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Hand auf den Arm

Neulich fiel – ganz plötzlich, während ich am Herd irgendwas aus irgendwas kochte, was gerade noch nicht alle gewesen war – das Wort „begütigend“ aus dem Schrank im Kopf, in dem der passive Wortschatz aufbewahrt wird, mitten in mein Bewusstsein.

Ich hätte gerne manchmal jemanden an meiner Seite, der mir begütigend die Hand auf den Arm legt, dachte ich, wenn ich mich verrannt habe und vor lauter Problem die Lösung nicht mehr sehe oder wenn ich grantig zu den Kindern bin, was nicht an ihnen liegt, sondern daran, dass ich gerade an diesem Tag mit mir und der Welt nichts anfangen kann und daran, dass ich das nicht verstanden habe.

Und in dieser Geste läge liebevolles Verständnis für mich und dann wäre es plötzlich leicht, selber wieder gütig zu sein statt grantig.


 

 

Und irgendwann später fiel mir dazu dieser Artikel von Bluemilk ein, der mich neulich so sehr berührt hat: Hier.

Wünschen [*txt.]

Dass endlich Feierabend ist und
der Regen aufhört und
die Bahn pünktlich kommt –

Eine Gehaltserhöhung und
einen Sommermantel und
ein Haus am Wasser –

Schreiben und
Reisen und
Tanzen, nächtelang –

Zeit für die Kinder –

Wenn du einen Wunsch frei hättest, Mama, nur einen!,
stellt der Neunjährige beim Sonntagsfrühstück die Fangfrage, was müsstest du
dir dann wünschen? – Ich weiß es!

Ich auch, sage ich, dass alle meine Wünsche –
Aber wenn dieser eine Wunsch
verboten ist, was wünscht ihr euch dann?

Ich würde wünschen, dass
alle Menschen ein gutes Leben haben, sagt der Fünfjährige, der immer
möchte, dass alles gut wird;
und weil wir einmal bei den Weltwünschen sind, hat der Neunjährige
auch gleich wieder eine Idee,
beinahe so raffiniert wie die erste: Ich
würde mir Geld wünschen, das niiiiie
alle wird, und den Leuten, die Krieg machen, ganz viel davon geben,
damit sie mir ihre Waffen geben und der Krieg aufhört –
Oh, sage ich, skeptische Mutter, ob die sich nicht
neue Waffen kaufen würden, bessere,
von deinem Geld?
Jetzt bin ich dran. Ja.
Einen Wunsch für eine heilere Welt habe ich auch.

Aber eigentlich möchte ich
vier Wünsche frei haben, mindestens, denn zuerst
sind mir die persönlichen eingefallen, die die Fee (ausgelastet
mit den Wünschen meiner Kinder, groß wie ihre Fragen ans Leben) heute wohl nicht erfüllt:
Liebe, Gesundheit und Geld bis ins Alter. Das Standardprogramm.

Ein paar Tage später hat
der Wind den Morgenhimmel blankgefegt und Berlin
ist eine große Bühne vor einem leuchtenden Blau,
auf der ein Arbeiter auf einer Leiter steht und Taubenschutzdrähte anbringt und
gelbe Kräne ihre schlanken Hälse in Baugruben senken,
und hinter der aus einer letzten Wolkenbank weit im Osten
die Sonne steigt.

Und ich möchte glauben, dass es
– wenigstens manchmal –
so einfach ist:
Den hellen Himmel anschauen.
Wunschlos.


Dieser Text ist Teil des [*txt.]-Projektes.

Auf dem Eis

Die erste Prominente, deren Namen ich kannte, war wahrscheinlich Katharina Witt, ein Mädchen damals, das wunderbar auf dem Eis tanzte. Ich erinnere mich, ich muss noch im Vorschulalter gewesen sein: meine Mutter, die mitten am Vormittag (Wo gibt’s denn sowas? Bei uns war Fernsehen ansonsten streng auf Sonntagnachmittag und Sandmännchen beschränkt – ) eine Olympiaübertragung einschaltet. Eiskunstlauf! Von da an schaute ich Eiskunstlaufmeisterschaften an, wann immer ich konnte, sah atemlos den großartigen Sprüngen der Eistänzerinnen in ihren glitzernden Kleidern zu. Meine erste Vorstellung von der Begrenztheit des Lebens bekam ich, als mir klar wurde, dass ich so wie die Witt nie würde Schlittschuhlaufen können.

Ich lernte es überhaupt erst sehr viel später, auf den Berliner Eisbahnen, mit dem Vater meiner Kinder, lief zaghafte Runden, zu vorsichtig, um viel zu stürzen – ich wusste schon, dass ich nicht fliegen kann.

In diesem Winter kommen mir die Eisbahnen nach langer Zeit wieder in den Sinn. Mit den beiden Paten des Neunjährigen und meinen Kindern drängen wir uns im Neuköllner Eisstadion an die Theke, an der die Schlittschuhe verliehen werden. Ich verteile meine ganzen Vorräte an dicken Socken und stopfe die Füße des Fünfjährigen in die klitzekleinen Schlittschuhe. Für ihn ist es eine Premiere, für den Neunjährigen der zweite Versuch, der war im letzten Jahr schon mal auf dem Eis unterwegs, in Thüringen, wo sie für motorisch unsichere Kinder wir ihn Pinguine hatten, schwere Figuren auf Gleitflächen und mit Griffen, Rollatoren fürs Eis. Die Bahn hier ist noch nicht auf diesem neuesten Stand der Technik, wozu auch, alle außer meinen Kindern können schon fahren, Kleinkinder, die elegante Kurven um uns herumfahren, größere, die sich lachend übers Eis jagen und gegenseitig zu beeindrucken versuchen, Erwachsene, die uns Anfängern geschickt und milde lächelnd ausweichen.

Da laufen wir, langsam, ganz nah am Rand, der Fünfjährige hängt schwer an meinen beiden Händen, die Mütze rutscht ihm über die Augen, schnell an die Bande, bevor meine Arme zu lahm werden, um ihn festzuhalten. Dann eine Runde mit dem Neunjährigen. Wie erklärt man nur, was man beim Eislaufen tun muss? Vorbeugen, den Po wie eine Ente hinten rausstrecken, weise ich ihn an, damit ihm die Füße nicht mehr gar zu oft nach vorn davonfahren. Und dann muss man die Kufen irgendwie seitlich verkeilen, so dass man sich abstoßen kann. Oder lieber erstmal üben, im Stehen ein Bein vom Eis zu heben? Mir fehlt hier eindeutig die pädagogische Qualifikation. Ich überlasse meine Kinder meinen geduldigen Freunden und fahre selber ein bisschen. Elegantes Anhalten müsste ich vielleicht mal lernen, ich lasse mich lachend gegen die Bande prallen.

Nebendran, auf der anderen Eisfläche, gibt es viel zu sehen. Erst trainieren ein paar Eishockeyspieler in ihren von Schulterschützern riesig aufgeblähten Trikots. Später ist die Bahn voller kleiner Mädchen in Glitzerleggins oder hautfarbigen Strumpfhosen und rosa Beinwärmern, die kleine Hüpfer üben oder – schon ganz gekonnt – um sich selbst herumwirbeln. Im Schutznetz an der Seite der Bahn hängen paarweise bunte Kufenschoner, solche, wie die Paare in Sotschi sie auch anziehen, wenn sie glücklich oder enttäuscht von der Fläche kommen und wir ihnen vom Sessel aus gebannt zuschauen, der Neunjährige gespannt auf die Punktzahl wartet, der Fünfjährige uns nochmal über die Nationalität des Läufer aufklärt – „Chinesen! Aus Spanien!“ – und ich mir die Gesichter anschaue, traurig oder strahlend, je nachdem, was ein Paar erwartet und erhofft hat und was ihnen gelungen ist – oder nicht.

Eiskunstlauf bringt mich immer noch ins Träumen, ein kleines bisschen.

Über der Neuköllner Bahn dämmert es. Aus den Lautsprechern scheppert die Musikauswahl eines anscheinend betrunkenen DJs, schmalzige Liebesschlager und Bum-Bum-Rhythmen im Wechsel. Wenn man die Kurve in der Nähe der anderen Eisfläche fährt, mischen sich auch noch die Tanzklänge der Eiskunstlaufmädchen dazu. Das Abendlicht ist wunderschön, die Luft ist mild. Als wir von der Bahn müssen, kommen die Eisautos – was für eine Attraktion für meine Kinder! Wir rätseln ein bisschen, wie das wohl geht – werden die losen Eisstückchen aufgesaugt? Wird eine Art Schnee auf die Bahn geschüttet und festgewalzt? – und einer der Eisbahnangestellten erklärt uns, wie es wirklich funktioniert, dass die oberste, zerfahrene Eisschicht abgehobelt und dann neues Wasser draufgesprüht wird. Jetzt sehen wir die vielen kleinen Wasserstrahlen auch, und die breite glänzende Spur, die das Auto hinterlässt.

Nach den viel zu engen Schlittschuhen fühlen die Lederstiefel sich weich und leicht an. Herrlich. Trotzdem möchte ich nochmal – am liebsten noch viele Male, am liebsten schon morgen – herkommen, bevor die Saison endet. Unbedingt.

In Böen acht

Von der Kur heimgekommen bin ich gierig nach Veränderungen. Fenster auf! Der Wind of Change soll mal kräftig durchwehen (vielleicht pustet er dann auch gleich die letzten Motten aus der Küche).

Also lege ich los. Die Wohnung muss natürlich grundausgemistet werden. Ich schleppe alte Medikamente in die Apotheke, werfe alle leeren Plastikflaschen weg (leider haben wir plötzlich keine Trinkflaschen mehr für den nächsten Ausflug, kleiner Kollateralschaden), trage große Beutel mit alten Unterlagen zur Papiertonne und ein Drittel meiner Kochbücher in die Bibliothek, wo die Mitarbeiterinnen ganz runde Augen bekommen, als die Jamie Oliver vom Cover lachen sehen. Nee, nee, stellen Sie das mal nicht ins Verschenkregal. Zeigen Sie doch mal her!

Aus meinem großen Bücherregal ziehe ich – fest zur Minimierung der Bestände entschlossen – einen ganzen Regalmeter Romane und Sachbücher. All die nicht-so-spannenden Bücher mit „Frau“ im Titel, die mir geschenkt wurden, als ich ein Emma-Abo hatte und deshalb allgemein als „an Frauenthemen interessiert“ galt. Allerlei alte Romane. Krimis, die ich nie wieder lesen werde. Kinderbücher, die ich schon verstaubt fand, als ich sie vor vielen Jahren mit guten pädagoischen Absichten vorgelegt bekam. Raus damit. Hinterher ist das Regal immernoch ganz voll. Seltsam.

Dann mache ich erst mal Pause mit dem Ausmisten und setze mich an den Rechner. Wohnprojekte in Berlin! Endlich nicht mehr allein leben, sondern in netter Gemeinschaft, das wäre es doch? Eine Stunde später bin ich hellauf begeistert. Was es da alles gibt! Vom selbstsanierten ehemaligen DDR-Seniorenheim im grünen Vorort bis zu den Planungsunterlagen für ganze neue Kieze in Null- oder Plusenergiebauweise. Von der Alternativgemeinschaft mit gemeinsamer Haushaltskasse bis zur sehnsüchtigen Suche nach ausgebauten und gemeinsam interspirituell zu bewohnenden Dachetagen. Noch eine Stunde später mache ich ganz schnell den Rechner aus und falle erschöpft aufs Bett. Ich habe die Listen mit den Quadratmeterkaltmieten zu den schicken Plusenergieappartements entdeckt (huuuuuui) und festgestellt, dass ich eigentlich keine Lust habe, meine Sonntagnachmittage mit dem Verkauf von Kuchen und dem Werben für Multikulti unter der Lichtenberger Urbevölkerung (mit dubiosen politischen Ansichten) zu verbringen. Also ziehe ich vielleicht doch noch nicht morgen in ein Wohnprojekt. Und übermorgen vielleicht auch noch nicht.

Aber als ein paar Tage später in meinem Unternehmen eine Stelle intern neu zu besetzen ist, denke ich nur ganz kurz nach und bewerbe mich dann einfach mal. Das Ergebnis sind Schlafstörungen. Und Magenkrämpfe. Und der Wunsch, möglichst schnell im nächsten Mauseloch zu verschwinden und nie wieder rauszukommen… während die Rädchen der firmeninternen Bewerbungsbearbeitung sich langsam in Bewegung setzen.

Hilfe! Fenster zu! Wäre ich doch beim Abstauben meiner Regale geblieben!

Das Problem mit echten Veränderungen ist ja irgendwie immer, dass man den Ausgang nicht kennt.

Fernsehfilme gucken

Eine Freundin und ich sitzen auf dem Balkon und stellen fest, dass wir uns beide manchmal über Fernsehfilme ärgern. Diese Filme, die ungefähr in der Mitte zwischen Psychothriller und Rosamunde Pilcher der Wirklichkeit gerade so nahe sind, dass man sie für Geschichten aus dem echten Leben halten könnte, wenn nicht…

Och, sagt meine Freundin, in Fernsehfilmen haben die Leute immer richtig viel Geld. Und wohnen in so richtig schönen Häusern. Jaaaa, nicke ich zustimmend, und dann haben die immer noch ein Häuschen am See!

Sehnsüchtiges Schweigen.

Und wenn eine Frau in einem Fernsehfilm ein Kind gekriegt hat, dann stolziert sie zwei Stunden später mit forschen Schritten über die Wochenstation – als käme sie gerade aus dem Urlaub! Und – ich habe Kontakte in Fachkreisen, ich weiß Bescheid – die notfallmedizinische Behandlung wird immer ganz falsch dargestellt!

Entrüstetes Schweigen.

Und wenn eine Frau alleine ist, sagt meine Freundin – oder alleinerziehend, werfe ich ein – dann lernt sie immer in den ersten zehn Minuten mindestens zwei tolle Männer kennen und die wollen auch beide was von ihr. Und sie muss nur noch rausfinden, welcher der Schurke und welcher die große Liebe ist. Und im Film ist das auch nie beides derselbe!

Und die sind immer alle so schick angezogen und geschminkt und müssen dafür nicht stundenlang ins Bad!

Unglückliches Schweigen.

Und dann wird am Ende immer alles gut. Dann treffen sie sich im Haus am See – die alt gewordene Mutter, die immer ein Drachen war, und die alleinerziehende Mutter mit dem Schulfreund, der nicht-der-Schurke-sondern-die-große-Liebe ist, und die leichtsinnige junge Frau, die ständig ihr Baby vernachlässigt und ihre solide kinderlose Schwester mit der eigenen Firma, die auch so gerne ein Kind hätte und der geläuterte Ehemann, der seine Affäre beendet hat und der echte und der falsche Vater von dem vertauschten Baby und die altkluge Pubertierende, die das Gespräch erst mal in Gang provozieren muss… und dann reden sie alle über alles und dann wird alles gut.

Nachdenkliches Schweigen.

Wir seufzen in unsere Gläser. Wenn das hier ein Fernsehfilm wäre, wäre da irgendwas feineres drin als Wasser. Und wir würden nicht in Schlabberklamotten auf dem Balkon sitzen, sondern schick aufgebrezelt auf einer Restaurantterrasse mit einem attraktiven jungen Kellner.

Jaja, wie mein Chef gelegentlich sagt: das Leben ist eben kein Ponyhof, sage ich. Das ist auch ok, meint meine Freundin. Wer will schon täglich Mist schaufeln?

Aber so ein bisschen wie im Film könnte es ab und zu schon sein.

Philosophisches Schweigen.

Eine Zahnbürste wegwerfen

Ist nicht so dass ich es nicht hätte kommen sehen, lang schon.

Ist nicht so, dass ich mit dem Wissen nicht hätte leben können.

Und doch: Nach dem schönen Wochenende im Oderbruch hätte es noch etwas länger dauern können – dachte ich – bis der Inselmann sich auf sein knallrotes Motorrad schwingt und in den Sonnenuntergang davonbraust. Dorthin, wo Himmel und Erde zusammenstoßen oder noch ein Stück weiter; irgendwohin, wo nicht die Gefahr besteht, dass die Grenze zwischen Nicht-Einlassen und Einlassen sich durch puren Zeitablauf an einem vorbeischiebt.

Eine Zahnbürste wegzuwerfen ist leicht; eine schöne, trotzige Geste. Alles andere behalte ich lieber. Musik und Fotos. Buchentdeckungen. Ein kleines Spielzeug aus lauter bunten Holzklötzchen.

Dann gehe ich zur professionellen Zahnreinigung. Ich liege im Stuhl, die professionelle Zahnreinigerin poliert meine Zähne mit etwas Scheußlichem (schmeckt nach Apfel, sagt sie, aber ich finde, dass es schmeckt wie etwas, das besser im Sandkasten geblieben wäre) und im Radio dudelt Juli. „Ja ich weiß, es war ne geile Zeit…“ Na toll.

Und was mache ich jetzt?

Eine Weile schlechte Laune haben und dann eine neue Affaire anfangen? (Schon wieder?)

Aufgeben, das Wort „Mann“ bis zur Volljährigkeit meiner Kinder aus meinem Wortschatz streichen und alle mit Lobeshymnen auf das Alleinsein nerven? Mich von schönen Erinnerungen und zwangsplatonischen Gefühlen ernähren?

Meine ganz große Schwester schwärmt mir am Telefon von einer christlichen Partnervermittlung im Internet vor – beim letzten Mal wollte sie mich noch gegen meinen Willen bei Parship anmelden – die gerade zu einer Heirat in ihrem Bekanntenkreis geführt hat.

Und wer weiß, vielleicht gibt es dort ja wirklich Männer, die bei dem Wort „Kinder“ keinen Schreck kriegen und vielleicht sogar schon mal eins aus der Nähe gesehen haben. Aber können diese Männer mit meiner anderen Seite etwas anfangen, der Seite, die den Alltag vergessen und – ab und zu – etwas anderes als eine alleinerziehende Mutter sein möchte? Der Seite, der der Inselmann gutgetan hat?

Erst mal muss ich jedenfalls meine Zahnbürste trösten gehen; die heult, so alleine in ihrem Becher.

 

Slowfood im Hamsterrad

Meine erschöpfungsbedingte Arbeitspause ist vorbei. Die vage Hoffnung, dass sich im Büro während meiner Abwesenheit irgendetwas von selber erledigt hat, hat sich nicht erfüllt, im Gegenteil. Die hohen gedanklichen Stapel all dessen, was dringend, asap, vorgestern oder spätestens bis morgen 9 Uhr erledigt sein muss, schwanken gefährlich im Frühlingswind, der, leider immernoch ein wenig eisig, durch das gekippte Fenster in den Raum weht.

Ich brauche ein bisschen Ablenkung  – ganz passend fällt mir das neueste Spiegel-Wissen Heft („Einfach leben. Die Kunst sich selber zu finden“) in die Hände. Ja, um den Arbeitsdruck – und die übermäßige Beschleunigung des Lebens und den dadurch erzeugten Stress – geht es darin auch. Nicht dass die Autoren dieses speziellen Beitrages wirklich Ratschläge geben, was man anders machen könnte, sie wissen wohl, dass man es sich erst mal leisten können muss, sich selber zu finden. Eine gesellschaftliche Diskussion beginnen und sich der Problematik bewusst sein, das schlagen sie vor. Hmmmm.

Aber dann ist das Heft doch voll von Geschichten über Menschen, die irgendetwas anders machen (und sich dabei anscheinend auch selber gefunden haben): die sich der Décroissance-Bewegung anschließen (dabei geht es nicht um Blätterteig, sondern um ein bewusst schlichtes Leben), entschleunigen, simplifyen, aus ihren abgelegten Kleidungsstücken etwas neues schneidern lassen oder sich gleich aus schwedischen Militärschlafsäcken genähte Designerjacken kaufen oder garnichts mehr kaufen oder in einer „Transition Town“ („Transition“ meint den Übergang in eine nicht mehr vom Öl abhängige Gesellschaft) lokales Obst und Gemüse züchten. Nur ein paar Beispiele von vielen.

Mit glänzenden Augen sitze ich in der S–Bahn. Oh ja, all das leuchtet mir ein. Ich möchte auch so leben, die Welt auch ein bisschen retten, der Geist ist willig, aber sowas von!

Leider vergesse ich die guten Vorsätze gleich im Gemüseladen und trage Mangostücke (nicht direkt aus der Region) in einer Plastikverpackung (pfui!) nach Hause. Dort war in meiner Abwesenheit wieder niemand da, der ein wenig geputzt hätte, stattdessen scheint ein Stamm von Anti-Heinzelmännchen randalierend durchgezogen zu sein. Der Vater meiner Kinder hat mir zwei Beutel voller Kleidung und Schuhe in die Wohnung gestellt  – Wechselmodell-Service. Meistens versteckt er tief unten in einem dieser Beutel allerdings noch einen dringend auszufüllenden Essensplan, die Aufforderung der Schule, irgendetwas bis morgen zu basteln oder eine List mit wichtigen Terminen (heute auch). Abendessen vorbereiten muss ganz schnell gehen, es ist schon wieder so spät. Als die Kinder endlich schlafen, höre ich den Balkon flüstern: Bepflanz mich, bepflanz mich! Ich bin dein kleines Stadtgartenprojekt! Aber ehe ich auch nur die Kresse auf dem Fensterbrett gießen kann, quatschen die Steuerformulare dazwischen und behaupten, allemal dringender zu sein. Und dann ist der Tag zu Ende. Am nächsten Morgen beginnt alles von vorn.

Ach, sie treffen einen Nerv mit ihrem Heftchen! Wer möchte das nicht: einfach leben und sich dabei selber finden? Aber diese Woche kriege ich das nicht mehr hin. Diese Woche schaffe ich es höchstens… mir der Problematik bewusst zu sein. Hmmmm.

Stein auf Stein

Um mich herum treten gerade viele Leute in eine neue Lebensphase ein. Sie bauen. Oder kaufen. Manche haben erst ein Kind bekommen oder zwei und dann geheiratet und schlagen jetzt Wurzeln. Die Vorsichtigeren, die Planer, machen es umgekehrt und fangen mit dem Hausbau an, das Kinderzimmer ist vorgesehen.

Plötzlich gerate ich in Runden, in denen über Drempelhöhen gefachsimpelt wird; Fliesenkataloge liegen zur Lektüre aus; Erfahrungen mit Kreditvermittlern werden verschwörerisch ausgetauscht, Kinder in nahegelegenen Reiterhöfen schon mal angemeldet; Berichte von in Küchenstudios verbrachten Wochenenden kursieren.

Ich höre zu, beglückwünsche, wo es angemessen scheint, und wundere mich, wie fern mir das alles ist. Bin ich ein klitzekleines bisschen amüsiert oder in Wahrheit ein klitzekleines bisschen neidisch? Wie es sich wohl anfühlen würde, derart Wurzeln zu schlagen, voller Vertrauen darauf, dass das weitere Leben in genau den Bahnen und auf genau den Bodenfliesen verlaufen wird, die man jetzt gerade auswählt? Ist meine Beschäftigung mit den Großen Fragen in Wirklichkeit nur ein Ausweichmanöver, weil ich mit der Planung einer Küche für den Rest meines Lebens schlicht überfordert wäre? Das Gefühl nicht ertragen könnte, mit meiner Unterschrift auf einem Kreditvertrag mindestens eines meiner Beine auf Jahre im Rachen eines Hais festzubinden?

Vielleicht sollte ich es ausprobieren, mir einen Lottoschein kaufen, das fehlende Geld gewinnen und mich auch sesshaft machen. Ein krummes Häuschen erwerben mit einem Quittenbaum und einem Sandkasten und einer duftenden Rose im Garten und mit einem Schreibzimmer oben im Giebel. Oder wenn ich das in Berlin nicht finde: eine altmodisch geschnittene Altbauwohnung mit Stuck an den Decken und Kinder-trampelt-nicht-so-laut-Dielen und einem Balkon zur Sonne.

Aber im Grunde wäre es doch ein Mensch, bei dem ich Wurzeln schlagen wollte. Ein Ort findet sich. Also ist es wohl am ehesten Traurigkeit – ein bisschen – die ich empfinde, angesichts der vielen Häuslebauerpaare um mich herum. Nicht wegen der eingebauten Dampfgarer und Zinsgarantien und Richtfeste. Sondern wegen der Verbindlichkeit, in der sie all das miteinander teilen.