Die Regionalbahn RE1 braucht vom Bahnhof Fangschleuse – irgendwo östlich von Berlin – zum Bahnhof Hangelsberg drei oder vier Minuten.
Wesentlich lohnender ist es, den Weg zwischen beiden Bahnhöfen zu Fuß zurückzulegen – eine der vielen, vielen Touren, die die schöne Internetseite über „Wanderbahnhöfe“ Menschen vorschlägt, die wie ich beim Wandern auf An- und Abreise mit den öffentlichen Verkehrsmitteln rund um Berlin angewiesen sind.
Statt also drei oder vier Minuten lang aus dem Zugfenster zu schauen und „Wald“ zu denken, kann man auch…
Ungefähr zwei Stunden lang einem leicht zu findenden Wanderweg folgen.
Oder ungefähr drei Stunden lang mit kleinen Pausen auf diesem Weg herumbummeln.
Oder besser gleich sechs Stunden einplanen und einen herrlichen Tag im Sommerwald verbringen.
Mit dem liebsten Freund die große Stadt für ein paar Stunden vergessen, nicht dem vorgesehenen, sondern dem schönsten Weg folgen. Kiefernduft schnuppern. Den Regenschauer auf dem Jägeransitz aussitzen, unter der Picknickdecke, die sich als luftiges Dach ausspannen lässt, mit Kaffee aus der bauchigen Kaffeekanne. Rehe springen sehen, auf den richtigen Weg zurückfinden, Blaubeeren entdecken, das alte, traurig von hohem Gras überwachsene Kinderferienlager mit den mit Indianermotiven bemalten Hütten betrachten. Die allerallerersten Waldhimbeeren finden, auf dem richtigen Weg glauben, dass wir uns verlaufen haben, zurückgehen, dann herausfinden, dass es doch der richtige Weg war. Dem kleinen Pfad im Flusstal der Löcknitz folgen, uns von Mücken stechen lassen und dann, zuletzt, auf dem kleinen Wegstück entlang der Straße zum Bahnhof, noch eine Geschichte zu den Fußtapfen erzählen, die da mit Leuchtfarben auf den Weg gesprayt sind: Kinderfüße, Papafüße, Mamafüße in Absatzschuhen – und das wilde, wilde Waldmonster, barfuß.
Weil die Blaubeeren am Weg so geleuchtet haben und weil ich schon so lange mal mit meinen Kindern ein Stückchen wandern gehen wollte und weil meine Besuchsfreundin mir den letzten kleinen Mutschubs gibt (wir gehen einfach nur bis zur Blaubeerstelle und wieder zurück…), gehe ich den Weg nochmal. Diesmal „in Familie“. Meine Kinder legen auf dem ersten halben Kilometer gleich eine akute Nörgelphase ein. Das ist sooo langweilig! Können wir nicht nach Hause fahren? Mir tun die Füße weh! Der mitgebrachte kleine Fußball, den die Kinder in meiner Vorstellung jauchzend auf dem einsamen Wanderweg vor sich herschießen, erweist sich als schlechte Idee – der Fünfjährige fällt beim zweiten Schuß über die eigenen Füße, dann stellt er dem Neunjährigen ein Bein. Beide hinken theatralisch. Und dann müssen wir uns auch noch mit Insektenschutzmittel einreiben. Igitt.
Aber ich will mir den Tag nicht verderben lassen, menno! Und das Wandern mit meinen Söhnen nicht schon aufgeben, bevor wir es auch nur ein einziges Mal probiert haben. Also greift sich meine Besuchsfreundin den Kleinen, ich nehme den Großen an die Hand, die Kinder dürfen das Tempo vorgeben und das ist so ungleich, dass die beiden zum Glück auch nicht mehr streiten können. So schaffen wir tatsächlich den zweiten Kilometer bis zum Picknickplatz. Die Aussicht ist herrlich – Himmel, Wolken, weiches, blühendes Waldgras, Johanniskraut, blaue Knopfblumen und Natternkopf (auch eine Blume, auch blau, grade endlich den Namen gefunden!). Wir haben Brote und Kuchen und Kaffee und Saft dabei und Kirschen, der Neunjährige schlägt mich locker im Kirschkernzielspucken, der Fünfjährige darf seine müden Beinchen ausstrecken und eine Weile kuscheln. Und als alle satt sind und ich die große Frage stelle: Weiterwandern oder umdrehen? – Da wollen auf einmal alle weitergehen.
Während meine Freundin und ich am Wegesrand die mitgebrachte Beerendose mit Blaubeeren füllen, tragen die Kinder auf dem breiten Weg ihre Version der Fußball-Weltmeisterschaft aus. Und ehe dem Fünfjährigen seine schmerzenden Beine wieder einfallen, haben wir die halbe Strecke geschafft. Der Neunjährige und ich krempeln die Hosenbeine hoch und erfrischen unsere Füße in der Löcknitz, die wir bei Klein-Wall überqueren. Auf der anderen Seite ist plötzlich alles voller Autos – hier gibt es eine Fischzuchtanlage. Wir dürfen reingehen und den Anglern an den vier Teichen ein Weilchen über die Schultern schauen. Störe, Hechte und Karpfen, Forellen und Goldforellen – allerlei Fische werden hier gezüchtet und angelfertig in die Teiche gesetzt. Männer – allein oder mit Söhnen – bevölkern die Teichränder, schwingen mit großer Geste ihre Angelruten, es wird mit Haken und Schnüren hantiert, gefachsimpelt (reich mir doch mal die Maden, bitte) und da – tatsächlich – wird ein Fisch vom Haken gelöst, ein Vater zeigt seinen Kindern, wie man ihn fachgerecht totschlägt.
Maden und Totmachen – och nee, mein Sport wäre das nicht. Zum Glück beißen die Fische wegen der Wärme nicht gut an, und so können wir uns ein Weilchen an ihnen freuen, wie sie da im Wasser stehen oder elegant den Angeln davongleiten. Und dann gehen wir schnell wieder – dann doch mit zwei Fischbrötchen vom Verkaufstresen im Gepäck.
Den nächsten Kilometer verbringen wir wieder mit Beerensammeln. Walderdbeeren lachen uns vom Wegesrand an! Beinahe Kirschgroß sind sie, rund und voller roter Nöppchen wie klitzkleine Massagebälle. Schnell verschwinden unsere Blaubeeren unter dem, was wir – zunehmend misstrauisch – irgendwann dann doch nicht mehr für die Sorte Walderdbeeren halten, die wir kennen. Also ein Zweiglein dazu, damit wir zu Hause herausfinden können, was wir da eigentlich sammeln.
An der Bank, auf der wir uns zum zweiten Picknick hinsetzen, zerstören wir aus Versehen ein Ameisennest. Lange beobachten wir die Tierchen, die verstört durcheinanderwimmeln und dann nach und nach ihre Eier in Sicherheit bringen. Ob sie unseren Entschuldigungs-Kuchenkrümel mögen werden? Bis wir weitergehen, lassen sie ihn erstmal liegen.
Allmählich wird der Weg lang. Den Neunjährigen sticht die Sonne, dann plagen ihn Bauchschmerzen. Der Fünfjährige wird müde. Ablenkung muss her – und findet sich: Die ersten Springkrautsamen sind reif. Wir haben Zeit, sie alle, alle zu finden. Und Himbeeren wachsen am Weg, süß und lecker und hoch genug, um – nicht fuchsbandwurmgefährdet – zum Sofort-Essen freigegeben zu werden. Irgendwann hilft alles nichts mehr, wir teilen uns wieder auf, ein Quengelkind pro Erwachsenem. Jetzt ist es doch sicher nur noch ein Kilometer, fragt der Neunjährige an meiner Hand; Jetzt doch bestimmt nicht mehr mehr als fünfhundert Meter? Jetzt doch sicher nur noch dreihundert? – Der Fünfjährige und meine Besuchsfreundin sind weit zurückgeblieben, als der Neunjährige und ich erschöpft die Straße erreichen. Die bunten Fußabdrücke sind noch da, hurra – und helfen uns über das letzte Wegstück zur Bahn.
Meine erste Wandertour mit beiden Kindern und ohne Bollerwagen! Ich freue mich über die gute Erfahrung. Vielleicht traue ich es mir noch eine Weile nicht zu, alleine mit den beiden loszuziehen. Aber wir haben ja Freunde. Und der Sommer fängt erst an… Richtig gute Aussichten sind das.
Ach ja: die seltsamen roten Beeren? Wikipedia weiß Antwort: Scheinerdbeeren sinds. Nicht giftig, aber geschmacklos. Werden wieder aussortiert, bevor wir ein prima Beerenkompott kochen.