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Begleitheft für das zehnte Lebensjahr: Womit Sie jetzt rechnen müssen

Neulich beim Ausflug mit dem Neunjährigen, als wir gerade an der Bahn stehen und warten, gähnt mein Sohn herzhaft. Das Licht ist gut, ich kann tief in seinen Mund sehen – und alle seine Zähne haben Löcher.

Schock. Adrenalinflash. Tief durchatmen, Nochmal hinsehen.

Die Eckzähne. Die Backenzähne, drei rechts, drei links, dassselbe oben. Überal die Ecken abgeschliffen, als hätte das Meer die Zähne rundgewaschen wie Kiesel. Überall Stellen, an denen der Zahnschmelz Löcher hat, die darunterliegende, leicht gelbliche Zahnschicht zu sehen ist.

Und beim letzten Zahnarztbesuch war noch alles in Ordnung.

Was habe ich jetzt wieder falsch gemacht? Den Konflikt mit dem Vater der Kinder wegen dem Unterhalt nicht gut genug vor den Kindern geheimgehalten? Zu streng gewesen? Zu nachgiebig gewesen? Irgendeinen Kummer übersehen, den der Neunjährige nachts an seinen Zähnen abgearbeitet hat? Warum hab ich ihn bloß nicht knirschen hören? Warum hab ich das bloß nicht eher bemerkt! Muss er jetzt sofort in psychotherapeutische Behandlung, und wie soll ich das bloß schaffen, ihn da jede Woche hinzubringen? – Und der Psychologe wird bestimmt mir die Schuld an ALLEM geben… weil ich mir immer so viele Sorgen mache.

Am nächsten Morgen soll mein Sohn zu den Großeltern fahren und eine Urlaubswoche mit ihnen verbringen. Und natürlich hat der Zahnarzt an diesem Abend – vorher – keinen Notfalltermin mehr frei.

Ich schärfe meinem Sohn ein, sich auch ja nach jeder Mahlzeit gründlichst die Zähne zu putzen, Süßigkeiten nur direkt vor dem Putzen zu sich zu nehmen und keinesfalls die Zähne jemals zusammenzubeißen, ohne dass Nahrung dazwischensteckt. Und lasse ihn mit bleischwerem Herzen fahren.

Knappe zwei Wochen später endlich der Termin beim Zahnarzt.

Schauen Sie mal, sagt die Zahnärztin und lässt – schöne neue Technikwelt – wie von Zauberhand ein paar Fotos von den Zähnen meines Sohnes auf dem Bildschirm am Behandlungsstuhl erscheinen; die bleibenden Zähne da hinten sind garnicht betroffen. Das ist nämlich eine ganz normale Erscheinung, bei manchen Kindern nutzen sich die Milchzähne ab, bevor der Zahnwechsel kommt, die sind nämlich viel weicher als die bleibenden Zähne, und manche Kinder knirschen in dieser Phase eben auch mit den Zähnen und wetzen die richtiggehend ab, um eine gleichhohe Beißebene mit den bleibenden Zähnen herzustellen, die noch nicht so weit aus dem Kiefer herausgewachsen sind… alles ganz normal.

Das ist wirklich ganz, ganz normal und kommt vor, wiederholt sie nochmal in extra-beruhigendem Ton, weil sie mein zwischen Verzweiflung und Hoffnung und Unverständnis (was für eine gleichhohe Beißebene jetzt bitte, wenn die bleibenden Zähne doch irgendwann größer sind als die Milchzähne?) in der Schwebe hängendes Gesicht sieht. Wirklich, alles soweit ok, die bleibenden Zähne sind in Ordnung und die Milchzähne werden jetzt auch keinen Karies kriegen, wenn Ihr Sohn weiter gut putzt, und eine Schiene gegen das Knirschen braucht er auch nicht.

Ganz langsam, eins nach dem anderen, rollen mir sämtliche Felsen und Gebirge Europas vom Herzen.

Und wieso werden Kinder nicht mit einem Begleitheftchen geliefert, in dem man sowas VORHER erklärt kriegt?

Das hätte mir jetzt mindestens 25 graue Haare erspart.

Sommerwald

Die Regionalbahn RE1 braucht vom Bahnhof Fangschleuse – irgendwo östlich von Berlin – zum Bahnhof Hangelsberg drei oder vier Minuten.

Wesentlich lohnender ist es, den Weg zwischen beiden Bahnhöfen zu Fuß zurückzulegen – eine der vielen, vielen Touren, die die schöne Internetseite über „Wanderbahnhöfe“ Menschen vorschlägt, die wie ich beim Wandern auf An- und Abreise mit den öffentlichen Verkehrsmitteln rund um Berlin angewiesen sind.

Statt also drei oder vier Minuten lang aus dem Zugfenster zu schauen und „Wald“ zu denken, kann man auch…

Ungefähr zwei Stunden lang einem leicht zu findenden Wanderweg folgen.

Oder ungefähr drei Stunden lang mit kleinen Pausen auf diesem Weg herumbummeln.

Oder besser gleich sechs Stunden einplanen und einen herrlichen Tag im Sommerwald verbringen.

Mit dem liebsten Freund die große Stadt für ein paar Stunden vergessen, nicht dem vorgesehenen, sondern dem schönsten Weg folgen. Kiefernduft schnuppern. Den Regenschauer auf dem Jägeransitz aussitzen, unter der Picknickdecke, die sich als luftiges Dach ausspannen lässt, mit Kaffee aus der bauchigen Kaffeekanne. Rehe springen sehen, auf den richtigen Weg zurückfinden, Blaubeeren entdecken, das alte, traurig von hohem Gras überwachsene Kinderferienlager mit den mit Indianermotiven bemalten Hütten betrachten. Die allerallerersten Waldhimbeeren finden, auf dem richtigen Weg glauben, dass wir uns verlaufen haben, zurückgehen, dann herausfinden, dass es doch der richtige Weg war. Dem kleinen Pfad im Flusstal der Löcknitz folgen, uns von Mücken stechen lassen und dann, zuletzt, auf dem kleinen Wegstück entlang der Straße zum Bahnhof, noch eine Geschichte zu den Fußtapfen erzählen, die da mit Leuchtfarben auf den Weg gesprayt sind: Kinderfüße, Papafüße, Mamafüße in Absatzschuhen – und das wilde, wilde Waldmonster, barfuß.

Weil die Blaubeeren am Weg so geleuchtet haben und weil ich schon so lange mal mit meinen Kindern ein Stückchen wandern gehen wollte und weil meine Besuchsfreundin mir den letzten kleinen Mutschubs gibt (wir gehen einfach nur bis zur Blaubeerstelle und wieder zurück…), gehe ich den Weg nochmal. Diesmal „in Familie“. Meine Kinder legen auf dem ersten halben Kilometer gleich eine akute Nörgelphase ein. Das ist sooo langweilig! Können wir nicht nach Hause fahren? Mir tun die Füße weh! Der mitgebrachte kleine Fußball, den die Kinder in meiner Vorstellung jauchzend auf dem einsamen Wanderweg vor sich herschießen, erweist sich als schlechte Idee – der Fünfjährige fällt beim zweiten Schuß über die eigenen Füße, dann stellt er dem Neunjährigen ein Bein. Beide hinken theatralisch. Und dann müssen wir uns auch noch mit Insektenschutzmittel einreiben. Igitt.

Aber ich will mir den Tag nicht verderben lassen, menno! Und das Wandern mit meinen Söhnen nicht schon aufgeben, bevor wir es auch nur ein einziges Mal probiert haben. Also greift sich meine Besuchsfreundin den Kleinen, ich nehme den Großen an die Hand, die Kinder dürfen das Tempo vorgeben und das ist so ungleich, dass die beiden zum Glück auch nicht mehr streiten können. So schaffen wir tatsächlich den zweiten Kilometer bis zum Picknickplatz. Die Aussicht ist herrlich – Himmel, Wolken, weiches, blühendes Waldgras, Johanniskraut, blaue Knopfblumen und Natternkopf (auch eine Blume, auch blau, grade endlich den Namen gefunden!). Wir haben Brote und Kuchen und Kaffee und Saft dabei und Kirschen, der Neunjährige schlägt mich locker im Kirschkernzielspucken, der Fünfjährige darf seine müden Beinchen ausstrecken und eine Weile kuscheln. Und als alle satt sind und ich die große Frage stelle: Weiterwandern oder umdrehen? – Da wollen auf einmal alle weitergehen.

Während meine Freundin und ich am Wegesrand die mitgebrachte Beerendose mit Blaubeeren füllen, tragen die Kinder auf dem breiten Weg ihre Version der Fußball-Weltmeisterschaft aus. Und ehe dem Fünfjährigen seine schmerzenden Beine wieder einfallen, haben wir die halbe Strecke geschafft. Der Neunjährige und ich krempeln die Hosenbeine hoch und erfrischen unsere Füße in der Löcknitz, die wir bei Klein-Wall überqueren. Auf der anderen Seite ist plötzlich alles voller Autos – hier gibt es eine Fischzuchtanlage. Wir dürfen reingehen und den Anglern an den vier Teichen ein Weilchen über die Schultern schauen. Störe, Hechte und Karpfen, Forellen und Goldforellen – allerlei Fische werden hier gezüchtet und angelfertig in die Teiche gesetzt. Männer – allein oder mit Söhnen – bevölkern die Teichränder, schwingen mit großer Geste ihre Angelruten, es wird mit Haken und Schnüren hantiert, gefachsimpelt (reich mir doch mal die Maden, bitte) und da – tatsächlich – wird ein Fisch vom Haken gelöst, ein Vater zeigt seinen Kindern, wie man ihn fachgerecht totschlägt.

Maden und Totmachen – och nee, mein Sport wäre das nicht. Zum Glück beißen die Fische wegen der Wärme nicht gut an, und so können wir uns ein Weilchen an ihnen freuen, wie sie da im Wasser stehen oder elegant den Angeln davongleiten. Und dann gehen wir schnell wieder – dann doch mit zwei Fischbrötchen vom Verkaufstresen im Gepäck.

Den nächsten Kilometer verbringen wir wieder mit Beerensammeln. Walderdbeeren lachen uns vom Wegesrand an! Beinahe Kirschgroß sind sie, rund und voller roter Nöppchen wie klitzkleine Massagebälle. Schnell verschwinden unsere Blaubeeren unter dem, was wir – zunehmend misstrauisch – irgendwann dann doch nicht mehr für die Sorte Walderdbeeren halten, die wir kennen. Also ein Zweiglein dazu, damit wir zu Hause herausfinden können, was wir da eigentlich sammeln.

An der Bank, auf der wir uns zum zweiten Picknick hinsetzen, zerstören wir aus Versehen ein Ameisennest. Lange beobachten wir die Tierchen, die verstört durcheinanderwimmeln und dann nach und nach ihre Eier in Sicherheit bringen. Ob sie unseren Entschuldigungs-Kuchenkrümel mögen werden? Bis wir weitergehen, lassen sie ihn erstmal liegen.

Allmählich wird der Weg lang. Den Neunjährigen sticht die Sonne, dann plagen ihn Bauchschmerzen. Der Fünfjährige wird müde. Ablenkung muss her – und findet sich: Die ersten Springkrautsamen sind reif. Wir haben Zeit, sie alle, alle zu finden. Und Himbeeren wachsen am Weg, süß und lecker und hoch genug, um – nicht fuchsbandwurmgefährdet – zum Sofort-Essen freigegeben zu werden. Irgendwann hilft alles nichts mehr, wir teilen uns wieder auf, ein Quengelkind pro Erwachsenem. Jetzt ist es doch sicher nur noch ein Kilometer, fragt der Neunjährige an meiner Hand; Jetzt doch bestimmt nicht mehr mehr als fünfhundert Meter? Jetzt doch sicher nur noch dreihundert? – Der Fünfjährige und meine Besuchsfreundin sind weit zurückgeblieben, als der Neunjährige und ich erschöpft die Straße erreichen. Die bunten Fußabdrücke sind noch da, hurra – und helfen uns über das letzte Wegstück zur Bahn.

Meine erste Wandertour mit beiden Kindern und ohne Bollerwagen! Ich freue mich über die gute Erfahrung. Vielleicht traue ich es mir noch eine Weile nicht zu, alleine mit den beiden loszuziehen. Aber wir haben ja Freunde. Und der Sommer fängt erst an… Richtig gute Aussichten sind das.

Ach ja: die seltsamen roten Beeren? Wikipedia weiß Antwort: Scheinerdbeeren sinds. Nicht giftig, aber geschmacklos. Werden wieder aussortiert, bevor wir ein prima Beerenkompott kochen.

Wunder

Meine Kinder sind zurück und füllen die Wohnung, in der in den letzten Tagen Stille und verdächtige Ordnung herrschten, endlich wieder mit Leben. Das Trampolin steht plötzlich am Esstisch. In meinem Bett drei Teller mit Möhren-Tomaten-Ragout und Fischstäbchen, die der Vierjährige liebevoll in der Spielküche vorbereitet hat und die dann kalt geworden sind, als wir gemeinsam mit dem Vater der beiden in den Wald aufgebrochen sind, um im Schnee Ostereier zu suchen. Der Achtjährige liegt mir mit seinen Wünsche in den Ohren: Mama, können wir kickern? Mama, ich mag Siedler spielen!; beim Kochen hilft er bereitwillig mit, nein, eigentlich möchte er mir den Kochlöffel aus der Hand nehmen und alles allein machen. Zwischendrin verziehen sich die beiden gemeinsam zum Spielen, kippen den Sessel um, bauen Höhlen, hinterlassen Berge von Legosteinen, so hoch, dass nicht daran zu denken ist, die Kinderzimmertür zu schließen. Am Abend finde ich im Bett des Vierjährigen weder Kissen noch Decken, dafür aber seinen orangefarbenen Lieblings-Akkuschrauber.

Ich bin glücklich. Ich habe die beiden nach der bei den Großeltern verbrachten Woche fest in die Arme geschlossen. Ganz besonders den Vierjährigen, bei dem ich mich vergewissern musste, dass er wirklich heilgeblieben ist. Denn das ist ein kleines Wunder. Bei einem Spaziergang mit seinem Vater und seinen Großeltern vor drei Tagen ist er in einen Bach gefallen und durch eine etwa drei Meter lange Betonröhre unter einer Brücke hindurchgespült worden. Er hatte unglaubliches Glück: einen geistesgegenwärtigen Vater, der ihn am anderen Ende der Röhre erwartete und aus dem Wasser zog, aus den nassen Kleidern schälte und in seine eigenen einhüllte, ihn in seinen Armen hielt und tröstete; ein ganzes Bataillon Schutzengel, die verhinderten, dass er auch nur einen einzigen Kratzer oder blauen Fleck davontrug. Ja: ein Wunder.

Ich habe am Telefon einen mittelschweren Schock erlitten. Auf gepackten Koffern gesessen, bereit, mich beim kleinsten Anzeichen von Beschwerden – Schnupfen, Gehirnerschütterung, allem – auf die Reise zu meinem Kind zu machen – das aber schon wieder vergnügt mit Oma Ostereier färbte und mir am Telefon atemlos erzählte, dass leider bei seinem Sturz in den Bach die Wintermütze verlorengegangen sei. Ich habe das Wechselmodell von ganzem Herzen verflucht. Wäre mein kleiner Sohn in einen Bach gefallen, wenn die beiden bei mir gewesen wären? Vielleicht nicht. Vielleicht wäre irgendetwas anderes passiert. Vielleicht wäre es sogar schlimmer ausgegangen.

Ich möchte meine Söhne in Mutterliebe und Watte einpacken und in meinem Schrank verstecken.

Es wäre so schön, sie beschützen zu können.