeinsam einen Krimi und dann die Tagesschau. Das Mailpostfach muss noch durchgesehen werden; der Hannoverliebste hat ein paar lesenswerte Artikel geschickt, die große Schwester einen Link zu den Fotos vom Geburtstag unseres Vaters, die Schule informiert darüber, dass die Abiturprüfungen nun doch verschoben werden müssen. Ich bin erleichtert, dass es den Fünfzehnjährigen nicht betrifft.

Zeitig bin ich müde. Telefoniere noch etwas, lege mich schlafen.

Bisher keine Zeit für die Steuerklärung oder die Fotoalben der Kinder. Das mag noch kommen.

Dankbar und sorgenvoll und erschöpft – und traurig angesichts der Bilder aus Italien. Das geht gleichzeitig. So fühlen wir uns.

Und bis wir uns wiedersehn…

Tag 6.

Vor vier Wochen war ich noch in Hannover. Wie selbstverständlich das war: Zug raussuchen, Fahrkarte kaufen, losfahren. Keine anderen Ärgernisse als eine geänderte Wagenreihung.

Vor zwei Wochen war der Hannoverliebste noch hier. Wie selbstverständlich das war: die öffentlichen Verkehrsmittel benutzen, überlegen, ob wir in diesem oder jenem Restaurant essen wollen. Weitere Wochenenden planen.

Vor einer Woche war ich mit den Kindern noch in Thüringen, zum 80. Geburtstag meines Vaters. Vorher Telefonate hierhin und dorthin: Wollt Ihr wirklich feiern? Ganz sicher? Ist es nicht zu riskant, wenn wir kommen, weil es in Berlin mehr Coronafälle gibt als in Thüringen? Sollen wir kommen, auch wenn ich einen kleinen Schnupfen habe? Eine seltsame Reise, Handschuhe anlassen bis zum Platz im Zug, den Tisch desinfizieren, gegenüber eine Frau mit blauen Einmalhandschuhen, Zug ansonsten ziemlich leer. In der Pension dann doch die Ferienwohnung bekommen, weil außer uns keiner mehr da war. Eine seltsame Feier, keine Umarmungen, keine Berührungen. Dieses traurige Gefühl beim Abschied: Wann werden wir uns wiedersehen? Wird irgendjemand krank werden, schwer krank werden?

Dieses Wochenende reise ich nicht mehr. Ich huste. Ich mag den Hannoverliebsten nicht anstecken, auch wenn es mit hoher Wahrscheinlichkeit einfach nur eine blöde Erkältung ist. Ich will niemanden gefährden. Ich mag auch nicht aus dem Zug geholt und irgendwelchen Gesundheitsbehörden übergeben werden. Trotzdem: Das ist traurig. Das ist hart. Vielleicht ist es ein guter Test, bekomme ich am Telefon zu hören, wenn eure Beziehung diese Zeit übersteht, wird sie vielleicht auch anderes aushalten. Aber ich will keine Tests, ich will Nähe… Ich will wenigstens ein Wiedersehen planen dürfen, einen Termin im Kalender zum Festhalten. Aber das geht nicht.

Keine Pläne mehr für die nächsten Wochen. Die Reise des Fünfzehnjährigen nach Warschau, sein Schüleraustausch in die Bretagne: abgesagt. Mit dem Elfjährigen zur Phäno nach Wolfsburg, zur Patentante nach Köln, zu den Großeltern nach Weimar: abgesagt.

Auf dem 80. Geburtstag meines Vaters haben wir zum Abschied diesen irischen Reisesegen gesungen:  „Und bis wir uns wiedersehn / und bis wir uns wiedersehn / möge Gott seine schützende Hand / über dich halten.“
Wie ein Refrain begleitet dieses Lied seitdem in meinem Kopf diese seltsamen Tage.

Ich installiere Skype, richte ein zweites privates Laptop ein, damit beide Kinder lernen können, überfliege eMails mit den besten Zu-Hause-Lern-Tipps, Bewegungstipps, Corona-Schulinformationen, Schulaufgaben. Bin dankbar für die allmorgendlichen Motivationsmails meines Chefs und unsere täglichen Onlinemeetings. Plane das erste virtuelle Kaffeetrinken. Plane einen Spaziergang mit der anderen Mitmutter, noch ist das nicht verboten.

Gut tut es auch, hier auch von anderen zu lesen. Viele von Euch hier sind mir durch ihre Texte nah. Schreibt weiter! Unter den Besten-Lerntipps-für-Kinder-zu-Hause stand, dass es beim Bewältigen dieser Zeit helfen kann, ein Tagebuch zu führen. Und das gilt ja auch für uns Erwachsene.
Ihr alle da draußen: Passt auf Euch auf. Bleibt gesund!

Homeoffice, Homeschool

Heute ist Tag 3, an dem unser Leben sich zu Hause abspielt. Ich bin müde. Dabei geht es uns gut. Ich kann arbeiten, wir sind gesund. Keine Existenzängste.

Aufstehen erst um 7 Uhr. Das ist – diese Erleuchtung kam mir heute – der Grund dafür, dass die halbe Stunde, die ich sonst in der S-Bahn mit Lesen verbringe, an Homeofficetagen immer spurlos verschwunden ist. Frühstück halb acht. Um acht müssen die Kinder ihre Heimbeschulung beginnen.

Die sieht im Moment so aus, dass der Fünfzehnjährige zu jeder Schulstunde Aufgaben vom Lehrer bekommt. Per Mail. Die sollen in der Zeit erledigt werden, in der sonst der Unterricht stattfinden würde. Manchmal kommen die Aufgaben aber auch erst nachmittags an oder der Fünfzehnjährige denkt, dass keine kommen und entdeckt sie zu spät. Wann er das alles nacharbeiten soll, haben wir noch nicht herausgefunden.
Der Elfjährige soll im „Lernraum Berlin“ arbeiten, das scheint darauf hinauszulaufen, dass man für jedes einzelne Schulfach Arbeitsblätter – mit jeweils unterschiedlichem Abgabedatum pro Fach –  ausdruckt, ausfüllt, fotografiert und wieder hochlädt, was ziemlich mühselig ist. Ich habe inzwischen entdeckt, wie man Textfelder in pdf-Dateien einfügt, aber ausgedruckt und im Hefter abgeheftet werden muss der bearbeitete Stoff dann ja doch, also nur eine mittelgroße Arbeitsersparnis. Außerdem gibt es „Quizlets“ und „Padlets“ (nie zuvor davon gehört) und Elternbriefe und gefühlte 30 Mails von den hyperaktiven Eltern der Klasse des Elfjährigen, in denen über die Einrichtung von Online-Videounterricht beraten wird. Wenn die Lehrer sich dazu nicht einladen lassen, wollen es die Eltern moderieren, jeden Tag eine Stunde lang.
Dabei haben wir doch gar keine Zeit – wir müssen Toilettenpapier jagen (ok, das war inzwischen erfolgreich, rechtzeitig, bevor die letzte Rolle verbraucht war), ich muss um 8.30 Uhr an meinem dienstlichen Rechner sitzen und habe wirklich zu tun. Wirklich meinen kompletten Arbeitstag lang zu tun, unterbrochen nur durch eine Mittagspause, in der ich wahllos irgendetwas auf den Tisch stelle, damit wir essen und dann weiterarbeiten können. Und unterbrochen von den Anliegen der Kinder.

Gegen halb vier habe ich Feierabend oder kann einfach nicht mehr. Ich gehe mit den Kindern – oder mindestens mit dem Elfjährigen – eine Runde raus in die Sonne. Bisher haben wir es hingekriegt, die Tischtennisplatte für drei Partien nutzen zu dürfen, bevor zu viele andere Leute Schlange stehen. Und dann haben wir immer noch eine kleine Runde durch den Park gedreht.

Der Strom der schulischen Mails reißt bis abends nicht ab. Wir spielen eine Runde, ich koche irgendwas. Wir sehen ein wenig fern, um uns zu entspannen, und vielleicht schaue ich dann noch Nachrichten. Ich telefoniere. Ich schreibe Messenger-Botschaften. Die Patentante des Fünfzehnjährigen schickt lustige Bilder und Videos, das tut gut. In der Küche steht dann meistens noch ein Abwaschberg.

Dringend: Unsere technische Ausstattung verbessern. Drei Personen, zwei Laptops, eine Computermaus. Spätestens heute, an Tag 3, fällt auf, dass das so nicht gehen kann. Aber wie aufrüsten, wenn die Läden alle geschlossen haben und Online „verlängerte Lieferzeiten“ angekündigt werden?
Auch dringend: Ein Buch lesen. Einen Kaffee in der Sonne trinken. Die Termine der nächsten Woche absagen, alle. Die Allergiebezüge des Elfjährigen waschen; die Steuererklärung anfangen; den Balkon bepflanzen. Wäsche legen. Bügeln. Aufräumen.

Aber bis zu „auch dringend“ komme ich nicht. Ich bin müde.

Frühlingsvermischtes

In den Osterferien hüpfen wir aus unserem Alltag und landen – zusammen mit der ganz großen Schwester und ihrer schönen Tochter und dem Freund der schönen Tochter – in der kleinen Waldhütte, die ganz versteckt an einem Berghang im Thüringer Schiefergebirge liegt, kaum zu sehen hinter einer dichten Fichtenhecke, über die aber trotzdem von morgens bis zum frühen Nachmittag die Sonne blinzelt. Wir füttern den Holzofen mit dicken Scheiten, bis die vom Winter auf 2 Grad ausgekühlte Hütte mollig warm wird; wir liegen in dicken Jacken in den Liegestühlen; wir schleppen Wasser in großen Eimern in die kleine Küche und kochen es zum Trinken ab; wir frühstücken morgens gemütlich, gehen im Nachmittagssonnenschein spazieren; der Dreizehnjährige steigt in Gummistiefeln in den Bach, der durchs Tal murmelt, und baut Dämme aus Schieferbrocken – der Neunjährige gibt ihm vom Ufer aus Anweisungen – und abends spielen wir lange gemeinsam Karten am großen Tisch.

Als wir zurückkommen, riechen wir von Kopf bis Fuß nach Holzfeuer und Waldhütte; alle Kleidungsstücke türmen sich im Flur und wollen gewaschen werden, und weil ich einmal dabei bin, bekommt auch die Allergiebettwäsche des Neunjährigen aus dem heimischen Bett ihren jährlichen Waschgang, werden die Matratzen mit Neemöl besprüht; und weil ich einmal dabei bin, bekommt der Wollteppich im Zimmer des Dreizehnjährigen seine vorbeugende Mottenkur und werden die Korkstückchen in den Kleiderschränken mit Arven-Öl betupft; die Fliesen im Bad rufen: „putz uns, putz uns, wir sind ganz verschmiert und bespritzt“; vom Bücherregal segeln Staubflusen auf meinen Kopf – es ist, kurz gesagt, noch so viel Frühjahrsputz fällig, dass er meine ganze Urlaubskraft verschlingt und ich am Montagmorgen bei schönstem Sonnenschein ohne jede Motivation zur Bahn in Richtung Büro schlurfe und dabei vor mich hinmurmele, was für eine gute Sache doch der „Haushaltstag“ gewesen ist, den es in der DDR für Arbeitnehmerinnen gelegentlich gab.

Mein schmerzender Fuß hat kleine Waldspaziergänge, in guten festen Schuhen und auf weich federndem Boden, ohne größere Beschwerden mitgemacht; aber Frühjahrsputz und Großstadtpflaster behagen ihm nicht, jetzt muss also doch ein Arzt einen Blick darauf werfen. Ich bekomme eine Salbe aufgestrichen und einen unangenehm scheuernden Verband; Tabletten, die die Entzündung aus dem Gelenk ziehen sollen und die Anweisung, mir im Sanitätshaus eine über dem Verband zu tragende Bandage aushändigen zu lassen. Nicht weit vom Orthopäden entfernt gibt es ein entsprechendes Geschäft; aber streng weist die Sanitätshausfrau mir die Tür, man trüge Bandagen grundsätzlich nie über Verbänden und nein, ich dürfe den Verband jetzt auch nicht in ihrem sauberen Reformhaus entfernen oder gar um Wasser zum Abwaschen der Salbe bitten, wie unhygienisch, auf gar keinen Fall, da hilft kein Flehen (…aber ich komme nie wieder in diese Gegend, ich wohne hier doch garnicht!). Am nächsten Morgen gehe ich, ohne Verband und voller Hoffnung, zum Orthopädieschuhmacher in meinem Kiez, der allerhand Bandagen in seinem Fenster ausgestellt hat – die fragliche verschriebene aber frühestens in zwei Wochen geliefert bekommen wird, wenn er sie jetzt bestellt. Geknickt humpele ich nach Hause, schalte meinen Homeoffice-Rechner ein, mache mir einen Schwedenkräuterumschlag auf den Fuß. Ich telefoniere mit der Service-Hotline einer größeren Sanitätshauskette und lasse mir bestätigen, dass es die im Internet verzeichnete Filiale – nur eine S-Bahn-Station entfernt – noch gibt; leider geht dort niemand ans Telefon, wahrscheinlich sind die Mitarbeiter alle beschäftigt. Also humpele ich am Nachmittag zur Bahn, fahre hin – und finde an der Tür einen handgeschriebenen Zettel vor, der erklärt, dass man aus betrieblichen Gründen am 11. und 12. April geschlossen habe. Jetzt weiß ich auch nicht mehr weiter.

Aber die Sonne wärmt, auf dem Balkon keimen die ersten Bienenblumen und schütteln Treibhauskräuter sich in der ungewohnt frischen Luft; die Tomatenpflänzchen strecken sich und wollen des Nachts noch ins Warme; eine prächtige Petunie voller lilafarbener Blüten mit dekorativen weißen Rändern, die der Dreizehnjährige in sein Kastenbeet gepflanzt hat, lässt sich von allen Seiten bewundern, nur die Sonnenblumenpflänzchen stimmen nicht in den Chor ein, sondern sammeln Kräfte, um bis zum Himmel zu wachsen.

Allen traurigen Radionachrichten zum Trotz: es ist Frühling!