Letztes Wochenende in Hannover hatte der Hannoverliebste ein Stattauto gemietet, und nach einigem Hinundher wegen des unentschlossenen Wetters entschieden wir uns gegen Solebad und für Waldwanderung. Dieses Mal im Ith, einem dieser Höhenzüge am Übergang vom Norddeutschen Flachland ins Niedersächsische Bergland. Hannover liegt ja sehr fein zwischen beidem, wie ich gelernt habe.
Waldwanderung bedeutet inzwischen immer, sehr viele sterbende Bäume zu sehen. Der Ith war da keine Ausnahme. Obwohl ich mal irgendwo gelesen habe, dass Eschen den Klimawandel besser abkönnen als andere Bäume, ging es denen dort garnicht gut. Nahe am Weg gab es immer wieder Eschenstämme, an denen die Rinde schon stellenweise fehlte und den Blick auf Borkenkäferfraßmuster freigab, die ich – eine vage Erinnerung – zum ersten Mal vor vielen Jahren in einem Kinderbuch gesehen habe. Ich wusste jedenfalls sofort, dass es sich um Borkenkäferfraßspuren handelte. Wenn die Eschen noch nicht ganz tot waren, leuchteten diese entdrindeten Stellen ganz hell, und die Bäume sahen wund und verletzt aus.
Ein Stück weiter – wir mussten einen eher kleinen Runderwanderweg gehen, weil diverse Knie, Hüften und Füße der Meinung waren, dass eine Wanderung mit ihnen nicht abgesprochen sei – gab es dann einen riesigen, schon länger gestürzen Buchenstamm, dessen Pilzbewuchs wir als Zunderschwamm identifizieren konnten. Gelernt: Aus der weichen, sporentragenden Schicht unten am Pilz machte man früher wirklich Zunder, die Schicht wurde getrocknet, gekocht, mit Urin behandelt (ähem, doch ganz schön, dass Streichhölzer erfunden wurden) und diente dann dazu, mit Feuersteinen geschlagene Funken aufzufangen und davon in Brand zu geraten. Der Zunderschwamm verfügt über die Superkraft, die Wuchsrichtung zu ändern, wenn der Baum, den er befallen und dessen Holz er zersetzt hat, stirbt und umstürzt – Geotropismus heißt das, der Pilz wächst einfach in eine andere Richtung weiter, immer so, dass seine sporentragende Schicht nach unten zeigt, damit die Sporen herausfallen können.
Noch ein Stück weiter gab es dann seltsame, kleine, schwarze, keulenförmige Pilze, die aus schon ganz bemoosten toten Stämmen guckten: „Dead man’s fingers“, heißen die sehr sprechend auf Englisch, „Vielgestaltige Holzkeule“ gibt den Gruselfaktor dieser Pilzart nicht so nett wieder.
Außerdem gesehen, bestaunt und bewundert, wie Buchen auf Felsen wachsen und ihre Wurzeln sich in den Spalten der Steinbrocken entlangschlängeln, bis sie irgendwo, Meter und Meter weiter, ein wenig Erde finden.
Hatte ich erwähnt, dass ich Bäume sehr liebe und sehr, sehr gerne neue Dinge über Bäume und Pilze und Pflanzen jeder Art lerne?
Am Sonntag reiste ich zurück nach Berlin und leistete am Nachmittag dem Zwölfjährigen Gesellschaft, der endlich sein Herbarium fertigstellte.
Die Woche dann sehr alltäglich und arbeitsreich; den strahlendblauen Himmel und perfekten Herbstsonnenschein vor allem durchs Bürofenster gesehen. Ein Zahnarzttermin, bei dem ich zum zweiten Mal und bezogen auf eine zweite Füllung hörte, dass sie ein wenig überstehend sei. Beide Male bezog sich das auf Füllungen, die ich knapp 20 Jahre mit mir herumtrage und die niemals vorher irgendwelche Probleme und Beschwerden verursacht haben. Schrumpfen denn meine Zähne beim Älterwerden? Oder was ist das für eine seltsame Zahnarztbegründung für jede Art von Zahnfleisch- und Zahnbeschwerden? Der kaputte Zahn jedenfalls, der weiter fröhlich in meinem Mund herumstört und nicht wirklich belastbar ist, soll im Winter dann statt des Provisoriums nochmal eine Kunststofffüllung bekommen; nicht aber – so viel steht fest – ohne dass ich dazu noch eine zweite Meinung einhole. Wünsche mir dann und wann, ich hätte nicht gegoogelt, wofür dieser Zahn in der esoterischen Lehre steht: natürlich für den Alltag, das passt einfach zu gut, aber ich glaube ja garnicht an sowas…
Was schön war: In der Tasche der alten Regenjacke die verloren geglaubte Hülle des Regenponchos wiedergefunden und in der Tasche einer lange nicht getragenen Hose die noch viel länger verloren geglaubte Armbanduhr.
Am Samstag vorgearbeitet, der Handel mit meiner Chefin ist, dass ich dafür am Montagmorgen nur noch zwei Stunden Übergabe mit diversen Kolleg:innen machen muss und dann Schluss machen und abreisen kann. Sehr guter Deal. Koffer und Rucksäcke sind inzwischen gepackt, morgen am späten Mittag kommen wir beim Waldhäuschen an, zum – Jubiläum! – zehnten Mal. Nach dem Zaunlatten-Zaunfelder-Prinzip bedeutet das, dass wir vor neun Jahren zum ersten Mal dort waren, der Zwölfjährige damals drei, der Sechzehnjährige sieben Jahre alt.
Wir werden uns erinnern, Waldhäuschengeschichten (von Pilzen, Beeren, Freunden, Ausflügen, Wanderungen, Sternbildern, Federballrekorden, Bastelprojekten und von noch mehr Pilzen) erzählen, in das vertraute, über all die Jahre gewachsene Glücksgefühl eintauchen, das uns immer wieder an diesen Ort zurückkehren lässt.
Das Waldhäuschen und die Erinnerungen, starker Halt!
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